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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter May 3, 2018

Jan Michalsky. 2017. Frageintonation im Deutschen. Zur intonatorischen Markierung von Interrogativität und Fragehaltigkeit (Linguistische Arbeiten 566). Berlin: De Gruyter. 339 S.

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Jan Michalsky. 2017. Frageintonation im Deutschen. Zur intonatorischen Markierung von Interrogativität und Fragehaltigkeit (Linguistische Arbeiten 566). Berlin: De Gruyter. 339 S.


Mit seiner bei De Gruyter erschienenen Dissertation legt Jan Michalsky ein umfangreiches Werk vor, das den Stand der Forschung zur Frageintonation im Deutschen zusammenträgt, ausführlich und kenntnisreich diskutiert und um eine Reihe von laborphonologischen Experimenten erweitert. Bereits nach der Lektüre des ersten Drittels der Arbeit ist klar: Wer sich mit intonatorischen Merkmalen von Fragen beschäftigt, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. Und es zeigt sich, dass das Konzept der Frageintonation nicht leicht zu fassen ist, es gar unklar scheint, ob es so etwas wie eine Frageintonation überhaupt gibt. Um es vorwegzunehmen: Eine eindeutige Klärung dieser wichtigen Frage bietet das Buch nicht; stattdessen nährt es die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des titelgebenden Begriffs.

Die Arbeit ist grob in zwei Teile gegliedert: Kapitel 1 (Einleitung), 2 (Forschungsstand) und 3 (Forschungsfragen) bilden den Hintergrund, vor dem fünf Experimente (Kapitel 4–8) dargestellt werden. Das Buch schließt in Kapitel 9 mit einer Zusammenfassung und Diskussion.

Zunächst trägt Michalsky in Kapitel 2 auf über 100 Seiten den aktuellen Forschungsstand zusammen – dieses Kapitel bildet das Herzstück des ersten Teils der Arbeit. Hier formuliert er auch das Leitmotiv seiner Dissertation: „Ziel der Arbeit ist [...], die intonatorischen Parameter zu finden, die ausschließlich mit Fragen auftreten“ (S. 7). Michalsky zeigt sich wohlinformiert sowohl über das facettenreiche Konzept der Frage als auch über die unterschiedlichen Modelle der Intonation und ihre phonetische Implementierung. Ob eine Äußerung als Frage zu verstehen ist, so lernen Leserin und Leser, kann auch diesseits indirekter Sprechakte nicht immer eindeutig bestimmt werden. Wohl kann es strukturelle Hinweise in der Form der Äußerung geben (W-Wörter, Verb-Erststellung, Intonation), sie sind aber kein notwendiges und auch nicht immer ein hinreichendes Kriterium. Ebenso wichtig ist der Diskurskontext: Eine Äußerung hat Fragecharakter, wenn sie einem Informationsbedürfnis entspringt und eine Antwort provoziert. Weil diese Kriterien nicht nur auf explizit als Fragen markierte Äußerungen zutreffen, schließen sich Fragen und Aussagen nicht aus, es gibt Mischformen. Hieraus ergibt sich eine für die Arbeit wichtige terminologische Setzung: Michalsky unterscheidet den kategorialen Begriff der Interrogativität, nach dem für jede Äußerung binär entschieden wird, ob sie eine Frage ist oder nicht, von dem gradienten Begriff der Fragehaltigkeit. Letzterer sieht Aussage und Frage als Pole auf einer kontinuierlichen Skala.

Nicht zufällig wird eine entsprechende Unterscheidung für die Intonation angenommen. Einerseits wird ein kleines Inventar diskreter intonatorischer Einheiten postuliert, andererseits gibt es gradiente Einflüsse auf die phonetische Implementierung dieser Einheiten. Michalskys Literaturüberblick legt nahe, dass der Satzmodus Frage nicht zu einer spezifischen Konturwahl führen dürfte, weil „jede Kontur des intonatorischen Inventars mit jedem Satztyp auftreten kann“ (S. 33). Ein höherer Grad an Fragehaltigkeit sollte aber bei gegebener Kontur dennoch phonetische Effekte zeitigen. Dass solche gradienten Effekte tatsächlich im Sinne des Ziels der Arbeit „ausschließlich mit Fragen auftreten“, ist angesichts von ubiquitären Einflüssen der Sprechereinstellung auf die phonetische Implementierung (Wut, Freude etc.) kaum zu erwarten. Der Autor räumt das bereits auf S. 7 der Arbeit in einer Fußnote ein. Das Ziel hätte daher wohl bescheidener formuliert werden können. Wie dem auch sei, Michalsky sucht nun nach solchen gradienten phonetischen Effekten in steigenden Konturen, weil diese zumindest charakteristisch für Fragen sind. Den Fragen stellt er fortgesetzte Aussagen gegenüber, die mit dem continuation rise ebenfalls steigende Konturen aufweisen, aber am anderen Ende der Fragehaltigkeits-Skala stehen. In Kapitel 4 berichtet Michalsky über ein Leseexperiment, das die Hypothese einer Prüfung unterzieht. Verglichen werden hier lokal ambige Sätze wie (1), die sich entweder als Teil einer Alternativfrage (1a) oder als uneingeleiteter Konditionalsatz entpuppen (1b).

(1) Will Suse nachher zu Arne gehen, ...

a) ... oder bei Rudi bleiben?

b) ... kann sie nicht bei Rudi bleiben.

Im Experiment stellt sich tatsächlich heraus, dass die ProbandInnen den finalen Hochton im ersten Gliedsatz in Alternativfragen höher realisieren als in der Vergleichsbedingung mit Konditionalsatz. Fragehaltigkeit scheint also, wie vermutet, einen Einfluss auf die phonetische Realisierung der final steigenden Kontur zu haben. Unproblematisch ist der Vergleich allerdings nicht. Denn während der erste Gliedsatz in (1a) dem folgenden Satz nebengeordnet ist und daher auch allein stehen könnte, ist der Konditionalsatz in (1b) dem folgenden Satz untergeordnet, von ihm abhängig und ohne den Hauptsatz gar nicht zulässig. Die beiden wortgleichen Gliedsätze unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Fragehaltigkeit, sondern auch hinsichtlich der Eigenständigkeit. Frei nach Selkirks Sense Unit Condition (Selkirk 1984) sollte die Ausprägung der Phrasengrenze in (1a) entsprechend stärker ausfallen und genau die beobachteten Effekte zeigen. Ähnliche Vorhersagen macht auch die Anti-Attachment-Hypothese von Watson & Gibson (2004), derzufolge voneinander unabhängige Konstituenten getrennt phrasiert werden können, abhängige Konstituenten dagegen Teile einer gemeinsamen prosodischen Phrase sein sollten. Es bleibt deswegen unklar, ob der gefundene Effekt tatsächlich auf den unbestritten höheren Grad der Fragehaltigkeit zurückzuführen ist oder auf das Merkmal der Eigenständigkeit. Die Kontrollbedingungen, die Michalsky zur Zerstreuung anderweitiger Bedenken heranzieht, berühren diesen Punkt leider nicht. Neben diesem grundsätzlichen Problem der Studie wirft die Analyse weitere Fragen auf: Der Autor nimmt an, dass final steigende Konturen in zwei kategorial voneinander zu unterscheidenden Ausprägungen auftreten können, nämlich den sogenannten zweifach steigenden Konturen (L*H H%) und den tief steigenden Plateaukonturen (L*H 0%). Er entscheidet sich deshalb dafür, die phonetischen Effekte in diesen beiden Intonationsmustern separat zu untersuchen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen beiden Intonationsmustern gibt. Das Kriterium, das Michalsky zur Unterscheidung von Plateaukonturen und zweifach steigenden Konturen vorsieht, ist entsprechend willkürlich gewählt: Bei einem Anstieg von mehr als zwei Semitönen zwischen finalem Hochton und Grenzton geht er von einer zweifach steigenden Kontur aus, ansonsten von einer Plateaukontur. Der kritische Faktor der pragmatischen Funktion (Frage versus Aussage) zeigt interessanterweise nur bei den Plateaukonturen Signifikanz, und wir erfahren nicht, ob es ohne diese Aufteilung des Materials überhaupt einen signifikanten Haupteffekt der Fragehaltigkeit geben würde. Übrigens führt die getrennte Auswertung der beiden Konturen zu einer Verdopplung der in Anschlag gebrachten Signifikanztests, womit das Risiko steigt, die Nullhypothese fälschlicherweise zu verwerfen. Mit deutlich über 100 ist die Zahl der Signifikanztests, über die in diesem Kapitel berichtet wird, auch aufgrund der großen Menge der abhängigen Variablen unübersichtlich hoch. Es ist durchaus zu würdigen, dass der Autor seine Analyse transparent macht; aber um diesen Abschnitt mit Freude zu lesen, muss man schon detailverliebt sein.

Kaum klarer wird das Bild im folgenden Kapitel, das die intonatorische Realisierung von Entscheidungsfragen (2a), Alternativfragen (2b) und fortgesetzten Aussagen (2c) in einer im Spiel elizitierten Spontansprache untersucht. Der für die Untersuchung kritische Abschnitt ist das Satz­ende (2a) bzw. das Ende des ersten Konjunkts (2b, c). Diesmal untersucht Michalsky drei abhängige Variablen (finaler Anstieg der Grundfrequenz, finaler Offset, Register), die sich in Experiment 1 als wichtig herausgestellt haben. Die detaillierte Analyse beschränkt sich wiederum nur auf steigende Konturen, was dazu führt, dass ungefähr 25% des Materials – die fallenden Konturen – nicht berücksichtigt werden.

(2) a) Habe ich eine Vase?

b) Habe ich eine Vase oder einen Eimer?

c) Ich habe eine Vase und einen Eimer.

Den Balkendiagrammen nach zu urteilen zeigt sich wieder ein Effekt der pragmatischen Funktion (Fragen haben höhere Anstiege und Offsets als fortgesetzte Aussagen). Allerdings gibt es auch hier ein Problem, das mich an der Gültigkeit der naheliegenden Schlussfolgerung zweifeln lässt. Sätze wie (2b) und (2c) unterscheiden sich nämlich nicht nur in Hinblick auf die Fragehaltigkeit, sondern auch bezüglich der Informationsstruktur. Während die komplexe NP eine Vase und einen Eimer dem Fokus des Satzes in (2c) entsprechen kann, enthält die NP eine Vase oder einen Eimer mit exklusiver Disjunktion in (2b) notwendigerweise zwei Konstrastfoci. Ganz unabhängig von der Fragehaltigkeit ist zu erwarten, dass sich dieser Unterschied auf dem ersten Konjunkt phonetisch niederschlägt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass der Hochton an der Phrasengrenze in (2b) deutlich stärker ausgeprägt ist als in (2c). Ein direkter Vergleich von fragenden versus deklarativen exklusiven Disjunktionen wäre hier zielführender gewesen.

Die letzten drei Experimente stellen die Perzeption in den Vordergrund. In Experiment 3 (Kapitel 6) wird untersucht, ob die angenommenen phonetischen Unterschiede bezüglich des finalen Grundfrequenzanstiegs zwischen Äußerungen mit und ohne Fragehaltigkeit a) wahrnehmbar sind und b) korrekt zugeordnet werden können. Der Autor präsentiert dafür wohlkontrollierte, akustisch manipulierte Stimuli mit final steigender Kontur, die sich lediglich im finalen Anstieg und im finalen Offset unterscheiden. Es zeigt sich, dass die ProbandInnen die präsentierten akustischen Unterschiede gut diskriminieren können. In einer Identifikationsaufgabe sollen sie den gehörten Stimulus entweder einer einfachen Deklarativfrage (Sie will zu Arne gehen?) oder dem ersten Teil einer fortgesetzten Aussage (Sie will zu Arne gehen oder bei Suse bleiben.) zuordnen. Tatsächlich gehen die ProbandInnen bei höherem Grundfrequenzanstieg und -offset eher davon aus, dass es sich um eine Frage handelt. Die Entscheidung zwischen diesen schriftlich präsentierten Möglichkeiten fußt allerdings möglicherweise auf einem weiteren Unterschied, und zwar hinsichtlich der Finalität – ein Faktor, der sich bereits im ersten Experiment als signifikant für die Skalierung des Grenztons herausgestellt hat und in diesem Experiment nicht kontrolliert wurde. Es ist ja gut möglich, dass die ProbandInnen den höheren Grenzton als Signal für das Äußerungsende wahrnehmen und sich deswegen für die Interpretation als Frage entscheiden. Das Experiment ist daher in dieser Form gar nicht geeignet, eine direkte Beziehung zwischen hohem Grenzton und Fragehaltigkeit nachzuweisen. Nebenbei zeigt das Experiment, dass es im präsentierten Spektrum der Tonhöhenanstiege keine Kategoriengrenze zu geben scheint. Das ist wenig erstaunlich und nur insofern bemerkenswert, als hier mit einer Skala operiert wird, die sowohl Plateaukonturen als auch deutlich steigende Konturen enthält – das intonationsphonologische Inventar, mit dem Michalsky arbeitet, sähe hier aber durchaus einen kategorialen Unterschied vor. Das Imitationsexperiment in Kapitel 7 bestätigt den Befund, dass es keine Kategoriengrenzen im präsentierten Spektrum gibt.

In Kap. 8 präsentiert Michalsky ein letztes Experiment, in dem er untersucht, ob Fragehaltigkeit als Bedeutungsmerkmal sich in seiner prosodischen/intonatorischen Repräsentation von den prosodischen Merkmalen der mehr oder weniger verwandten Konzepte Überraschung und Unsicherheit unterscheidet. Auch hier arbeitet er mit aufwendig manipuliertem Stimulusmaterial. Der immer gleiche Satz Simone will zu Arne gehen wird in 27 akustisch sorgfältig kontrollierten, manipulierten Varianten präsentiert. Die ProbandInnen sind aufgefordert, für jeweils ein Paar dieser Varianten auf einer Skala zu beurteilen, welcher Satz „fragender, überraschter“ oder „unsicherer“ klingt. Eine ebenfalls aufwendige Analyse der Daten ergibt, dass „Fragehaltigkeit ein eigenständiges Bedeutungsspektrum konstituiert, das als primärer Eindruck der phonetischen Realisierung interpretiert werden kann und generell unabhängig von den Skalen der Überraschung und der Unsicherheit ist“ (S. 293).

Mit seiner Arbeit präsentiert sich der Autor als Experte in Sachen Frage und Intonation – gerade der ausführliche und gut kommentierte Literaturüberblick in Kapitel 2 sei allen ans Herz gelegt, die zu diesen Themen forschen. Im empirischen Teil der Arbeit stellt Michalsky seine phonetische und laborphonologische Sachkenntnis unter Beweis. Die Experimente sind minutiös geplant und das Material akribisch kontrolliert. Die Darstellung der Experimente fällt sehr detailliert aus, es wird über eine Unzahl von Signifikanztests berichtet, von denen viele allerdings nur marginal mit dem eigentlichen Ziel der Arbeit zu tun haben. Insbesondere diesem Teil der Arbeit hätten eine stärkere Fokussierung und lesefreundliche Aufbereitung gut getan. Die Schlüsse, die Michalsky aus den in über 80 Tabellen dargestellten Daten zieht, bin ich nicht immer bereit zu teilen. Oben wurde bereits auf konfundierende Faktoren in den Experimenten hingewiesen und angedeutet, dass es für einige der zentralen Effekte naheliegende alternative Erklärungen gibt.

Insgesamt reicht das Ergebnis des sehr aufwendigen empirischen Teils der Arbeit aus meiner Sicht nicht aus, die Nullhypothese zu verwerfen, wonach Fragehaltigkeit in den untersuchten Strukturen keinen bedeutsamen Einfluss auf die Intonation hat. Michalsky selbst scheint die Schwierigkeiten zu ahnen. Er ist mit dem kühnen Ziel angetreten, „die intonatorischen Parameter zu finden, die ausschließlich mit Fragen auftreten“. Das Fazit der Arbeit ist dagegen weitaus vorsichtiger formuliert: „[D]ie intonatorische Form [kann] die Sprechereinstellung der Fragehaltigkeit oder ein vergleichbares Merkmal über ein phonetisches Kontinuum signalisieren, was die Interpretation einer Äußerung als deklarativ oder interrogativ in Wechselwirkung mit anderen sprachlichen Merkmalen begünstigt“ (S. 322). Damit ist wortreich recht wenig gesagt – also: alle Fragen offen?

Literatur

Selkirk, Elisabeth O. 1984. Phonology and Syntax: The Relation between Sound and Structure. Cambridge (Mass.): MIT Press.Search in Google Scholar

Watson, Duane & Edward Gibson. 2004. Making sense of the sense unit condition. In: Linguistic Inquiry 35, 508–517.10.1162/ling.2004.35.3.508Search in Google Scholar

Published Online: 2018-05-03
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0019/html
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