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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 19, 2018

Michael Beißwenger (Hg.). 2017. Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation. (Empirische Linguistik/Empirical Linguistics 9). Berlin, Boston: De Gruyter. 237 S.

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Michael Beißwenger (Hg.). 2017. Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation. (Empirische Linguistik/Empirical Linguistics 9). Berlin, Boston: De Gruyter. 237 S.


Der von Michael Beißwenger herausgegebene Band ist ein Ergebnis der Arbeit des Netzwerks „Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation“ (Empirikom), dem die Autorinnen und Autoren angehörten oder verbunden waren. Dieses von der DFG geförderte Netzwerk widmete sich der „empirischen, ressourcengestützten Analyse von Sprachdaten aus Formen internetbasierter Kommunikation“ (S. 1). Damit ist ein sehr weiter Phänomenbereich aufgespannt, dessen Kategorisierung und Eingrenzbarkeit in der Literatur schon länger diskutiert wird (vgl. Jucker & Dürscheid 2012). Michael Beißwenger fasst unter den Terminus internetbasierte Kommunikation „Formen der Sprachverwendung [...], die dialogisch und interaktional organisiert sind und für deren Zustandekommen Computernetze die infrastrukturelle Voraussetzung darstellen“ (S. 1). Dazu werden allerdings auch weniger interaktional orientierte Formen wie Forenbeiträge oder Blogeinträge gezählt. Unterscheidungen wie etwa diejenige zwischen schriftbasierter und mündlicher Kommunikation stellen kein umfassendes Eingrenzungskriterium bereit (Beispiel: Skype). Der Phänomenbereich ist also so umfangreich wie heterogen. Diese Problematik wird im vorliegenden Band nicht weiter verfolgt, die Beiträge fokussieren stattdessen überwiegend methodische Fragestellungen. Dennoch lässt sich aus den Themen des Sammelbandes ableiten, was de facto die bevorzugten und relevanten Gegenstände des Forschungsfeldes „Internetbasierte Kommunikation“ (IBK) sind: Die einzelnen Studien widmen sich der Chat-Kommunikation, dem Instant Messaging und der Kommunikation in Organisationen, weitere Phänomene werden nur am Rande erwähnt.

Chat-Kommunikation

Der erste Beitrag geht auf das Projekt ChatCorpus2CLARIN unter Leitung von Michael Beißwenger und Angelika Storrer zurück. Das Autorenteam[1]Michael Beißwenger et al. beschreibt hier allerdings keine Forschungsergebnisse, sondern rechtliche Aspekte bezüglich der Erhebung und Aufbereitung von Korpusdaten. Konkret werden die Ergebnisse eines eigens im Projektzusammenhang in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens dargestellt. Auch wenn die juristischen Einschätzungen nicht in jedem Detail auf andere Projekte übertragbar sein mögen, so stellen sie doch wertvolle Hinweise dar, deren Beachtung insbesondere im Vorfeld einer Datenerhebung manche spätere Komplikation vermeiden helfen kann. Ohne hier auf Details eingehen zu können, sei doch die grundsätzliche Unterscheidung dreier Datentypen erwähnt, nämlich von Mitschnitten eines virtuellen Seminars (E-Learning), Chat-Beratung sowie „Plauderchats“ (vgl. S. 15). Erwartungsgemäß sind Beratungsdaten besonders sensibel, insbesondere dann, wenn es um psychosoziale Beratungsangebote geht. Allgemein kann vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem ChatCorpus2CLARIN-Projekt wohl nur dazu geraten werden, ggf. bereits vor einer Datenerhebung ein juristisches Gutachten einzuholen. Das hier vorgestellte Gutachten berücksichtigt datenschutzrechtliche, persönlichkeitsrechtliche, urheber- und leistungsschutzrechtliche Aspekte (vgl. S. 9), forschungsethische Fragen vor und außerhalb juristischer Zuständigkeiten werden nicht diskutiert. Als wichtiges Desiderat wird schließlich „die Entwicklung von rechtlichen Leitlinien“ (S. 44) benannt.

Burkhard Dietterle, Anke Lüdeling und Marc Reznicek arbeiten ebenfalls mit Chat-Daten, genauer mit „Plauderchats“ (S. 47). Hier geht es vor allem um die Probleme, die sich aufgrund der vielfältigen Abweichungen von standardsprachlichem Schriftgebrauch bei der Annotation und Auswertung von Chat-Korpora ergeben. Die vorgeschlagene Lösung besteht in einer „Normalisierung“ (S. 56) der Chat-Beiträge, die allerdings erheblich in das Datenmaterial eingreift und etwa im Fall der „Auffüllung von Ellipsen und Auslassungen“ (S. 56) oder der Tilgung von Asterisken (vgl. S. 57) insofern nicht überzeugen kann, als zu starke Vorannahmen an die Daten herangetragen werden. Problematische Vorannahmen kommen allerdings auch durch den Begriff der konzeptionellen Mündlichkeit nach Koch und Oesterreicher (vgl. S. 61) zustande. Der dem Modell von Koch und Oesterreicher zugrundeliegende Versuch einer Trennung von Konzeption und Medium ist zeichentheoretisch nicht haltbar (vgl. Albert 2013: 57) und wird endgültig ad absurdum geführt, wenn es heißt: „Was nicht ausgesprochen werden kann, kann nicht konzeptionell mündlich sein“ (S. 63). Unabhängig davon ist klar, dass sich bei der Annotation von Chat- oder Messenger-Daten aufgrund der Abweichungen vom schriftsprachlichen Standard ähnliche Probleme wie bei der Arbeit mit mündlichen Daten ergeben können. Sowohl bei informeller Schriftlichkeit als auch bei gesprochener Sprache muss dann jeweils immer wieder die Frage beantwortet werden, ob der größere Umfang an (annotierten) Daten den unweigerlichen Informationsverlust aufgrund von Transkription, Modifikation und/oder Annotation dieser Daten rechtfertigt.

Im Beitrag „Eyetracking als Ressource zur Unterstützung des Interaktionsmanagements in synchroner Schriftkommunikation“ von Andrea Kienle et al. geht es im Kern um eine Machbarkeitsstudie zum Einsatz von „Eyetracking als innovative Mensch-Maschine-Schnittstelle für die Unterstützung synchroner schriftbasierter Kommunikation“ (S. 161). Während sich in der gesprochenen Sprache Produktion und Rezeption simultan vollziehen, bleibt den Leserinnen und Lesern von Chat-Nachrichten der Prozess des Formulierens und Tippens verborgen (vgl. S. 146). Für sprachwissenschaftliche Analysen ergeben sich hieraus besondere Herausforderungen, wenn man sich nicht auf eine produktorientierte Beschreibung beschränken möchte. Kienle et al. behaupten nun allerdings, dass lösungsbedürftige Probleme auch für die chattenden Akteure selbst bestehen („Risikopotenzial“ und „Lösungsmöglichkeit“, S. 154f.). Zwar ist für empirische Analysen des Interaktionsmanagements der Einsatz von Eyetracking durchaus überzeugend und vielversprechend. Dass aber die Nutzer von Chat-Anwendungen einen Bedarf an technischer Unterstützung hätten, kann der Beitrag nicht vermitteln, weshalb er auch insgesamt eher unklar bleibt.

Instant Messaging

Wolfgang Imo diskutiert am Beispiel von Instant-Messaging-Daten aus der MoCoDa (Mobile Communication Database; http://mocoda.spracheinteraktion.de/), inwiefern Methoden der Interaktionalen Linguistik für die Analyse schriftsprachlicher Daten geeignet sein können. Nachrichten per SMS oder WhatsApp können, so seine Auffassung, nur sinnvoll als Elemente sequenzieller Strukturen beschrieben werden. Dies wiederum erfordere qualitative Herangehensweisen (vgl. S. 84). Hierbei zeigt sich nicht nur, dass einzelne Beiträge ohne den sequenziellen Kontext oft nicht verstehbar sind (vgl. S. 92), sondern auch, dass in interaktionalen bzw. dialogischen Kontexten spezifische syntaktische Konstruktionen auftreten, so etwa die von Jörg Bücker beschriebene „nicht-finite Prädikationskonstruktion“ vom Typ „Ich...eine Kontaktanzeige?“ (vgl. S. 92f.).

Steffen Pappert möchte ebenfalls Konzepte der Interaktionalen Linguistik für die Untersuchung von Instant Messaging fruchtbar machen, er befasst sich mit „kommunikativen Funktionen von Emojis in der WhatsApp-Kommunikation“ (S. 175). Neun funktional unterschiedliche Verwendungen von Emojis werden auf der Basis einer interaktionalen Stilistik (vgl. S. 182ff.) herausgearbeitet und mit WhatsApp-Belegen illustriert. Aufgrund der ikonischen Basis der Emojis wird in vielen Arbeiten nicht beachtet, dass es sich bei jedem Emoji um eine „bewusste und punktuelle Setzung“ (S. 196) handelt. Diese Setzungen sind stets potentielle „Kontextualisierungshinweise“ (ebd.) von kommunikativer und stilistischer Relevanz – wer Korpusdaten, wie von Burkhard Dietterle, Anke Lüdeling und Marc Reznicek vorgeschlagen (vgl. S. 47ff.), für Vergleichszwecke modifizieren will, muss also wissen, welche Informationen dabei verloren gehen können. Es ist – zumindest nach jetzigem Forschungsstand – nicht möglich, die Emojis und ihre vielfältigen Gebrauchsweisen trennscharfen Kategorien zuzuordnen (vgl. S. 206), und es wäre der Natur des Gegenstands wahrscheinlich auch nicht angemessen. Allerdings zeigt dieses (auf den ersten Blick vielleicht eher marginale) Phänomen, dass im Bereich der internetbasierten Kommunikation neben der Auswertung großer Korpora unbedingt multimodale Ansätze, ethnografische Forschungsdesigns und Produktionsanalysen sinnvoll sind (vgl. S. 206). Nimmt man die Unterscheidung zwischen text- und interaktionsorientiertem Schreiben ernst (vgl. Storrer 2013), dann ist es nur konsequent, Daten aus interaktionsorientierten Kontexten mit Methoden der Interaktionalen Linguistik zu analysieren – auch wenn dadurch die Menge an forschungspraktisch tatsächlich handhabbaren Daten eingeschränkt wird. Dass vor diesem Hintergrund fundierte Studien möglich sind, zeigen die Beiträge von Imo und Pappert.

Kommunikation in Organisationen

Dass institutionelle Kommunikation neben den privaten Schreibregistern einen relevanten Bereich innerhalb der internetbasierten Kommunikation darstellt, stellen Eva-Maria Jakobs, Claas Digmayer und Bianka Trevisan heraus. Im Vergleich zu anderen Domänen sind „professionelle [...] Nutzungssituationen und Gebrauchsmuster [...]“ (S. 111) noch wenig erforscht, gehören aber zur Gesamtheit des „IBK-Haushaltes“ (S. 109). Es werden zwei Fallbeispiele diskutiert: Kommentare zu themenspezifischen Blogs (hier: zu den Themen Funkmasten und Elektrosmog) und ein Open-Innovation-Portal, in dem sich Nutzerinnen und Nutzer mit Vorschlägen an einer Produktentwicklung beteiligen können. Die Studien sind somit relevant für die Bereiche interner und externer Unternehmenskommunikation und Experten-Laien-Kommunikation. Der Fokus liegt hier wie bei den meisten Beiträgen des Sammelbandes auf methodischen Aspekten. Instruktiv ist dabei die getroffene Unterscheidung zwischen den Herausforderungen, die sich jeweils in Bezug auf (typische oder spezifische) Gebrauchsmuster, auf Themen, Domänen und schließlich auf Nutzertypen ergeben. Die Beispiele zeigen, dass „erst in der Kombination quantitativer und qualitativer Methoden“ (S. 134) aussagekräftige Ergebnisse entstehen, was zwar nach einer Binsenweisheit klingt, angesichts der rasanten Entwicklung automatischer Datenverarbeitungsmethoden aber dennoch immer wieder erwähnenswert ist.

Ebenfalls mit institutioneller und professioneller Kommunikation befasst sich der abschließende Beitrag von Clay Spinuzzi (vgl. S. 213), dessen Text als Übersetzung aus dem Englischen vorliegt. Spinuzzi verortet seine Arbeit im Gebiet von „Writing, Activity, and Genre Research“ (S. 214), wobei aber die Relevanz für sprachwissenschaftliche Fragestellungen leider kaum erkennbar wird. Im Rahmen des „Writing, Activity, and Genre Research“-Ansatzes werden drei Begriffe erläutert: Genre-Ökologie, Tätigkeitssysteme und Tätigkeitsnetzwerke. Letztlich handelt es sich um Elemente einer Modellbildung, die hervorheben sollen, dass und wie bestimmte Aktivitäten (hier: internetbasierte Kommunikation) in praktische und kommunikative Zusammenhänge eingebettet sind.

In der Gesamtschau sollte deutlich geworden sein, dass der vorliegende Sammelband nicht in erster Linie Forschungsergebnisse und theoretische Erkenntnisse aus dem Bereich der internetbasierten Kommunikation präsentiert. Von Interesse sind die meisten Beiträge vor allem dann, wenn man selbst gerade in diesem Bereich empirische Arbeiten durchführt oder plant. Der Band dokumentiert dabei die Arbeit des Netzwerks „Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation“ und liefert nützliche Informationen zu Erhebung, Aufbereitung, Darstellung und Analyse von Daten digitaler Schriftlichkeit. Der individuellen Schwerpunktbildung der am Netzwerk beteiligten Personen geschuldet ist vermutlich die Konzentration auf die Chat-Kommunikation und auf wenige andere Kommunikationsformen, wobei ein einzelner Band mittlerweile natürlich auch nicht mehr die gesamte Vielfalt des Gegenstandsbereichs (neben den im Band behandelten Gegenständen z. B. Twitter, Facebook oder Online-Journalismus) abbilden kann. Verschiedentlich wird in den Beiträgen darauf hingewiesen, dass eine enge Zusammenarbeit mit der Computerlinguistik und Informatik für die Analyse internetbasierter Kommunikation wünschenswert sei. Die Beiträge von Dietterle/Lüdeling/Reznicek, Jakobs/Digmayer/Trevisan und Kienle et al. zeigen, welche methodischen Entwicklungen bereits im Gange sind. Diese Weiterentwicklung von Methoden ist erfreulich – es wird allerdings auch deutlich, dass die Sprachwissenschaft noch lange nicht mit der begrifflichen Arbeit am Ende ist und sich teilweise noch immer an dem „Hilfskonzept“ ‚Mündlichkeit‘ (vgl. Spitzmüller 2014) abarbeitet. Zudem bleibt insbesondere mit Blick auf die Studien von Imo und Pappert zu betonen, dass auch in Zukunft der qualitativen Analyse von Sprachdaten ein zentraler Stellenwert zukommen muss.

Literatur

Albert, Georg. 2013. Innovative Schriftlichkeit in digitalen Texten. Syntaktische Variation und stilistische Differenzierung in Chat und Forum. Berlin: Akademie Verlag.10.1524/9783050063676Search in Google Scholar

Jucker, Andreas H. & Christa Dürscheid. 2012. The linguistics of keyboard-to-screen communication. A new terminological framework. In: Linguistik online 56, 39–64.10.13092/lo.56.255Search in Google Scholar

Spitzmüller, Jürgen. 2014. Die dunkle Seite des Textes. „Mündlichkeit“ als Hilfskonzept der Text- und Medienlinguistik. In: Elke Grundler & Carmen Spiegel (Hg.). Konzeptionen des Mündlichen – wissenschaftliche Perspektiven und didaktische Konsequenzen. Bern: hep-Verlag, 32–46. Search in Google Scholar

Storrer, Angelika. 2013. Sprachstil und Sprachvariation in sozialen Netzwerken. In: Barbara Frank-Job, Alexander Mehler & Tilmann Sutter (Hg.). Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke. Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW. Wiesbaden: Springer VS, 331–366.10.1007/978-3-531-93336-8_15Search in Google Scholar

Published Online: 2018-06-19
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0027/html
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