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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 6, 2018

Peter Ernst & Martina Werner (Hg.). 2016. Linguistische Pragmatik in historischen Bezügen (Lingua Historica Germanica 9). Berlin, Boston: De Gruyter. 324 S.

  • Sebastian Kürschner EMAIL logo

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Peter Ernst & Martina Werner (Hg.). 2016. Linguistische Pragmatik in historischen Bezügen (Lingua Historica Germanica 9). Berlin, Boston: De Gruyter. 324 S.


Die historische Pragmatik hat seit den 2000ern einen neuen Aufschwung erlebt. In der Germanistik wurde das Thema z. B. institutionell von der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte (GGSG) aufgenommen, die ihre Jahrestagung 2011 in Wien dem Thema widmete. Peter Ernst (2012) gab das daraus resultierende Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte (Band 3) heraus. Der vorliegende Band, der als Band 9 in die ebenfalls von der GGSG gegründete Reihe Lingua Historica Germanica aufgenommen wurde, präsentiert nun, fünf Jahre später, eine weitere Zusammenstellung aktueller Beiträge zur historischen Pragmatik im Deutschen und weiteren germanischen Sprachen.

Aufbau und Inhalt

Der Band enthält 18 Beiträge und eine Einleitung. Peter Ernst und Martina Werner zeigen in ihrer Einleitung die wesentlichen Aspekte auf, die sie für eine historische Pragmatik für konstituierend halten. So sei der Schwerpunkt des pragmatischen Ansatzes darin zu sehen, dass sprachexterne Aspekte in die Analyse einbezogen werden, die sich an Produktions- wie Rezeptionsumständen festmachen ließen und damit wesentlich beeinflussen, was als Text entsteht und als solcher aufgefasst wird. Die wesentliche Herausforderung der historischen Pragmatik gegenüber gegenwartssprachlichen Untersuchungen bestehe nun freilich darin, dass lediglich schriftliche Texte vorliegen, deren Produktions- und Rezeptionskontexte nur unzureichend bekannt sind oder rekonstruiert werden müssen und deren Verhältnis zur Mündlichkeit nicht einwandfrei bestimmt werden kann. Der Band ist in fünf Themenschwerpunkte gegliedert: 1. Synchrone Studien zu älteren Sprachstufen, 2. Studien zum Verhältnis von Sprache und Konfession, 3. Diachrone Entwicklungen im Sprachsystem vor dem Hintergrund pragmatischer Entwicklungen, 4. Studien zu spezifischen textuellen Merkmalen und ihrer Wirkung auf innersprachliche Strukturen sowie 5. Weiterführende Aspekte.

Themenschwerpunkt 1 (Ältere Sprachstufen) wird mit einem Beitrag zur „Textverknüpfung im Gotischen am Beispiel spatialer Koreferenz“ von Maxi Krause eröffnet. Der Beitrag behandelt Wiederaufnahme und Phorik, wobei die Autorin feststellt, dass über die Ortsadverbien hinaus weitere invariable Elemente (v. a. Verbalpartikeln) einen Beitrag leisten. Angesichts der Tatsache, dass der Datenzugang für die Leserinnen und Leser in anderen Beiträgen des Bandes selbst bei älteren Sprachstufen des Deutschen durch Anfügung von Übersetzungen erleichtert wird, verwundert es, dass die gotischen Beispiele hier ohne Übersetzung bleiben.

Thérèse Robin thematisiert „Die pragmatische Funktion des altenglischen þ-Morphems im Beowulf“. þ wird hier als Submorphem kategorisiert, das auf die mit hoher Frequenz vorzufindende Demonstrativpartikel þ- verweist. Robin analysiert den Gebrauch als deiktisches Mittel zur Vergegenwärtigung des Textes durch die Leserin oder den Leser und für anaphorische und kataphorische Verweise.

Der Beitrag von Maria Kozianka beschäftigt sich mit „Hapaxlegomena im Althochdeutschen unter dem Aspekt der historischen Pragmatik“. Die Schwierigkeit, historische Texte aufgrund des unzureichenden Wissens über ihre Verwendungskontexte zu interpretieren, wird hier noch erhöht, indem dezidiert Hapaxlegomena betrachtet werden – Wörter also, die in einer Sprachstufe (hier im Ahd.) nur je ein einziges Mal belegt sind. Grundlage bildet Band 4 des Etymologischen Wörterbuchs des Althochdeutschen. Es zeigt sich, dass über Kontextinformationen (am Beispiel von Glossen zu lateinischen Texten) Bedeutungsinformationen aus anderen Sprachen entnommen werden können, daneben aber v. a. der Sprachvergleich und Rekonstruktionsverfahren zum Ergebnis führen.

„Was der Tempusgebrauch im mittelhochdeutschen Versepos über ‚Historische Mündlichkeit‘ (nicht) erzählt“, berichtet Sonja Zeman. In ihrem hochinteressanten Beitrag zeigt sie, dass die Tempuswahl in erster Linie den Perspektivierungsleistungen der Formen zuzuschreiben ist: Während Präsens und Perfekt im non-narrativen Diskursmodus Aussagen „über das Erzählte“ (S. 76) enthalten, wird das Präteritum für den narrativen Diskursmodus genutzt, d. h. „eine zeitlich-räumliche Trennung der erzählten Welt von der Erzählsituation“ (ebd.) wird ausgedrückt. Aus dieser deiktischen Komponente von Präsens und Perfekt leitet sich eine größere Nähe zur Mündlichkeit lediglich als Epiphänomen ab.

Der Beitrag von Tim Krokowski leitet den zweiten Themenschwerpunkt (Sprache und Konfession) ein. Er behandelt „Fürstentestamente des Konfessionellen Zeitalters: Die Verpflichtung auf den ‚rechten‘ Glauben“. Katholische Testamente aus Bayern werden mit Blick auf die Verfügung zur Beibehaltung der Konfession mit protestantischen aus der Kurpfalz verglichen. Krokowski arbeitet konfessionsbasierte Tendenzen sowohl im Adressatenkreis (katholisch: direkter Nachfolger vs. protestantisch: breitere Adressatengruppe) als auch in der Art der Sprechakte heraus (katholisch: drohend vs. protestantisch: bittend).

Der Beitrag „Zur Figurenrede als Mittel der konfessionellen Positionierung in Flugblättern des Dreißigjährigen Krieges“ stammt von Corinna Lucan. Lucan nutzt die Goffman’schen Rollen (animator, author, principal) zur Analyse zweier Flugblätter und zeigt, dass Figurenrede als inszenierte Rede genutzt wurde, um konfessionell Position zu beziehen, ohne dass dies explizit vom Verfasser selbst vorgenommen werden musste.

Themenschwerpunkt 3 (Diachrone Entwicklungen) wird mit dem Beitrag „Pragmatischer Wandel und Wortfeldetymologie“ von Bettina Bock eröffnet. Anhand der Bezeichnungen Kammer, Stube und Zimmer wird materialreich unter Nutzung der Prototypentheorie dem Bedeutungswandel nachgegangen, indem Kollokationen und Konnotationen sowie Übertragungen untersucht werden.

Melitta Gillmann positioniert das Thema ihres Beitrags „Zwischen Pragmatik und Grammatik. Die gegenläufige Entwicklung der aktiven und passiven sein-Periphrase vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen“. Sie zeigt, dass das sein-Perfekt und das Zustandspassiv des Nhd. bereits im Ahd. angelegt waren, indem sich das Perfekt als Grammatikalisierung aus einer resultativen Lesart ergibt, das Passiv dagegen eine im Ahd. stattfindende Grammatikalisierung, die neben Zuständen auch dynamische Ereignisse zuließ, heute nicht mehr reflektiert. Der sehr lesenswerte Beitrag zeigt auf, dass die folgende Wieder-Einengung zum Gebrauch als Kopulakonstruktion im heutigen Zustandspassiv maßgeblich auf die Durchsetzung des werden-Passivs zurückzuführen ist.

Michel Lefèvre stellt die Frage: „Lassen sich die modernen Klassen der diskursiven Partikeln auf ältere Sprachstufen übertragen? Das Beispiel der diskursiven Partikeln des Barock“. Es wird untersucht, ob mithilfe moderner Definitionskriterien Partikeln mit propositionaler Funktion (Modalisierungs-, Bewertungs-, Fokuspartikeln sowie konnektive und illokutive Partikeln) auch in älteren Texten erkannt werden können. Die Diskussion nimmt ein zentrales Problem der historischen Pragmatik auf, die Fehleranfälligkeit der Analyse historischer Daten, und plädiert für eine strikte Anwendung und Überprüfung abgrenzender Kriterien.

Die folgenden Beiträge sind Themenschwerpunkt 4 (Einzelne Texte und Textsorten) zugeordnet. Gisela Brandt präsentiert „Christine Ebners ‚Engelthaler Schwesternbuch‘: Aufgabenstellung und Lösungsweg“. Sie zeigt auf, dass die Aufgabe des Buches in der am mystischen und hagiographischen Diskurs orientierten Darstellung von 100 Jahren Klostergeschichte lag. Anhand der Analyse der Gesamtstruktur und spezifischer sich wiederholender Themen lässt sich darstellen, dass die üblichen Kommunikationsformen und Darstellungsverfahren dieses Diskurses genutzt wurden.

„Zur Syntax der Informations-Ergänzungen in Johannes Aventinus‘ ‚Bayerischer Chronik‘“ berichtet Monika Rössing-Hager. In ihrer Untersuchung gelangt sie zur Erkenntnis, dass im weitgehend parataktisch angelegten Text immer wieder hypotaktisch angelegte Informationsergänzungen zu finden sind, die rhetorisch als Mittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit (Nachdruck, überraschende Wirkung) eingesetzt werden.

Claudia Greul nimmt sich „Formen pragmatischer Syntax in frühneuhochdeutschen Stadtbüchern“ an. Im Murauer Stadtbuch sowie im Gerichtshandlungsbuch (15.–16. Jh.) untersucht sie drei Handlungsmuster (Raitung, Taiding, Bürgerrechtsverleihung) im Detail und stellt eine z. T. formelhafte Syntax fest, die sich im Laufe der Zeit leicht von den festen Mustern löst. Es wird für eine pragmatische Syntax unter Loslösung vom traditionellen Satzbegriff argumentiert.

„Kommunikationsverben in südsiebenbürgischen Gerichtsprotokollen des 17. Jahrhunderts“ sind Thema des Beitrags von Dana Janetta Dogaru. Davon ausgehend, dass Gerichtsprotokolle wie kaum eine andere Textgattung verbale Handlungen dokumentieren, werden Sprechaktverben und Verba dicendi auf ihre Nutzung hin untersucht, wobei sauber nach Kontexten unterschieden wird (Phasen des Prozesses, Beteiligte).

Claudia Resch & Wolfgang U. Dressler betiteln ihren Beitrag „Zur Pragmatik der Diminutive in frühen Erbauungstexten Abraham a Sancta Claras. Eine korpusbasierte Studie“. Die Studie wird anhand eines Teilkorpus des ABaC:us (Austrian Baroque Corpus) durchgeführt und soll zeigen, „[n]ach welchen Standards eine historische Textsammlung erschlossen sein muss, damit sie nach bestimmten korpuslinguistischen und ‑pragmatischen Aspekten beforscht werden kann“ (S. 235). Der korpuslinguistische Ansatz unterstützt dabei in erster Linie beim Auffinden der Belege, während die pragmatische Interpretation kontextgebunden an Einzelbeispielen vollzogen wird. Der Beitrag zeigt überzeugend, dass Diminutive zur Schaffung einer „freundlichen, partnerzentrierten Atmosphäre“ (S. 247) genutzt werden und so zu einer Vermittlung unangenehmer Wahrheiten und ihrer theologischen Aufarbeitung (zur Zeit der Pest) auf Augenhöhe dienen.

Die abschließenden vier Beiträge bilden Themenschwerpunkt 5 (Weiterführende Aspekte). „Gruoz enbieten und grüszen. Ein Beitrag zum Desiderat eines syntaktisch-semantischen mittelhochdeutschen Verbwörterbuchs“ stammt von Rebecca Rapp & Sandra Reimann. Der als ältester erhaltener deutscher Brief geltende Elspet-Brief wird beispielhaft zur Analyse der Verben enbieten und grüszen herangezogen und durch Daten dreier Wörterbücher ergänzt, um die Valenz zu erschließen. Die Autorinnen diskutieren auf dieser Grundlage ausführlich die Möglichkeiten der Verwendung von Wörterbüchern bei der Erstellung von Valenzanalysen.

Paul Rössler beschäftigt sich mit der „Pragmatik der Interpunktion an einem Beispiel der Kommasetzung“. Anhand einer kritischen Reflexion eines Textes von Karl Kraus von 1921 und Gedanken von Adorno zeigt er, dass die stark normierte syntaktische Kommasetzung des Standarddeutschen durch die Möglichkeit des Normverstoßes zum pragmatischen Spiel einlädt.

Martina Werner behandelt „Genus und Fugenelemente. Zur Herleitung einer motivierten Relation“. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Fugen-s bei derivativ komplexen Erstgliedern ausschließlich bei Derivationssuffixen für Feminina produktiv gesetzt wird, zieht sie die Folgerung, dass das Fugen-s durch dieses Genus determiniert sei. Dies führt sie funktional auf mereologische Ansätze zur Beschreibung des Genus zurück, wobei die Feminina die komplexeste Form der Quantifikation (iterativ) bieten. Diese komplexe Quantifikation müsse durch das Fugenelement neutralisiert werden, was bei den einfacheren Quantifizierungen der Maskulina (zählbar) und Neutra (nicht zählbar) nicht notwendig sei. Damit wird eine interessante neue Überlegung zur Funktionalität von Fugenelementen angestellt.

Richard Reutner behandelt „Politisch-parlamentarisches Sprachhandeln am Beispiel der Sprachenfrage in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Dargestellt am Sprechhandlungstyp Drohung“. Anhand der stenographischen Protokolle von Parlamentsdebatten im österreichischen Reichsrat aus dem späten 19. Jh. werden Drohungen und verwandte Sprechhandlungstypen als dezidierte Merkmale politischer Sprache im Rahmen der Debatten zur Mehrsprachigkeit Österreich-Ungarns analysiert. Der Beitrag zeigt zwar, wie gewinnbringend parlamentarische Protokolle in der historischen Pragmatik genutzt werden können, wünschenswert wäre jedoch auch eine reflektierende Diskussion, ob die Protokolle – deren relevante Stellen im Anhang vollständig einzusehen sind – wirklich als wörtliche Mitschriften gedeutet werden können oder ob redaktionelle Eingriffe möglich waren.

Resümee

Der Sammelband nimmt sich der linguistischen Pragmatik aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und unter Berücksichtigung verschiedener Methoden an. Dabei werden zentrale Themen und Theorien der Pragmatik (z. B. Textfunktion, Kohäsionsmittel, Deixis, Diskursmarker, Sprechakttheorie, Gesprächsanalyse, Diskursanalyse) ebenso behandelt wie etwa die Zeichensetzung als pragmatisches Mittel. Wenn auch durchgängig eine starke Basierung auf historischen Textdaten zu erkennen ist, ist die Entwicklung einer dezidierten historischen Korpuslinguistik nur im Artikel von Resch & Dressler zentral. Korpusbasierte Methoden werden in einigen Beiträgen aber unterstützend herangezogen, etwa bei Gillmann oder Greul, die Wandelprozesse an Frequenzuntersuchungen festmachen. Die Entwicklung von Methoden mit quantitativer Unterstützung befindet sich also noch im Aufbau – der Sammelband spiegelt hier die allgemeine Entwicklung der historischen Korpuslinguistik in der Germanistik wider. Der Beitrag zur historischen Pragmatik variiert in den Aufsätzen – so wird etwa beim Beitrag von Werner die Pragmatik v. a. zur knappen Motivierung der abweichenden Fugensetzung in Fachtexten herangezogen, während die weitere Thematik sich eher kerngrammatisch verorten lässt.

Durchgehend ist zu bemerken, dass eine Orientierung an Einheiten des Sprachsystems vorzufinden ist, die Aufschluss über die Sprachhandlung geben – das Anliegen des Bandes, „interne und externe Sprachwandelfaktoren stärker als bislang aufeinander zu beziehen“ (S. 12), kann somit als geglückt angesehen werden. Die zahlreichen, ein sehr breites Feld aufspannenden und zumeist hochwertigen Beiträge zeigen an Beispielen, wie historische Pragmatik betrieben werden kann, und sind bemüht, weitere Forschungsfelder aufzuzeigen. Nicht nur als Dokumentation aktueller Forschungsarbeiten zur historischen Pragmatik ist dieser Sammelband also sehr zu empfehlen, sondern auch als anregende Lektüre zur Gewinnung neuer Forschungsideen.

Literatur

Ernst, Peter (Hg.). 2012. Historische Pragmatik. Berlin, Boston: De Gruyter.Search in Google Scholar

Published Online: 2018-06-06
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0023/html
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