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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter September 4, 2018

Brigitte Ganswindt. 2017. Landschaftliches Hochdeutsch.Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beihefte 168). Stuttgart: Franz Steiner. 302 S.

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Brigitte Ganswindt. 2017. Landschaftliches Hochdeutsch. Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik – Beihefte 168). Stuttgart: Franz Steiner. 302 S.


Der hier zu besprechende Band enthält die leicht überarbeitete Dissertation der Autorin, in der sie die regional variierende Aussprache des Schriftdeutschen im späten 19. Jahrhundert rekonstruiert. Dieser Zeitraum ist für die Zielsetzung der Arbeit besonders interessant, weil die neuhochdeutsche Schriftsprache zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend vereinheitlicht war (S. 11). Es wäre daher anzunehmen, dass alle Sprecherinnen und Sprecher die Schriftsprache gleichermaßen aussprachen, wenn sie überregional verstanden werden wollten. Die Tatsache allerdings, dass gleichzeitig Bemühungen zur Normierung der Aussprache stattfanden, z. B. durch Theodor Siebs (1898) und Wilhelm Viëtor (1888–1890), spricht dafür, dass es wider Erwarten keine einheitliche Standardaussprache gab. Die Autorin leitet daraus die Hypothese ab, dass das Schriftdeutsche je nach dialektaler Grundlage unterschiedlich ausgesprochen wurde.

Um dies zu untersuchen, formuliert sie eine ganze Reihe von Forschungsfragen bzw. ‑aufgaben: Die Rekonstruktion der landschaftlichen Lautung der Schriftsprache beinhaltet v. a. die Feststellung der phonetisch-phonologischen Merkmale sowie die Ermittlung von Variantenprofilen, also von Mengen charakteristischer lautlicher Merkmale der einzelnen Erhebungsorte bzw. -regionen. Damit sollen Grenzen im landschaftlichen Hochdeutsch ermittelt und ihre Übereinstimmung mit Dialektgrenzen überprüft werden. Ferner geht es um die Suche nach Aussprachemerkmalen mit großräumiger (überregionaler) Verbreitung sowie die Beantwortung der Fragen, ob das landschaftliche Hochdeutsch die historische Grundlage der gegenwärtigen Regiolekte ist und wie abbausensitiv Aus­sprachevarianten im diachronen Vergleich sind.

Die Autorin weist darauf hin, dass es bisher, abgesehen von Annahmen und Thesen, kaum gesicherte Erkenntnisse über die Aussprachevariation der Schriftsprache im ausgehenden 19. Jahrhundert gibt. Genau diese Forschungslücke soll durch die erste empirisch gestützte Darstellung der „oralen Prestigevarietät“ geschlossen werden. Zu diesem Zweck wertet die Autorin schriftliche Quellen aus. Warum sie auf die Auswertung mündlicher Quellen verzichtet, begründet sie ausführlich. Zwar gebe es in Rundfunkarchiven Bestände seit dem Beginn der Tonaufzeichnungen im 19. Jahrhundert, die in guter Tonqualität vorlägen, doch stellte sich die Zusammenstellung eines repräsentativen Analysekorpus als unmöglich heraus, weil es sich in der Regel entweder um Dialektaufnahmen handle oder um Aufnahmen von geschulten Sprecherinnen und Sprechern, deren Aussprache die regionale Lautung der Schriftsprache nicht wiedergebe. Die Autorin muss sich also mit schriftlichen Quellen begnügen und dabei in Kauf nehmen, dass die Aussprachevariation der Schriftsprache daraus rekonstruiert werden muss.

Der Band ist in acht Abschnitte gegliedert. Nach einer Einleitung folgen in Kapitel 2 die Gegenstandskonstitution des „landschaftlichen Hochdeutsch“, bei der sich die Autorin auf das Sprachdynamik-Konzept von Schmidt & Herrgen (2011) beruft:

„Als landschaftliches Hochdeutsch werden die auf Synchronisierungsprozessen beruhenden, areal divergenten Oralisierungen der Schriftsprache durch Dialektsprecher nach der Etablierung der neuhochdeutschen Schriftsprache bezeichnet.“ (S. 19)

Im Fokus steht die schriftorientierte Aussprache von Dialektsprecherinnen und -sprechern, die überregional verstanden werden und/oder ihre Bildung durch den Gebrauch der Prestigevarietät unter Beweis stellen möchten. Ferner beinhaltet das Kapitel die Entstehung des landschaftlichen Hochdeutsch, Motive zu seinem Gebrauch sowie seine Weiterentwicklung zur deutschen Standardsprache einerseits und zur Regiolekt-Lautung andererseits.

Nach der Darstellung des Forschungsstandes im dritten Kapitel wird in Kapitel 4 die empirische Untersuchung der Autorin anhand der Forschungsfragen, der auszuwertenden Quellen und des Untersuchungsaufbaus erläutert.

Die Kapitel 5 bis 7 enthalten die eigentliche Untersuchung, die mit der Auswertung von Viëtors Beiträgen zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen (1888–1890) beginnt. Auf dieser Grundlage ermittelt die Autorin insgesamt 30 phonetisch-phonologische Varianten der landschaftlichen Aussprache des Schriftdeutschen (S. 138f.), z. B. Entrundung von [ø] und [y] (bese statt böse, mide statt müde); Phonemzusammenfall von /b/ und /p/, /d/ und /t/ sowie /z/ und /s/ (z. B. bei Blei, retten, Rose); Velarisierung von [ç] zu [x] (z. B. bei Bäche, sicher), Bewahrung von /s/ vor /p/ und /t/ (z. B. bei sprechen, stehen). Zudem erstellt sie für jeden der dreizehn von Viëtor untersuchten Erhebungsorte[1], die sich vor allem im nieder- und teilweise im mitteldeutschen Dialektgebiet befinden, ein Variantenprofil. In Mülheim an der Ruhr beispielsweise umfasst dieses Profil unter anderen kurzes, ungespanntes [a] in einsilbigen geschlossenen Wortformen (z. B. in Bad, Schlag), in- und auslautende g-Spirantisierung (in leugne, sagt, Sieg) sowie anlautende Deaffrizierung von [pf] zu [f] (in Pferd) (S. 134ff.). Ein weiteres Ergebnis dieses Kapitels ist, dass die meisten rekonstruierten Merkmale ihren Ursprung in den jeweiligen Dialekten haben, wobei der dialektale Einfluss nicht in allen Orten gleichermaßen stark ausgeprägt war: Einige Erhebungsorte bzw. -regionen zeigten konservativere, d. h. stärker dialektal geprägte Oralisierungsnormen, während andere eine größere Nähe zur Schriftsprache aufwiesen.

Anhand der Ähnlichkeit der Variantenprofile erstellt die Autorin Cluster von zusammengehörigen Untersuchungsorten. So bilden beispielsweise die Erhebungsorte Remscheid und Mülheim an der Ruhr ein Cluster mit einem gemeinsamen landschaftlichen Hochdeutsch, das wiederum Teil eines übergreifenden Clusters ist, das Orte mit nieder- und mitteldeutscher Dialektgrundlage umfasst (vgl. S. 142). Diese Cluster zeigen, dass die dialektalen Großlandschaften (hier: Nieder- und Mitteldeutsch) im landschaftlichen Hochdeutsch des 19. Jahrhunderts spürbar sind. Es folgt eine Implikationsanalyse, mit der Wenn-Dann-Aussagen getroffen werden können („Wenn in einem landschaftlichen Hochdeutsch Merkmal X gegeben ist, dann kann auch Merkmal Y erwartet werden“, S. 144).

In Kapitel 6 folgt eine Untersuchung zur Dynamik, d. h. zu diachronen Entwicklungen vom landschaftlichen Hochdeutsch zum Regiolekt. Ganswindt zeigt, dass die meisten Merkmale des landschaftlichen Hochdeutsch des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch im gegenwärtigen Regiolekt vorhanden sind. Damit wird bestätigt, dass die historischen Ausprägungen des landschaftlichen Hochdeutsch Vorläufer der modernen Regiolekte sind.

Hinsichtlich der Abbausensitivität zeigt sich, dass Varianten mit kleinräumiger Verbreitung sowie saliente Merkmale eher aufgegeben werden als nicht-saliente oder solche mit großräumiger Ausdehnung. Als abbauresistent erweisen sich vier Merkmale, die in allen untersuchten Gebieten in den Regiolekten erhalten geblieben sind: in- und auslautende g-Spirantisierung, anlautende Deaffrizierung von [pf], r-Vokalisierung (z. B. in Ohr)[2], Varianten der Realisierung von langen e-/ä-Lauten (Phonemzusammenfall, Hebungen und Senkungen) (S. 189).

Während in den Kapiteln 5 und 6 nur Erhebungsorte mit nieder- oder mitteldeutscher Dialektgrundlage thematisiert werden, kommt in Kapitel 7 auch der oberdeutsche Raum mit in Betracht, wodurch das Gebiet der heutigen BRD flächendeckend einbezogen wird. Die Untersuchung widmet sich schriftsprachorientierten Fehlschreibungen auf den zwischen 1888 und 1923 entstandenen Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ von Georg Wenker. Diese Fehlschreibungen sind nach Ganswindt darauf zurückzuführen, dass die landschaftliche Aussprache der Schrift mit der Dialektlautung übereinstimmte, ohne dass sich die Gewährsleute dessen bewusst waren. Infolgedessen notierten sie die vermeintlich richtige, de facto aber dialektale Aussprache durch normgerechte Schreibungen. So wird z. B. [mi:də] als <müde> wiedergegeben, davon ausgehend, dass <ü> für [i:] stehe (vgl. S. 199). Ein Nicht-Dialektsprecher könnte die Aussprache anhand der schriftsprachorientierten Schreibung nicht erkennen. Die Autorin nimmt hier drei Beispielanalysen für das o. g. Phänomen der Entrundung in müde und böse sowie für die g-Spirantisierung in fliegen vor und präsentiert ihre Ergebnisse anschaulich auf farbigen Karten.

Der Band schließt mit einem zusammenfassenden Fazit, einem Verzeichnis der Forschungsliteratur sowie einem Anhang, in dem die ausgewerteten Quellen verzeichnet sind. Ein Register fehlt.

Kritisch anzumerken ist, dass die verwendete Terminologie zum Teil ungenau und missverständlich ist. Dies kann der Autorin aber nur bedingt zur Last gelegt werden, da eine einheitliche Verwendung von Termini zur Bezeichnung grundlegender variationslinguistischer Begriffe in der Fachwelt leider nicht gegeben ist. So ist in der einschlägigen Literatur nicht selten festzustellen, dass weder Fachausdrücke noch die durch sie bezeichneten Begriffe immer konsequent voneinander abgegrenzt werden. Im hier zu besprechenden Band gilt dies für den zentralen Terminus (landschaftliches) Hochdeutsch, den die Verfasserin im Sinne von Schmidt & Herrgen (2011) in der Bedeutung ‚areal divergierende Oralisierungen der Schriftsprache durch Dialektsprecher‘ (S. 11, 19) verwendet. Diese Bedeutung lässt sich dem Terminus nicht unmittelbar entnehmen. Auch wenn er gleich zu Beginn des Buches erläutert wird, stellt sich doch die Frage, warum keine eindeutigere Bezeichnung gewählt wurde. Bei der Begriffskomponente Hochdeutsch ist zum einen die semantische Ambiguität (‚Standardvarietät‘ vs. ‚von der Zweiten Lautverschiebung betroffene Dialekte‘) problematisch, zum anderen macht landschaftliches Hochdeutsch nicht deutlich, dass es hier ausschließlich um den Aspekt der Aussprache geht. Um den Bezug zur Lautung deutlicher zu machen, greift die Autorin selbst zuweilen auf den Ausdruck Oralisierungsnorm zurück, der m. E. angemessener ist. Ferner läuft die Verwendung von landschaftliches Hochdeutsch im Singular der Grundannahme der Untersuchung von der Existenz verschiedener regionaler Ausspracherealisierungen des Schriftdeutschen zuwider.

Etwas ermüdend sind die inflationären Hinweise zum Textaufbau, die zum Teil das Inhaltsverzeichnis paraphrasieren und zu vielen Wiederholungen führen.

Diese Kritikpunkte sollen jedoch nicht den Gesamteindruck schmälern. Die Autorin hat ein interessantes Thema gewählt und eine längst überfällige empirische Untersuchung zur regionalen Standardlautung im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland durchgeführt. Dabei ist es ihr überzeugend gelungen, durch fachkundige und akribische Auswertung ihres Korpus sowie kluge Überlegungen die orale Prestigevarietät des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren und die weitere Entwicklung hin zu den modernen Regiolekten zu skizzieren.

Literatur

Siebs, Theodor. 1898. Deutsche Bühnenaussprache. Berlin: Ahn.Search in Google Scholar

Viëtor, Wilhelm. 1888–1890. Beiträge zur Statistik der Aussprache des Schriftdeutschen I-V. In: Phonetische Studien 1–3.Search in Google Scholar

Schmidt, Jürgen Erich & Joachim Herrgen. 2011. Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt.Search in Google Scholar

Published Online: 2018-09-04
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0033/html
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