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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 22, 2018

Andreas Lötscher. 2017. Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beiheft 169). Stuttgart: Franz Steiner. 400 S.

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Andreas Lötscher. 2017. Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beiheft 169). Stuttgart: Franz Steiner. 400 S.


In der vorliegenden Untersuchung von Andreas Lötscher geht es um grundlegende und weiterführende Fragestellungen der arealen Diversität, und zwar am Beispiel des Schweizerdeutschen. So stellt er sich vor allem folgende Fragen:

„Worin besteht onomasiologische Verschiedenheit zwischen Dialekten? Wie kann man diese Verschiedenheit begrifflich fassen und beschreiben? In welchen unterschiedlichen Formen konkretisiert sie sich? Warum gibt es überhaupt Verschiedenheit im Raum? Wie ist sie entstanden, wie verändert sie sich?“ (S. 19)

In insgesamt sechs Kapiteln mit zahlreichen Unterkapiteln versucht Lötscher diese und weitere Fragen eingehend zu beantworten, wobei er nahe am Datenkorpus bleibt und mit großer methodischer Genauigkeit arbeitet. Es wird bereits vor der eigentlichen Untersuchung die benutzte Terminologie definiert. Die Studie verfügt zudem über ein Abkürzungsverzeichnis, ein Verzeichnis der verwendeten Karten und eine kurze Erklärung zu den typografischen Konventionen. Die verwendeten Termini werden im Text an betreffender Stelle nochmals erläutert. Auf diese Weise ist immer eindeutig nachvollziehbar, was jeweils mit einem bestimmten Begriff gemeint ist. In der eigentlichen Arbeit macht Lötscher dann deutlich, dass es ihm nicht darauf ankommt, räumliche Strukturen in arealer Diversität ausfindig zu machen, sondern diese Verschiedenheit an sich zu analysieren. Die räumliche Diversität wird dabei immer wieder in Bezug zum Sprachwandel gesetzt. Der Autor stellt dabei die Hypothese auf, dass „synchrone Diversität sich besser beschreiben und verstehen lässt, wenn man die Verschiedenheit von Varianten als Resultat von Sprachwandel betrachtet“ (S. 24). Ohne dass dies eigens thematisiert wird, kommt es somit zu einer erfreulich modernen Behandlung des mittlerweile schon historisch gewordenen Datenmaterials des Sprachatlas der Deutschen Schweiz (SDS), indem das Material auch im Hinblick auf Sprachwandel aus heutiger Sicht zum Einsatz kommt. Dies zeigt auf einfache und eindrucksvolle Weise, welches Forschungspotenzial in Grundlagenwerken wie dem SDS steckt. Wie bereits oben erwähnt, ist die gesamte Untersuchung durch eine enge Verknüpfung zwischen Datenmaterial, methodischem Vorgehen und Analyse gekennzeichnet. Dabei ist es für eine solch umfangreiche Studie angebracht und lobenswert, dass hier nicht versäumt wird, auch die Datenbasis des SDS mit kritischem Blick zu beleuchten. So weist Andreas Lötscher auf den Kritikpunkt der Datengewinnung aus einer einzelnen Sprachschicht (ältere ortsfeste Generation) hin, entkräftet diesen aber überzeugend, indem er die bessere Vergleichbarkeit anführt. Zudem werde die fehlende Repräsentativität dadurch aufgewogen, dass die Antworten meistens in ein größeres Gebiet mit weiteren Angaben von anderen Gewährspersonen eingebettet sind. Erfreulicherweise behält der Autor diesen kritischen Umgang mit den Sprachdaten aus dem SDS die ganze Abhandlung hindurch bei und zeigt in den jeweiligen Beispielen so auch die Grenzen der Interpretierbarkeit auf. Dadurch ist eine solide, verlässliche Basis für eine weitere Untersuchung in methodischer Hinsicht geschaffen (vgl. S. 26f.).

Nach dem Einleitungskapitel behandelt Kapitel 2 zunächst den Bezeichnungswandel. Nachdem der Fokus in Kap. 2.1 auf Bezeichnungswandel und Sprachwandel gelegt wurde, beschäftigt sich Kapitel 2.2 anschließend mit Variation in unterschiedlichen Arten der lexikalischen Innovation. So werden als Phänomene die semantische Umfunktionierung, z. B. bei mhd. Kopf (vgl. S. 46), Aspekte der Wortbildung und Wortschöpfung, die assoziative Abwandlung, wie in „»Pfnüsel« > »Pflüsel«, »Chnüsel«, »Flüsel« ‘Schnupfen’ (SDS IV 63) (»Pfnüsel« < mhd. pfnûsen ‘schnauben’)“ (S. 52), und die Entlehnung, beispielsweise in „»Goggelüsche« ‘Keuchhusten’ (SDS IV 116) < franz. coqueluche“ (S. 57), behandelt. Kapitel 2.3 befasst sich dann mit dem Bezeichnungswandel und dessen Auswirkungen auf die Wortschatzstruktur.

Kapitel 3 setzt diesen Wandel nun in Bezug zur arealen Diversität, nimmt also den räumlichen Aspekt in den Blick. Hier kommen erstmals Kartenbeispiele aus dem SDS zum Einsatz, was vor allem die räumliche Ausdehnung und damit auch die später behandelten Distributionsmuster gut visualisiert. Dabei wird schon in der Einleitung kurz auf die Diffusion eingegangen, die zur Varianz führt. Im einleitenden Unterkapitel 3.1.5 wird die diachrone Interpretation von Wortschatzkarten mit einbezogen. Auch an diesem Punkt weist der Autor auf kritische Aspekte hin. So seien historische Belege nicht zwangsläufig als Garanten für sprachliche Kontinuitäten zu werten. Im Anschluss stehen in Kapitel 3.2 die „Grundformen der Entstehung arealer Diversität“ im Fokus, nämlich Wortersatz, wie bei annähen (vgl. S. 89) oder Schmetterling (vgl. S. 90), Monosemierung von Quasi-Synonymen, z. B. Biene und Imbi/Immi (vgl. S. 95), sowie konzeptionelle Innovation, z. B. bei Klemmflecken am Finger (vgl. S. 99). Anschließend werden mögliche Gründe für „Diversifizierungsprozesse“ (S. 113) besprochen. Gründe für areale Verschiedenheit können demnach beispielsweise Sach­innovation und Sachwandel sein, wie an den Beispielen Regenschirm (vgl. S. 105) oder Sofa (vgl. S. 108) verdeutlicht wird. In Kapitel 3.3 geht es schließlich um Kombinationen solcher Prozesse.

Es kann zwischen den verschiedenen Entstehungsformen arealer Diversität auch zu Übergängen kommen, wie Kapitel 3.4 verdeutlicht. In Kapitel 3.6 werden, nachdem in den vorigen Teilkapiteln stets die diachrone Ebene einbezogen wurde, abermals die Grenzen der diachronen Interpretierbarkeit aufgezeigt. Der Gegenstand von Kapitel 3.7, „Lokale Varianz als Reflex von Sprachwandel“ (S. 154), macht erneut klar, wie nah diese Untersuchung in ihrer Vielschichtigkeit am eigenen Material bleibt. So wird auch die Rolle der Gewährspersonen und ihrer Antworten im Bezug auf die Varianz am jeweiligen Ort thematisiert. Anhand der diachronen Einstufungen in Kapitel 3.7.1.3 wird erkennbar, wie wichtig es auch für andere Kleinraumatlanten wäre, metasprachliche Äußerungen wie Korrekturen, Wiederholungen, Suggerierungen und insbesondere spontane Äußerungen noch genauer zu betrachten. Bis dato werden diese zwar in den Kommentaren zu den jeweiligen Sprachkarten erwähnt, aber bei weitem nicht immer so ausführlich interpretiert wie es laut Lötscher im Bereich der Lexik möglich wäre. Sie geben beispielsweise Aufschluss über die zeitliche Einordnung von Seiten der Gewährspersonen, welche die lexikalischen Varianten beispielsweise als „älter“ oder „jünger“ (S. 156) einstufen. Auf diese Tatsache hätte der Autor noch etwas ausführlicher eingehen können, um die Wichtigkeit der Vorgehensweise zu unterstreichen. Den Stellenwert von stilistischen Bewertungen durch die Gewährspersonen hätte man ebenfalls noch genauer beleuchten können (hier Kapitel 3.7.1.4). Diese kommen in anderen Projekten sicher ebenfalls zahlreich vor und es ist zweifellos lohnend, wie Lötschers Arbeit deutlich macht, sie bezüglich der Lexik und ihrer Verteilung genauer zu analysieren.

Kapitel 4 betrachtet die lexikalische Variation aus synchroner Perspektive. Es werden u. a. die Ähnlichkeitsbeziehungen der Benennungsmotive beleuchtet und die semantischen Strukturen dargestellt. Die dazugehörigen Grafiken sind weder zu sehr abstrahiert noch zu überladen und deshalb gut zur Veranschaulichung geeignet (vgl. S. 186). Heterogenität wird auch in Bezug zu Sprachwandel gesetzt, welcher der Motiviertheit entgegensteht (vgl. S. 188). Auch hierzu werden Beispiele genannt, bei denen die lexikalischen Varianten diachron betrachtet zwar deutlich motiviert sind, ihr Ursprung jedoch aus heutiger synchroner Sicht nicht mehr zu erkennen ist (vgl. S. 189).

Während sich Kapitel 4 mit den Variantenmustern beschäftigt hat, geht Kapitel 5 auf „Areale Distributionsmuster“ (S. 225) ein. Diese werden deutlich von Dialektarealen unterschieden. Die einleitenden Unterkapitel behandeln zunächst die unterschiedlichen Typen von Distributionsmustern sowie die grundlegenden Prozesse der Diffusion und Innovation, welche die Distributionsmuster beeinflussen (vgl. S. 239). Seine Ausführungen untermauert der Autor mit zahlreichen Beispielen aus dem SDS. Bei der Behandlung von „Distributionsmuster k“ (= sehr hohe Diversität mit hoher Durchmischung) sieht er wiederum methodische Grenzen, diesmal in Bezug auf die Kartendarstellung (dieser Distributionstyp kann nach Lötscher ohne Vereinfachungen kaum noch auf Karten dargestellt werden) (vgl. S. 238).

Kapitel 6 nimmt schließlich die „Variationen in Diversitätsmustern“ unter die Lupe. Theoretische Überlegungen werden dabei auf konkrete Sachbereiche aus dem SDS angewandt. Dazu zählen die Bereiche „Diversität und Naturwahrnehmung“ (Kapitel 6.2), „Elementares Körperverhalten“ (Kapitel 6.3), wie (zu Fuß) gehen, sitzen oder knien (vgl. S. 310), „Zucht- und Haustiere auf dem Bauernhof“ (Kapitel 6.4) und „Gegenstände des Alltagslebens“ (Kapitel 6.5).

Kapitel 7 zieht ein relativ kurzes, aber prägnantes Fazit. Ein Register der behandelten SDS-Karten rundet nach dem Literaturverzeichnis die Untersuchung ab.

Fazit

Es handelt sich insgesamt um eine gelungene wissenschaftliche Abhandlung, welche die areale Diversität im Schweizerdeutschen in ihrer beeindruckenden Vielschichtigkeit detailliert und mit lobenswerter methodischer Genauigkeit betrachtet. Die methodische Reflexion, die das gesamte Buch hindurch beibehalten wird, sorgt dafür, dass jederzeit klar ist, welche Chancen eine Untersuchung der arealen Verschiedenheit bietet, aber auch, welche Grenzen ihr gesetzt sind. Die Arbeit verdeutlicht auch das Potenzial von Kleinraumatlanten, indem der Autor u. a. auf darin enthaltenes Spontanmaterial Bezug nimmt und erläutert, inwiefern dieses zum besseren Verständnis von Diversität und Sprachwandel beitragen kann. Dementsprechend wäre es wünschenswert, auch in anderen Projekten vermehrt den Fokus auf das Spontanmaterial und sonstige metasprachliche Äußerungen zu richten.

Die Arbeit von Andreas Lötscher zeigt, welche faszinierenden neuen Perspektiven man bei der eingehenden Betrachtung von Wortschatzkarten einnehmen und welche Erkenntnisse man je nach Größe und Art des Datenkorpus daraus ziehen kann. Beim Blick in Kleinraumatlanten wie z. B. den Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben oder den Sprachatlas von Oberbayern lässt sich nämlich erkennen, dass die Kommentare zu den jeweiligen Wortschatzkarten zwar ausführlich sind, dass jedoch nur die Etymologie und die Verteilung der jeweiligen Bezeichnungen behandelt werden. Wie und warum es zu dieser Verteilung kommt, bleibt unberücksichtigt.[1]

An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass die strikte Konzentration Lötschers auf das Schweizerdeutsche zwar methodisch konsequent ist, man aber an der einen oder anderen Stelle den Blick in andere Sprachlandschaften vermisst.[2] Diese Aufgabe bleibt ein Desiderat für künftige Untersuchungen, wobei darauf zu achten wäre, dass das zu Grunde gelegte Untersuchungsgebiet groß genug ist, d. h. eine ausreichende Zahl unterschiedlicher Dialektareale beinhaltet und infolgedessen eine erhöhte Anzahl an lexikalischen Varianten aufweist. Von der sprachgeografischen Beschaffenheit des Untersuchungsgebiets her wäre der Sprachatlas von Nordostbayern wohl dafür geeignet, da er das Nordbairische, das Ostfränkische, in den Übergangszonen auch das Nord-Mittelbairische sowie in den Randbereichen Ausläufer des Thüringischen erfasst.

Literatur

Eichinger, Ludwig M. (Hg.). 2009. Sprachatlas von Oberbayern (Band 5, Lexik I. Landwirtschaft). Heidelberg: Universitätsverlag Winter.Search in Google Scholar

König, Werner (Hg.). 1996. Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (Regionalteil 1, Band 2: Wortgeographie I. Der menschliche Körper. Körperliche und seelische Äußerungen. Die menschliche Gemeinschaft. Kleidung). Heidelberg: Universitätsverlag Winter.10.1515/9783110945768.2aSearch in Google Scholar

Published Online: 2018-06-22
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 22.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0029/html
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