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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter May 3, 2018

Lars Bülow. 2017. Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beihefte 166). Stuttgart: Franz Steiner. 343 S.

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Lars Bülow. 2017. Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beihefte 166). Stuttgart: Franz Steiner. 343 S.


Die Beschäftigung des Menschen mit der eigenen Entstehungsgeschichte (Stammesgeschichte), insbesondere mit der phylogenetischen Entstehung des Bewusstseins und der im Tierreich einzigartigen Sprachfähigkeit gehört zwangsläufig zu den interessantesten Forschungsbereichen. Dabei ist die Frage nach der eigenen Stammesgeschichte sowie nach den Umständen der Bewusstwerdung vermutlich ebenso alt wie die Menschwerdung selbst – und hat bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Während jedoch Bewusstsein und sogar Selbstbewusstheit während der letzten 20 Jahre für mehrere Arten nachgewiesen werden konnten, existiert mit der Sprache ein kognitives Phänomen innerhalb der Kommunikationsfähigkeit, das tatsächlich auf den Menschen beschränkt ist. Während alle Lebewesen über eine gewisse Erkenntnisfähigkeit verfügen, zielt die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, gestützt durch das Selbstbewusstsein, in der Philosophie rekursiv auf sich selbst als Untersuchungsgegenstand. Die eine Ebene darüber anzusetzende Sprache ermöglicht eine noch leistungsfähigere Untersuchung der eigenen Erkenntnisfähigkeit, was letztlich zur sprachwissenschaftlichen Untersuchung der Sprachfähigkeit führt. Der Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft ist somit nicht nur sehr komplex und anspruchsvoll, sondern verlangt nach Kooperation mit benachbarten Disziplinen, wie z. B. der Philosophie, der Psychologie und der Neurowissenschaft. Die Untersuchung der Sprache ist eine fächerübergreifende Aufgabe, die geistes- und naturwissenschaftliche Disziplinen beschäftigt sowie unterschiedliche Methoden und Verfahren verlangt. Fragen zur Sprachfähigkeit und Sprachfunktion gehören somit auch zum naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich. Trotz vieler Vorläufer (z. B. Leroi-Gourhan 1987) widmet sich die Biologie jedoch erst in jüngerer Zeit kognitions- und sprachwissenschaftlichen Fragen in der Verhaltensforschung, Genetik, Neurowissenschaft und Evolutionsbiologie. Das vorliegende Buch von Lars Bülow zeigt in gelungener Weise, wie eine Integration von kognitionswissenschaftlichen, evolutionsbiologischen und sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen innerhalb der Sprachwissenschaft gelingen kann. Es ist ein gutes Beispiel für eine aktuelle, wissenschaftlich souveräne und umfassende Aufarbeitung des gegenwärtigen Wissenstands zum Zusammenhang von Sprache und Evolution. Die Monografie, die im Jahr 2014 als Dissertation im Bereich der Deutschen Sprachwissenschaft an der Universität Passau angenommen worden ist, versteht sich als ein Plädoyer für eine moderne Sprachwissenschaft mit kognitiven Bezügen, die sich der Biologie öffnet und z. B. Erkenntnisse zur evolutionären Entwicklung kognitiver Prozesse adaptiert. Auf 343 Seiten erhält der Leser eine gut recherchierte Darstellung der aktuellen Fragen, Positionen und Hypothesen zu sprachwissenschaftlich bedeutsamen Aspekten der Evolutionslehre und evolutionären Sprachdynamik und zu den sich daraus ergebenden Implikationen für die Sprachwandelforschung. Die von Bülow getroffene Auswahl einschlägiger Theorien und Modelle zur historischen und aktuellen Debatte belegen einen hohen Kenntnisstand. Dabei argumentiert Bülow stets sorgfältig, wissenschaftlich umsichtig und auf einer umfangreichen Literaturgrundlage, ohne unangemessene Forcierung einzelner Hypothesen. In einer insgesamt sachlichen Darlegung, auch von strittigen Positionen, wird der Leser mit Ergebnissen aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen bekannt gemacht. Der Schreibstil und die Art der Argumentation schaffen beim Leser Vertrauen in die Recherchearbeit des Autors. Es handelt sich somit um eine gelungene Literaturaufarbeitung und Darstellung. Aus einer vergleichenden Sicht auf Wissenschaftskulturen interessant ist allerdings, dass das Werk trotz der naturwissenschaftsnahen Thematik mit lediglich 13 Abbildungen bzw. Darstellungen auskommt, der Text jedoch in geisteswissenschaftlicher Tradition mit 577 Fußnoten angereichert ist.

Wie auch im Titel deutlich wird, hat die Arbeit einen klaren sprachwissenschaftlichen Bezug und versteht sich nicht als Lehrbuch der Evolutionsbiologie. Vielmehr ist sie so konzipiert, dass einschlägige evolutionsbiologische, kognitionswissenschaftliche und erkenntnistheoretische Informationen diskutiert und dann so zusammengeführt werden, dass sie im dritten Teil für konkrete Fragen zum Sprachwandel argumentativ verwendet werden können. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist es somit nicht nur ein kurzweiliges (Teil I bis II), sondern auch ein bereicherndes Buch (Teil III). Allerdings ist es auch kein grundlegendes Handbuch zum Thema Sprachwandel und es beinhaltet auch keine umfangreichen Belege von Sprachwandelphänomenen, z. B. anhand der historischen Entwicklung zum Neuhochdeutschen (vgl. Nübling et al. 2017). Adressaten sind vielmehr evolutionsbiologisch Interessierte mit sprachwissenschaftlichem Hintergrund.

Im ersten Teil gibt Bülow auf über 100 Seiten einen fächerübergreifenden Einblick in klassische Theorien zum Sprachsystem und zum Sprachwandel. Hier werden übersichtliche Einführungen in strukturalistische, handlungstheoretische und systemtheoretische Konzepte zu Beschreibung von Sprache einander gegenüber gestellt. Diese Übersicht bietet nichts Neues, ist aber in diesem Buch die notwendige Voraussetzung für das Verständnis der nachfolgenden Kapitel, zumal stets Sprachwandelphänomene und Sprachdynamik im Mittelpunkt stehen und für den Leser quasi den Kondensationskern inmitten vielfältiger Informationen bilden. Neben den klassischen Modellen zum Sprachgebrauch bzw. zur Sprachfunktion von K. Bühler, L. Wittgenstein, J. L. Austin, J. R. Searle und P. H. Grice werden Sprachwandelphänomene am Beispiel von systemtheoretischen Konzepten Luhmanns (Gansel 2011, Zeige 2011) bzw. der ursprünglich in der Ökonomie entwickelten Theorie der unsichtbaren Hand (Keller 2014) eingeführt. Hier gelingt es Bülow, den von Gansel hergestellten Zusammengang von Systemtheorie und Evolutionslehre für den Sprachwandel nutzbar zu machen und somit auch auf psychische und kulturelle Vorgänge anzuwenden. Insofern liefert der erste Teil (S. 94ff.) notwendige Voraussetzungen für die später folgenden Ausführungen zur Memetik, die den Zusammenhang von (körperlicher) Evolution und (psychischer) Kulturentwicklung zeigen. Aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive heraus nutzt Bülow fachübergreifendes Wissen für die Diskussion genuiner Forschungsfragen zur Sprachdynamik. Auch über 60 Jahre nach der so genannten kognitiven Wende werden in der deutschen Sprachwissenschaft häufig noch Vorbehalte gegenüber biologischen oder neurowissenschaftlichen Erklärungsansätzen gehegt (was im anglo-amerikanischen Raum kaum der Fall ist). Bülows Arbeit ist dagegen ein starkes Statement für eine fächerübergreifende und fundierte Zusammenführung unterschiedlicher Forschungsansätze. Bereits in der Einleitung (S. 13ff.) werden derartige Vorbehalte, die Sprachwissenschaft könnte ihren Gegenstandsbereich oder gar ihre Berechtigung verlieren, aufgegriffen und entkräftet.

Im zweiten Teil des Buches werden auf über 100 Seiten die Grundzüge der Evolutionsbiologie dargelegt sowie verschiedene Theorien zum Sprachwandel vorgestellt. Passend zur systemtheoretischen Sichtweise im ersten Teil werden auch zu erkenntnistheoretischen Fragen klassische Konzepte von Konstruktivisten wie F. Varela, H. R. Maturana oder E. von Glasersfeld vorgestellt und mit Ansätzen von D. T. Campbell, K. Lorenz und R. Riedl verbunden. Diese vergleichende Zusammenstellung ist nicht neu, jedoch für die weiterführende Ausarbeitung notwendig. Im weiteren Verlauf stellt Bülow evolutionsbiologische Sichtweisen vor, die die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten in evolutionäre Erklärungsmodelle integrieren. Nicht selten wird z. B. in der Sprachwissenschaft oder Psychologie fälschlicherweise zwischen der Entwicklung körperlicher und der Entwicklung kultureller Phänomene grundsätzlich unterschieden. Während Evolution als Erklärungsmodell für morphologische Entwicklungen allgemein akzeptiert ist (z. B. bei der stammesgeschichtlichen Entwicklung eines Greiforgans), werden z. B. von Gesellschaften hervorgebrachte Kulturleistungen als „willentlich“ und von der natürlichen Entwicklung abgekoppelt betrachtet. Dabei wird jedoch völlig übersehen, dass auch die Entwicklung „willentlicher“ Leistungen von Gesellschaften das Ergebnis evolutionärer Prozesse ist. Auch Sprache ist das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung und Anpassung (vgl. Hurford 2012). Über Bewusstsein und Sprache zu verfügen, ist nämlich aus evolutionärer Sicht ein enormer Vorteil für die Art. Folgerichtig zeigt Bülow, dass Sprache ebenfalls eine evolutionäre Entwicklungsdynamik aufweist. Zwischen körperlichen und psychischen Entwicklungsprozessen bestehen zwar qualitative Unterschiede und beide laufen auf unterschiedlichen Ebenen ab. Dennoch hat sich auch die Sprachentstehung in einem evolutionären Kontext vollzogen. In die sprachwissenschaftliche Diskussion zum Sprachwandel kann demnach eine evolutionäre Sichtweise gut und nutzbringend integriert werden (vgl. Croft 2008). Kulturelle Phänomene bewegen sich auf einer ganz anderen Ebene als z. B. Anpassungen von Gliedmaßen oder gar molekularbiologische Funktionsketten, doch sind alle drei Ebenen emergent verbunden. „Die Entwicklung von Sprachen wird von Linguisten bisher aber kaum als kultureller Evolutionsprozess verstanden“ (S. 153). Bülow greift das auf C. R. Dawkins zurückgehende Konzept des Mems auf, um einerseits den qualitativen Unterschied zwischen körperlicher und kultureller Entwicklung herauszustellen und andererseits die evolutionäre Verbindung aufzuzeigen. Analog zum Begriff eines aus Nukleinsäuren kodierten Gens bildet ein Mem eine aus mentalen Konzepten formierte kulturelle Funktionseinheit ab, die nicht direkt genetisch vererbt, sondern nur in Gemeinschaften kulturell tradiert wird. Die Memetik liefert eine der notwendigen Verbindungen zwischen den Ebenen der körperlichen und der psychisch-kulturellen Evolution. Insbesondere für das Verständnis von Sprache und von Veränderungen sprachlichen Wandels liefert diese Sichtweise ein belastbares Modell (Müller 1990). Im weiteren Verlauf zeigt Bülow alle gegenwärtig bekannten Schnittstellen zwischen körperlichen und kognitiven Vorgängen auf und beleuchtet auch die Rolle der Epigenetik, um fundierte Belege für die evolutionäre Betrachtung der Sprachdynamik vorzulegen (S. 154ff.).

Im dritten Teil des Buches stellt Bülow exemplarisch Detailaspekte der Sprachwandeldiskussion vor, an denen die zuvor entwickelten Sichtweisen erprobt werden. Dieser Teil umfasst 50 Seiten und behandelt Veränderungen im Genussystem des Gegenwartsdeutschen sowie Lautwandel in der Jugendsprache (Kiezdeutsch). Im vierten und letzten Teil des Buches entwickelt Bülow auf zehn Seiten Ansätze eines integrativen Sprachwandelmodells, das bisherige Ansätze um evolutionäre Sichtweisen erweitert. Dazu werden wichtige Studien aufgeführt und vergleichend gewürdigt. Diese letzten beiden Teile des Buches sind leider kurz geraten und man würde als Leser gern umfangreichere Anwendungen der zuvor entwickelten Sichtweisen auf konkrete Phänomene des sprachlichen Wandels sehen. Letztlich spricht es jedoch für das Buch, dass man als interessierter Leser auch nach über 300 Textseiten noch gerne weiterlesen möchte.

Abschließend ist zu sagen, dass es sich bei der hier vorgestellten Arbeit um eine wissenschaftlich-handwerklich gelungene Ausarbeitung handelt. Der Sprachwissenschaftler Bülow bleibt professionell in seinem Fachgebiet und öffnet sich dennoch sehr sachkundig und souverän benachbarten Disziplinen, um die dort erlangten Einsichten vorsichtig abwägend für die eigene Fragestellung zu prüfen und auch argumentativ und modellbildend zu nutzen. Beispielsweise folgt Bülow nicht der mittlerweile überholten, aber in Teilen der Sprachevolutionsforschung noch immer verbreiteten Annahme der sprachunfähigen Neandertaler (S. 140ff.). Bei der Lektüre des Buches hat mich die Offenheit und das erkenntnisleitende Interesse des Autors für Nachbardisziplinen beeindruckt. Auch wenn die einzelnen Teile des Buches nicht lückenlos ineinandergreifen, so ist die Arbeit ein gelungener Ansatz, Evolutionsbiologie und Sprachwandelforschung miteinander zu verbinden. Ich kann das Buch jedem empfehlen, dem bereits einige Aspekte evolutionsbiologischer und kognitionswissenschaftlicher Forschung vertraut sind, der eine kohärente vergleichende Darstellung dieser Forschungsfragen in einem Text schätzt und den eine mögliche Anbindung an Fragen zur Sprachwandelforschung interessiert.

Literatur

Croft, William. 2008. Evolutionary linguistics. In: Annual Review of Anthropology 37, 219–234.10.1146/annurev.anthro.37.081407.085156Search in Google Scholar

Gansel, Christina. 2011. Textsortenlinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.10.36198/9783838534596Search in Google Scholar

Hurford, James R. 2012. The origins of grammar. Language in the light of evolution, Vol. II. Oxford: Oxford University Press.Search in Google Scholar

Keller, Rudi. 2014. Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 4. Aufl. Tübingen: A. Francke.10.36198/9783838542539Search in Google Scholar

Leroi-Gourhan, André. 1987. Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. 5. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Müller, Horst M. 1990. Sprache und Evolution. Grundlagen der Evolution und Ansätze einer evolutionstheoretischen Sprachwissenschaft. Berlin, New York: De Gruyter.10.1515/9783110851588Search in Google Scholar

Nübling, Damaris, Antje Dammel, Janet Duke & Renata Szczepaniak. 2017. Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. 5. Aufl. Tübingen: Gunter Narr.Search in Google Scholar

Zeige, Lars Erik. 2011. Sprachwandel und soziale Systeme. Hildesheim: Georg Olms.Search in Google Scholar

Published Online: 2018-05-03
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0015/html
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