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Stefaniya Ptashnyk, Ronny Beckert, Patrick Wolf-Farré & Matthias Wolny (Hg.). 2016. Gegenwärtige Sprachkontakte im Kontext der Migration (Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften (EZS) 5). Heidelberg: Universitätsverlag Winter. 344 S.
Die zentralen Themen des über 344 Seiten umfassenden Bandes Gegenwärtige Sprachkontakte im Kontext der Migration sind durch Migration entstandene gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen sprachlichen und kulturellen Wechselwirkungen der Gegenwart, verknüpft mit aktuellen methodologischen und terminologischen Überlegungen. Er entstand 2016 aus der Zusammenarbeit der Graduierten-Arbeitsgruppe Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit und Sprachenpolitik und eingeladenen Wissenschaftlern am EZS. Die Publikation von Stefaniya Ptashnyk et al. erschien als fünfter Band in den Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften (EZS) und zeigt auf, dass sprachliche Diversität und Entwicklungen im Kontext von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit vielmehr eine Bereicherung als ein Hindernis im Erwerb der Varietät(en) des aufnehmenden Landes darstellen. Zum einen werden in dem Band die Auswirkungen von migrationsbedingten Sprachkontakten in zahlreichen Sprachräumen thematisiert, zum anderen unterschiedliche methodische Ansätze zu ihrer Erforschung verdeutlicht. Dies spiegelt sich auch in seiner Struktur wider: Das Buch ist deutlich in zwei thematische Teile gegliedert, die einerseits theoretische Ansätze und methodische Zugänge (Teil I: Kapitel 1–7), andererseits empirische Fallstudien rund um das Thema Mehrsprachigkeit betreffen (Teil II: Kapitel 8–17). Obgleich es sich nicht um die erste Publikation zu dem Thema Sprachkontakt und Migration handelt, ist es den Herausgebern erfolgreich gelungen, eine Lücke in der aktuellen Forschungssituation zu schließen. Die Beiträge gehen nicht nur detailliert auf zahlreiche Sprachformen ein, die sich in den vergangenen Jahrzehnten im Kontext von Migration bildeten, sondern widerlegen auch ein in unserer Gesellschaft verbreitetes ein Sprecher, eine Sprache-Vorurteil. Vielmehr plädieren die Autoren für die Berücksichtigung des gesamten sprachlichen Repertoires eines Sprechers. Neben der geographischen Breite der Beiträge wird auch die historische Dimension von Sprachkontakt berücksichtigt (insb. Eichinger, S. 13–22, Ptashnyk, S. 61–76).
Der Band beginnt mit einem Vorwort der Herausgeber, in dem die einzelnen Beiträge resümiert und die Ziele des Werkes vorgestellt werden. Den Auftakt bildet ein umfangreicher und kritischer Aufsatz von Ludwig M. Eichinger (S. 13–22), der die Entwicklung europäischer National- und Standardsprachen unter Einbezug historisch-gesellschaftlicher Aspekte beleuchtet. Der Fokus gilt in erster Linie der deutschen Sprache und ihrer Entwicklung „[i]m Soge des globalen Sprachregiments“ (S. 13). So hält der Autor treffend fest, dass „der Kontakt mit anderen Sprachen die gesamte Geschichte der deutschen Sprache prägt“ (S. 20).
Claudia Maria Riehl (S. 23–40) befasst sich mit mehrsprachigem Sprechen als Voraussetzung für Sprachkontakt, wobei im Zentrum der Betrachtung der Sprachkontakt im Individuum steht. Detailliert geht Riehl auf die unterschiedlichen Formen des mehrsprachigen Sprechens ein, die zu der Herausbildung von Kontaktvarietäten führen können. Als Beispiel führt sie das von Wiese (2009) untersuchte Kiezdeutsch an, dessen Entstehung demonstriere, dass Minderheitensprachen durchaus Einfluss auf die Mehrheitssprache ausüben können, und dass durch Sprachkontakt ausgelöste Übernahmen und ihre Konventionalisierung zu ihrer kreativen Entwicklung beitragen.
Der Beitrag von Jadranka Gvozdanovi (S. 41–60) beschäftigt sich mit sprachlichen Universalien unter Berücksichtigung der Standard Average European (SAE)-Skala (vgl. Heine & Kuteva 2006). Besonderes Augenmerk gilt slawischen Sprachkontaktphänomenen im Kontakt zu nicht-slawischen Sprachen (Artikel & haben-Perfekt). Im Gegensatz zu Heine & Kuteva (2006) wird angenommen, dass grammatikalische Veränderungen spezifische Sprünge (critical leaps) aufweisen (S. 43).
Einen direkten Bezug auf aktuelle Forschungsfragen und methodische Desiderate stellt Stefaniya Ptashnyk (S. 61–76) her. Sie verdeutlicht, dass Mehrsprachigkeit bereits bis ins Mittelalter zurückreiche und keine rezente Entwicklung darstelle; so fänden sich in zahlreichen Schreibtraditionen Europas gemischtsprachliche Texte (S. 61). Ähnlich wie Eichinger (vgl. S. 13–22) hält sie fest, dass historische Mehrsprachigkeit bereits einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau der deutschen Sprache geleistet habe (S. 63). Deutlich wird, dass die Forschung entscheidend dazu beitragen kann, multilingualen Sprechern gerecht zu werden. Ptashnyk plädiert dafür, mehrsprachigen Sprachgebrauch nicht als defizitär, sondern „als fruchtbringendes Potential für die Gesellschaft“ (S. 72) zu sehen.
Die von Heiko F. Marten & Sanita Lazdiņa (S. 77–98) verfasste Studie „Die Analyse von Linguistic Landscapes im Kontext des Verhältnisses von Sprache und Migration“ zeigt, wie die Erforschung von Sprachlandschaften im Migrationskontext aufgegriffen und über ihn hinaus eingesetzt werden kann. Als Ausgangspunkt stellen die Autoren die Frage, wie in sechs Städten im Baltikum der öffentliche Raum durch geschriebene Sprache strukturiert wird, wobei ihr Schwerpunkt auf dem Verhältnis zum Russischen (und ferner zum Englischen) liegt. Bemerkenswert ist, dass die Autoren gleichzeitig den Nutzwert dieser Methode für den öffentlichen Raum diskutieren.
Slawische Migrationssprachen in Deutschland und die Erklärungskraft von Sprachwandelfaktoren in Kontaktsituationen werden von Vladislava Warditz (S. 99–118) besprochen. Im Fokus der Betrachtung stehen die aus systemlinguistischer Sicht analysierten Kontaktvarietäten Polnisch und Russisch. Nach Warditz legen die von ihm beobachteten Tendenzen nahe, dass systemlinguistische Faktoren für die Wandelmechanismen in Kontaktvarietäten ausschlaggebend seien (S. 115).
Ofelia García & Laura Ascenzi-Moreno (S. 119–130) nehmen sich des Konzepts des Translanguaging an. Demzufolge verwenden Sprecher nicht eine Sprache A oder B, sondern wählen sprachliche Merkmale aus einem Pool von Repertoires, wobei mehrsprachige Kontexte es ermöglichen, einzelne Features auf neue Weise zu kombinieren. Gezeigt wird, welche Möglichkeiten die Umsetzung im schulischen Kontext eröffnet: Translanguaging-Ansätze führen zu mehr Bewusstsein für die Sprachressourcen der Sprecher und somit zu faireren Leistungsbeurteilungen.
Der zweite und im Umfang breitere Teil des Bandes stellt als zentrales Thema empirische Studien in den Vordergrund (S. 133–340). Er beginnt mit einem aufschlussreichen Aufsatz von Ibrahim Cindark & Evelyn Ziegler (S. 133–156) zur visuellen Mehrsprachigkeit (Linguistic Landscapes), der erste Ergebnisse des Forschungsprojektes Metropolenzeichen: Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr erläutert. Sein Ziel ist, die symbolische Sichtbarkeit kultureller Diversität und ihre gesellschaftliche Bedeutung herauszuarbeiten, wobei sich der Beitrag auf ausgewählte Stadtteile Dortmunds konzentriert. Dabei kommen die Autoren zu einigen substanziellen Schlussfolgerungen. Erstens weisen sie Englisch als häufigste Sprache nach Deutsch im öffentlichen Raum nach, zweitens konstatieren sie Unterschiede zwischen den Stadtteilen und drittens beobachten sie neue stilistische Tendenzen in der türkischen Schriftsprache (S. 149–153).
Anhand von narrativen Interviews peruanischer Einwanderer in Valencia und Alicante berichtet Martina Schrader-Kniffki (S. 157–180) über Varietätenkontakt. Verknüpft werden in diesem Beitrag Ansätze der Sprachwissenschaft und Soziologie, insbesondere die Konzepte der transnationalen Migration und des transnationalen Raums sind von Bedeutung. Die Autorin demonstriert, welche Rolle normative Zentren im Sprachbewusstsein der Sprecher einnehmen, und wie koexistierende Varietäten des Spanischen um Migrationsvarietäten (z. B. peruanisches Spanisch) bereichert werden.
Auch in der Studie von Claudia Schlaak (S. 181–194) zum Französischen kamerunischer Migranten in Paris stehen empirische, qualitative Interviewdaten im Vordergrund. Untersucht wird das Zusammenwirken von sprachlichen und sozialen Faktoren auf ihre Integration. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung lautet, dass bei den Migranten primär kulturelle Differenzen zu Kommunikationsproblemen führen. Daher sollte für eine erfolgreiche Integration neben dem sprachlichen auch der kulturelle Kontext Berücksichtigung finden.
Sprachliche Variation im Camfranglais wird ausführlich von Raymond Siebetcheu (S. 195–218) beschrieben, der die Ergebnisse einer laufenden Studie präsentiert. Unter Einbezug diatopischer, diastratischer und diamesischer Variation analysiert er anhand soziolinguistischer Interviews und digitaler Medien den Sprachgebrauch von 305 Informanten in zwölf Städten Italiens sowie von neun Teilnehmern in Deutschland und 75 in Kamerun. Siebetcheu schlussfolgert, dass diese hybride Varietät nicht mehr an einen geografischen Ort gebunden sei, sondern als Varietät mit globaler Reichweite betrachtet werden könne, die durch neue Medien ihren Weg von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit gefunden habe (S. 214).
Die von Ibrahim Cindark & Evelyn Ziegler (S. 219–243) vorgestellte ethnografisch-soziolinguistische Untersuchung zur sprachlichen Variation in deutsch-türkischen Lebenswelten ergibt, dass Sprechergruppen ihre sprachlichen Ressourcen (z. B. dialektales Türkisch, Deutsch) in spezifischer Weise einsetzen. Sozialstilistische Ausdrucksmittel dienen u. a. der Abgrenzung von bestimmten Sozialwelten oder der Zuordnung zu Gruppen, mit denen die türkischstämmigen Sprecher sich identifizieren. Im Fokus der interessanten Studie steht der Sprachgebrauch drei türkischstämmiger Gruppen der zweiten Generation in Mannheim.
Der Schwerpunkt des Beitrags von Ronny Beckert (S. 244–260) liegt auf der kapverdischen Gemeinschaft im Großraum Lissabon. Während sich der erste Teil der Emigration nach Portugal widmet, beschreibt der zweite Teil das Konzept des Transnationalismus und eine Studie zu den Sprechereinstellungen zum Kreol/Portugiesischen einerseits sowie eine Selbsteinschätzung ihrer Sprachkenntnisse andererseits. Anhand von 22 schriftlichen Fragebögen kommt Beckert zu dem Ergebnis, dass in städtischen Gebieten Kreol noch heute aktiv verwendet, jedoch die schriftliche Kreolkompetenz von den Sprechern als unzureichend eingestuft wird.
Mit den sprachlichen Ressourcen moldawischer Pflegerinnen (sog. badanti) in Italien setzt sich Matthias Wolny (S. 261–286) auseinander. Der gut strukturierte Beitrag untersucht anhand von Interviewausschnitten die Auswirkungen von Beschäftigung und Migration in der aufnehmenden Gesellschaft auf die individuellen Repertoires der badanti. Wolny zeigt, dass diese ein breites Repertoire aufweisen: Nicht nur Italienisch und der lokale Dialekt sind von Bedeutung, sondern auch Russisch als Sprache des Prestiges spielt eine tragende Rolle (S. 284).
William D. Keel (S. 287–301) skizziert anhand sprachlicher Enklaven auf den Great Plains, wie außersprachliche Faktoren in fünf deutschen Niederlassungen in den US-Staaten Missouri und Kansas zu Sprachwandel und -verlust führen. Präsentiert wird ein Modell zur Dynamik der intergenerationalen Assimilierung von Deutschsprachigen an das Englische (vgl. Schmidt 1977). Deutlich wird, wie eng soziale Faktoren mit Spracherhalt und Sprachwechsel verknüpft sind.
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff Sprachinsel und seinem Forschungsbereich liefert Patrick Wolf-Farré (S. 303–317) in einem Artikel zur deutschchilenischen Minderheit. Der Autor geht davon aus, dass das Sprachinselkonzept auf diese Minderheit in ihrer heutigen Form nicht angewendet werden könne, es jedoch von historischer Bedeutung sei, da die deutsch-chilenische Gesellschaft aus einer Sprachinsel entstand.
Veronika Stranz-Nikitina (S. 319–340) schließt den Band mit einem Aufsatz zum Zweitspracherwerb von Russischsprachigen in der Tschechischen Republik ab. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Beschreibung eines C-Tests, der in der Tschechischen Republik entwickelt wurde. Stranz-Nikitina kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Entwicklung des Tests die Methode der Evaluierung an die jeweilige Ziel- und Ausgangssprache angepasst werden müsse.
Insgesamt handelt es sich um ein vielfältiges und interessantes Buch, das mit seinen aufschlussreichen Beiträgen neue Einblicke in die aktuelle Forschungslage gewährleistet und eine Bereicherung des wissenschaftlichen Diskurses darstellt. Positiv zeichnet diesen Band auch die Vielfalt der Beiträge aus, die unterschiedliche Ansätze und Methoden präsentieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass in den vergangenen Jahrzehnten neue Kommunikationswege entstanden sind, und die
„aus den globalisierten Migrationsbewegungen hervorgehenden mehrsprachigen Gesellschaften [...] nicht mehr ohne Weiteres durch die dreigliedrige Entwicklung, bestehend aus Spracherwerb der Mehrheitssprache der aufnehmenden Gesellschaft, Sprachverlust der Minderheitensprache und eventuelle Revitalisierung der Minderheitensprache in der zweiten oder dritten Generation, zu erfassen und zu beschreiben“
sind (S. 284).
Literatur
Heine, Bernd & Tania Kuteva. 2006. The Changing Languages of Europe. Oxford: Oxford University Press. 10.1093/acprof:oso/9780199297337.001.0001Search in Google Scholar
Schmidt, Mary D. 1977. Linguistic Transitions of the Russian-Mennonites in Kansas. Masterarbeit, Emporia State University.Search in Google Scholar
Wiese, Heike. 2009. Grammatical innovation in multiethnic urban Europe. New linguistic practices among adolescents. In: Lingua 119, 782–806.10.1016/j.lingua.2008.11.002Search in Google Scholar
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