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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter May 7, 2018

Nanna Fuhrhop, Renata Szczepaniak & Karsten Schmidt (Hg.). 2017. Sichtbare und hörbare Morphologie. Berlin, Boston: De Gruyter. 260 S.

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Nanna Fuhrhop, Renata Szczepaniak & Karsten Schmidt (Hg.). 2017. Sichtbare und hörbare Morphologie. Berlin, Boston: De Gruyter. 260 S.


Dieser Sammlung von acht Aufsätzen mit einer Einleitung liegt der Leitgedanke einer Arbeitsgruppe auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) 2014 in Marburg zugrunde, „dass die Verarbeitung der morphologischen Information ausdrucksseitig unterstützt wird: Morphologische Einheiten werden durch graphematische und phonologische Phänomene sicht- oder hörbar gemacht“ (S. 1). Zur Klärung der dabei von den Sprechern/Hörern bzw. Schreibern/Lesern angewandten Strategien werden auch korpuslinguistische sowie experimentelle psycho- bzw. patholinguistische Methoden genutzt. In Richtung schulischer Anwendung geht ein Beitrag über „Lesbare Morphologie als Lerngegenstand“ von Melanie Bangel & Astrid Müller. Die meisten Beiträge sind synchronisch ausgerichtet, nur der Aufsatz von Kristin Kopf zur Kompositionsmorphologie ist diachronisch angelegt und bezieht das Frühneuhochdeutsche ein. Behandelte Sprachen sind das Deutsche (überwiegend) und das Englische, deren Flexionsmorphologien in den Beiträgen von Kristian Berg und Nanna Fuhrhop z. T. auch explizit verglichen werden.

Die Einleitung bietet in additiver Weise jeweils ungefähr dreiviertelseitige Zusammenfassungen der einzelnen Beiträge in der Reihenfolge ihres Abdrucks. Dabei werden thematische Bezüge zwischen den Beiträgen kaum hergestellt. Auch wird kein eigener, von einem erhöhten Standpunkt aus gewonnener, zusammenfassender Überblick über das Themenfeld gegeben. Die Gelegenheit, an dieser Stelle den Forschungsstand wenigstens kurz zu referieren und auf aktuelle Forschungsinitiativen aus dem thematischen Umfeld hinzuweisen, wird ebenfalls nicht genutzt.[1] Das ist den einzelnen Beiträgen überlassen, dann aber zwangsläufig mit einer Einengung auf das jeweilige Beitragsthema. Immerhin sind durch die Anordnung der Beiträge thematische Gruppen gebildet worden, so aus den Beiträgen von Berg und Fuhrhop ein Themenblock zur sichtbaren/lesbaren Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen, aus den Beiträgen von Jessica Nowak & Damaris Nübling sowie von Tanja Ackermann & Christian Zimmer ein weiterer zu Techniken der „Wortschonung“ und aus den Beiträgen von Frank Domahs, Lisa Bartha-Doering, Ulrike Domahs & Margarete Delazer sowie von Christiane Ulbrich & Alexander Werth ein dritter zur Sprachverarbeitung. Was die titelgebenden Gegenstandsbereiche der Sichtbarkeit und Hörbarkeit der Morphologie angeht, so übertreffen die Aufsätze, die sich mit graphemischen Morphemgrenzsignalen beschäftigen, zahlenmäßig eindeutig diejenigen, die lautlichen Markern der morphologischen Wortgliederung nachgehen. Rein phonologischen Merkmalen der lexem-internen morphologischen Abgrenzung widmet sich nur der Beitrag von Domahs et al. mit dem sprechenden Titel: „Wie muss ein ‚guter‘ deutscher Plural klingen?“ Von den weiteren Aufsätzen nehmen die einen zumindest an den Stellen, wo es um phonographische/graphonologische Relationen geht, dezidiert auf die „Hörbarkeit“ Bezug (Nowak & Nübling; Kopf). Bei anderen werden hinter der Darstellung der graphischen Oberfläche die Verhältnisse der Lautung oft nur unausgesprochen mitbehandelt.

Morpheme, zwischen denen Grenzen markiert werden (können), sind entweder gebunden (Affixe, Klitika) oder frei (Grundmorpheme). Die Spanne der Morphemgrenzen anzeigenden graphischen Mittel, an die man denken könnte, ist breit. Sie reicht vom Spatium (Schlittschuh laufen statt Schlittschuhlaufen) über den Bindestrich (Abflug-Halle statt Abflughalle) und Apostroph (die Grimm’schen Märchen statt die Grimmschen[2]Märchen) bis zu Binnen-Grenzmarkern, die graphisch keine eigene Zwischenraumposition einnehmen, sondern sozusagen in der Graphie eines Segments selbst liegen (etwa „Schluss-<s>“ neben „langem <ſ>“ in der Deutschen Schrift wie bei <desſelben>).[3] Von solchen Mitteln machen auch Strategen der Public Relations Gebrauch, um Aufmerksamkeit zu erregen. Betreiber affirmativer Aktionen (wie „Leichte Sprache“) setzen diese Mittel ein, um sprachliche Komplexität zu reduzieren. So entstehen Sonderkonventionen, die zuerst gegen die Norm verstoßen, später weithin akzeptiert werden oder am Ende gar normkonform geworden sind: [Deutscher Akademischer] Austausch Dienst[4], Land-Tag, Charly’s Restaurant, BahnCard. Das starke Bedürfnis nach morphologischer Segmentation verraten schließlich besonders deutlich hypertrophe Grenzmarkierungen wie das gleich doppelt falsche *Weihnacht’s Plätzchen mit Apostroph und Spatium,[5] die nicht mehr durch graphische Sonderkonventionen wie die oben genannten gedeckt sind, sondern eindeutige Verstöße manchmal nicht nur gegen die orthographische Norm darstellen (*morgen’s), sondern sogar solche gegen die Sprachrichtigkeit: sowohl gegen die lexikalisch-semantische (*zusammen arbeiten ‘kooperieren’) als auch gegen die grammatisch-syntaktische (*Wert freie Beobachtung ‘wertfreie Beobachtung’).

Solche expliziten Morphemgrenzmarkierungen werden im Sammelband mehrfach zum Gegenstand gemacht. So wird der Apostroph im Kontext der englischen Genitivschreibung mit <’s> im Beitrag von Berg zur „Sichtbare[n] Flexionsmorphologie im Englischen und Deutschen“ behandelt (vgl. S. 22), aber auch im Kontext der Suffix-Abgrenzung von „schutzbedürftige[n] Wortkörper[n]“ wie bei FKK’ler oder Andrea’s Grillstube (S. 134) im Beitrag von Nowak & Nübling über „Schwierige Lexeme und ihre Flexive im Konflikt: Hör- und sichtbare Wortschonungsstrategien“. Dort wird der Bindestrich als „besonders deutlich schema­bewahrend“ bei kompositionellen Bildungen wie San-Bernardino-Tunnel thematisiert. Bei diesen zeichne sich allerdings der neuere Usus ab, Eigennamensyntagmen, die in noch größere Eigennamenkonstruktionen eingebettet sind, von der Bindestrich-Setzung zu verschonen und Bindestriche nur zwischen dem auf diese Weise geschonten Erstbestandteil und dem Zweitglied der größeren Konstruktionen einzufügen (z. B. Johannes Gutenberg-Universität oder – s. o. – San Bernardino-Tunnel).

Morphisch substantiiertes „Fugenelement und Bindestrich in der Compositions-Fuge“ schließlich sind, neben historischen Binnenmajuskelschreibungen, Gegenstände des Beitrags von Kristin Kopf „Zur Herausbildung phonologischer und graphematischer Grenzmarkierungen in (früh)neuhochdeutschen N+N-Komposita“. Alle drei Merkmale enthält ihr Beispiel Land-BothenStube (S. 186). Hier wird korpusbasiert nachgewiesen, dass die aus syntaktischen Konstruktionen mit vorangestelltem genitivischem Attribut reanalysierten Fugenkomposita (des Landes Sitten > Landes-sitten), die danach proliferieren (Religion-s-übung), zuerst zusammengeschrieben, „mit Aufkommen des Bindestrichs [...] jedoch schnell wieder graphematisch aufgebrochen“ wurden (S. 200): des Reichs Stände > Reichsstände > Reichs=Stände (frei nach S. 178). Im Frühneuhochdeutschen war, so die These, die s-, aber auch die (e)n-Fuge, „noch selbst auffällig und bedurfte einer sichtbaren Segmentierungshilfe in Form des Bindestrichs“ (S. 201).

Der zweite wesentliche Gegenstand des zu besprechenden Werks – neben den expliziten morphologischen Grenzmarkierungen – sind die graphisch nicht explizit gemachten, keinen eigenen Raum einnehmenden morphologischen Grenzmarkierungen. Das Eindringen in solche subtileren Bereiche der morphologischen Binnengrenzmarkierung stellte ein Forschungsdesideratum dar, das anzugehen ein großes Verdienst insbesondere der Beiträge von Berg und Fuhrhop ist. Um einen Eindruck zu geben, um welche Art von Phänomenen es sich handelt, seien aus den betreffenden Beiträgen einige besonders instruktive Beispiele gegeben.

Berg arbeitet überzeugend „morphographematische Korrespondenzen“ heraus, nach denen es möglich ist, grammatische Kategorien lesend der Schreibung direkt zu entnehmen, etwa dadurch, dass <ed> im Wortausgang englischer Wörter so gut wie ausschließlich der Anzeige des Präteritums schwacher Verben dient.[6] Gleiche Schreibung mit anderer Funktion sei äußerst selten (hundred), gleiche Auslautung bei anderer Bedeutung werde konsequent anders, nämlich mit <id>, geschrieben (splendid, stupid). Im Deutschen sei vergleichbar eindeutig morphographematisch nur das <-es>. Dagegen impliziere z. B. das „Auftreten von finalem <en> (...) nicht eindeutig die Präsenz des Suffixes“ (S. 26). Doch ist hier zu fragen, ob die Wortausgänge angeführter Beispiele wie Faden, Schatten oder Tropfen nicht doch (krypto)morphologischen Status haben, vgl. ihre morphologische Alternation mit andern Suffixen wie bei Fäd-chen, schatt-ig oder (es) tropf-t. Selbst für Nicht-Substantive wie die angeführten hinten, selten oder sieben gilt das, vgl. hint-er, selt-sam, sieb-zig.[7]

Aus den vielen Einzelbefunden im Beitrag von Fuhrhop sei nur einer herausgehoben: die gleichsam Klassenidentität schaffende <-ould>-Graphie für das Präteritum der englischen Modalverben can, shall und will, die im Präsens mehr oder weniger divergente Stämme aufweisen (vgl. S. 61–62). Andere Wörter mit [ʊd]-Phonie würden anders geschrieben (wood usw.), andere Wörter mit <-ould>-Graphie anders gesprochen (mould ‘Schimmel’ mit [ǝʊld]). Dass hier in der Präteritalform auch schon gesprochensprachlich eine Musterbildung stattgefunden hat, die von den Präsensformen her nicht ‚lautgesetzlich‘ erfolgte, sondern interparadigmatisch analogisch, ist ein ebenso bemerkenswertes Faktum, auf das Fuhrhop aber nicht eigens hinweist.[8]

Die Praxisrelevanz für die schulische Lehre, die „morphologische Bewusstheit“[9] stärken will, zeigt sich am Beitrag von Bangel & Müller. Wo in einer sog. „Interventionsgruppe“ unterrichtlich auf das Mit- und Gegeneinander phonographisch-silbischer und morphologischer Wortstrukturen eingegangen worden war, verbesserten sich die Schülerleistungen bei morphologischen Segmentierungen und Wortfamilienzusammenstellungen stärker als in der Kontrollgruppe. Doch eine Verbesserung der Dekodierung (Leseleistung) durch diese Maßnahmen konnte nicht nachgewiesen werden. Interessant ist das Ergebnis, dass „die Fähigkeit zur Unterscheidung von silbischen und morphologischen Wortstrukturen“ bei mehrsprachig Aufwachsenden ausgeprägter ist, da sie über eine höhere Sprachbewusstheit verfügten und sich durch eine stärkere „Orientiertheit an der Formseite von Sprache“ auszeichneten (S. 103).

Die Unterstützung der „leserseitige[n] Verarbeitung lexikalischer und grammatischer Informationen“ (S. 140) thematisieren auch Nowak & Nübling. „Schwierig“ im Sinne ihres Beitragstitels sind silbisch und/oder pragmatisch abweichende Lexeme wie Propria/Eigennamenähnliche, Fremdwörter, Onomatopoetika, Kurzwörter/Akronyme und (substantivierte) Interjektionen. Techniken der Wortschonung sind die Deflexion im Allgemeinen (des Orinoko, des April), die s-Flexion im Lautlichen (weil das s das Grundmorphem silbisch nicht affiziert, vgl. Pizzas, des Uhus, die Kita’s, WCs, die Hm’s) sowie die Apostrophierung (die Kita’s, die Hm’s) und Binnensignale in der Schreibung (WCs). Mithilfe von Korpora wird nachgewiesen, dass und wie sich der Apostroph mehr und mehr von einem Phonographem der Vokalelision zu einem Morphographem der Grenzmarkierung zwischen bedeutungstragenden Einheiten entwickelt.

Ackermann & Zimmer überprüfen in ihrem Beitrag „Morphologische Schemakonstanz – eine empirische Untersuchung zum funktionalen Vorteil nominalmorphologischer Wortschonung im Deutschen“ durch psycholinguistische Tests die Frage, ob die oben erwähnte Wortschonungsstrategie der Deflexion für die Probanden verarbeitungsfreundlicher ist. Da Syntagmen des Typs des Orinoko lesend signifikant schneller erkannt werden als solche des Typs des Orinokos, konnte dies bestätigt werden. Experimentelle Nachweise des Postulats, dass Entsprechendes für schnelleres Hör-Erkennen der Deflektiva gelte, fehlen nach ihren Aussagen aber noch (vgl. S. 172).

Rein klangbasierte Tests führten Domahs et al. mit einer Aphatikerin durch, die durch die Spezifik der Schädigung keinen Zugang zu lexikalischer Information hatte und folglich daraus keine Hinweise auf die Ausprägungen des Numerus ziehen konnte. Wohl aber gelang ihr das bei fast 80% der Test-Items auf der Basis von Numerus-Schemata wie Artikelverwendung mit dem Substantiv, Silbenzahl und Betonungsmuster, die Köpcke (1993 und öfter) herausgearbeitet hat – eine schöne Evidenz dafür, dass hörbare Formschemata die grammatische Interpretation des Gehörten unterstützen, auch wenn natürlich die Ergebnisse bei dieser einen Person nicht generalisierbar sind (vgl. S. 231).

In einer weiteren experimentellen Arbeit haben Ulbrich & Werth „Die Enklise von Präposition und Artikel in der Sprachverarbeitung“ untersucht. In einem Reaktionszeittest mit kombinierten Bild- und Audiostimuli für Präposition-Artikel-Sequenzen der Typen auf das, enklitisch auf=s und verschmolzen a=m ‚an dem‘ können sie nachweisen, dass die Verarbeitungszeit des gehörten Satzes vom Expansions-/Fusionsgrad der Syntagmen unabhängig ist. Es zeigt sich nur der Effekt, dass innerhalb der enklitischen/verschmolzenen Bildungen diejenigen schneller verarbeitet wurden, die im Gebrauch häufiger waren – erneute Bestätigung der wesentlichen Rolle frequentieller Gegebenheiten für die Sprachverarbeitung (vgl. S. 257).

Dieser Band stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Forschungen zur produzentenseits sicht- und hörbar gemachten und rezipientenseits als graphisch und lautlich dekodierbaren Morphologie dar: weil er eine große methodische Spannbreite von (historischer) Korpuslinguistik bis zu experimenteller Psycholinguistik aufweist, von Grundlagen- bis zu angewandter Forschung reicht, das ganze Spektrum der Morphemgrenzmarker traktiert und neben den expliziten auch die subtilen, in den Segmenten und Ketten gleichsam ‚versteckten‘ Abgrenzungssignale behandelt.

Literatur

Harnisch, Rüdiger. 2001. Grundform- und Stammprinzip in der Substantivmorphologie des Deutschen. Synchronische und diachronische Untersuchung eines typologischen Parameters. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.Search in Google Scholar

Harnisch, Rüdiger. Im Druck. Von Kartoffel=Chip’s und Weihnacht’s Plätzchen. Typen hypertropher Morphem-Abspaltung. In: Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft (2017).Search in Google Scholar

Köpcke, Klaus-Michael. 1993. Schemata bei der Pluralbildung im Deutschen. Versuch einer kognitiven Morphologie. Tübingen: Gunter Narr.Search in Google Scholar

Neef, Martin & Carmen Scherer (Hg.). 2013. Die Schnittstelle von Morphologie und geschriebener Sprache. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110336665Search in Google Scholar

Scherer, Carmen. 2013. Kalb’s Leber und Dienstag’s Schnitzeltag. Zur funktionalen Ausdifferenzierung des Apostrophs im Deutschen. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 32, 75–112.10.1515/zfs-2013-0003Search in Google Scholar

Werner, Otmar. 1990. Die starken Präterita im Luxemburgischen. Ideale Analogie oder vergeblicher Rettungsversuch? In: German Life and Letters 43, 182–190.10.1111/j.1468-0483.1990.tb00649.xSearch in Google Scholar

Published Online: 2018-05-07
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0021/html
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