Reviewed Publication:
Karen Lehmann. 2017. Reflexivität und Sprachsystem. (Stauffenburg Linguistik 91). Tübingen: Stauffenburg. 405 S.
Reflexivität ist ein viel beachteter und oft untersuchter Gegenstand in der (germanistischen) Sprachwissenschaft. Untersucht wurde sie formal und funktional, synchron und diachron, einzelsprachbezogen, kontrastiv und typologisch, morphologisch, syntaktisch und semantisch, teilsystem- und systembezogen, struktur- und prozessbezogen. Was in ein und derselben Arbeit bisher noch nicht passiert ist, ist der Versuch, Reflexivität umfassend, d. h. mit dem Anspruch, (möglichst) alle theoretisch relevanten Untersuchungsperspektiven zu reflektieren und deren empirische Tragweite zu überprüfen, zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Dies ist der (leidenschaftlich vorgetragene) Anspruch der von Karen Lehmann vorgelegten Monographie:
„Vielleicht gelingt durch die Kombination von Empirie und Theorie, was bislang versagt blieb: Eine schlüssige Erklärung zur Entstehung, Entwicklung und Funktion von Reflexivität im Neuhochdeutschen zu präsentieren.“ (S. 12)
Selbst wenn sich die im Leser geweckten Erwartungen nicht alle erfüllen sollten, muss man vor dieser Arbeit, vor dem ,wissenschaftlichen Mut‘ der Autorin, den Hut ziehen.
Die Grundidee der Arbeit ist einfach: Man extrahiere aus der (auch das Idg. und das Germ. mit einschließenden) sprachhistorischen wie gegenwartsbezogenen Fachliteratur verschiedener theoretischer Couleur zentrale Theoriebausteine, formuliere auf dieser Grundlage (insgesamt 14) Hypothesen zur Reflexivität, überprüfe diese Hypothesen anhand eines eigens zusammengestellten und reich annotierten Analysekorpus (= Reflexivkorpus) und resümiere die Analyseergebnisse in Form einer theoretischen Standortbestimmung.
Die Umsetzung der Grundidee ist komplex und kompliziert. Denn theoretisch und methodisch, hinsichtlich kategorialer und terminologischer Beschreibungs- und Interpretationstraditionen führt kein direkter Weg von der Indogermanistik zu den gegenwartssprachenbezogenen formalen oder funktionalen Modellen. Es ist aber genau dieser direkte Weg, der der Autorin vorschwebt und den sie zu beschreiten sucht. Und genau hier fangen auch die Probleme an. Denn die Autorin scheint davon überzeugt zu sein, dass sich ein indogermanistisch motivierter kategorialer und terminologischer Apparat letztlich auch auf das Gegenwartsdeutsche übertragen lässt. Dabei überschätzt sie die kategoriale Relevanz der Indogermanistik für die aktuelle Theoriebildung womöglich auch deshalb, weil sie den Sprachwandel im Bereich der Reflexivität stark unterschätzt. Darauf deutet zumindest ihre überraschende und sprachhistorisch leicht widerlegbare Ansicht hin, nach der es im Bereich der Reflexivität seit dem Ahd. keinen nennenswerten Sprachwandel gegeben habe:
„Da der Zustand des Althochdeutschen – bezogen auf Reflexivität – dem des Neuhochdeutschen sehr ähnlich ist, wurde die weitere Entwicklung vom ca. 8. Jahrhundert n. Chr. bis ins 21. Jahrhundert nicht weiter dargestellt.“ (S. 359)
Kommen wir aber auf die Grundidee der Arbeit zurück: Wie spiegelt sie sich im Aufbau wider und wie wird sie umgesetzt?
Die Monographie besteht aus fünf Kapiteln (und einem Apparat mit drei Anhängen): Das Einleitungskapitel („1. Reflexivität als Untersuchungsgegenstand“) und das Schlusskapitel („5. Fazit und Ausblick“) umrahmen die drei zentralen Kapitel: Kap. 2 „Die Beschreibung von Reflexivität aus diachroner Perspektive: Das Deutsche als indogermanische Sprache“, Kap. 3 „Die Beschreibung und Klassifikation von Reflexivität in der germanistischen Linguistik“ und Kap. 4 „Die korpusgestützte Analyse von Reflexivität“, in dem auch das Analysekorpus der Arbeit, das sog. Reflexivkorpus, begründet wird. Dieses umfasst 1131 reflexive Syntagmen, die insgesamt 23 Titelgeschichten der Jahrgänge 2011 und 2012 des Magazins DER SPIEGEL entstammen (S. 140f.).[1]
Die Umsetzung der Grundidee der Arbeit soll durch die Abfolge der zentralen Kapitel abgebildet werden:
Kap. 2 behandelt die historischen Systeme verbaler Kategorisierungen. Im Zentrum steht dabei das Idg., darüber hinaus wird auf das Got. und das Ahd. eingegangen. In Kap. 3 stehen sechs gegenwartsbezogene Modelle im Mittelpunkt, denen je ein eigenes Unterkapitel gewidmet ist: „Duden-Grammatik (2005)“, „Funktionale Grammatik: Vilmos Ágel (1997)“[2], „Funktionale Grammatik: Klaus Welke (20051)“[3], „Generative Grammatik: Wolfgang Sternefeld (2005)“[4], „Kategorialgrammatik: Grammatik des Instituts für deutsche Sprache (1997)“ und „Konstruktionsgrammatik: Klaus Welke (2011)“. Kap. 4 enthält alles Weitere: Hypothesenbildung, Etablierung des Korpus, Begründung der Annotationskategorien, Überprüfung der Hypothesen, Ergebnisse.
Was die makrostrukturelle Umsetzung der Grundidee der Arbeit anbelangt, stellt sich die Frage, warum Kap. 4, das knapp zwei Drittel des Gesamtumfangs der Monographie ausmacht, nicht (mindestens) zweigeteilt wurde: 1. Korpus und Annotationskategorien und 2. Überprüfung der Hypothesen und Ergebnisse. Die Hypothesenbildung hätte jeweils am Ende der Kap. 2 und 3 erfolgen können. Auf jeden Fall hätte die Überfrachtung von Kap. 4 vermieden und dadurch die Transparenz der Arbeit erhöht werden können.
Was die mikrostrukturelle Umsetzung der Grundidee der Arbeit anbelangt, sind dagegen Kap. 2 und 3 problematischer:
Ad Kap. 2: Aus dem diachronen Kapitel werden drei Hypothesen abgeleitet (S. 131): H1 („Reflexivität ist eine diathetische Kategorie mit dem Merkmal [+fientiv]“), H2 („Reflexivität ist eine diathetische Kategorie mit dem Merkmal [+inaktiv]“) und H3 („Reflexivität bewirkt eine Rückbeziehung des Geschehens auf das Subjekt“). H1 geht auf Eva Tichys knappes Einführungsbuch für Studierende (Tichy 2009) zurück, H2 auf die Arbeiten von Michail Kotin zum got. und ahd. Verbalsystem (Kotin 1998 und 2012) und H3 im Grunde auf eine einzige Stelle in Michael Meier-Brüggers indogermanistischer Monographie:[5]
„Das Medium hat ursprünglich reflexive Bedeutung, die auch die Funktion des Passivs mit einschließt. Das Medium kommt vor, wenn das Verbalgeschehen direkt oder indirekt auf das Subjekt zurückwirkt oder nicht über das Subjekt hinauswirkt.“ (Meier-Brügger 2010: 396)
Die Hypothesenbildung spiegelt sich in der Mikrostruktur von Kap. 2 nur partiell wider: Das Idg. nimmt zwar viel Raum ein, aber für H1 und H3 hätte auch viel weniger gereicht. Für H3 hätte sogar das obige Zitat gereicht. Andere Autorinnen und Autoren, denen ebenfalls viel Raum und mitunter sogar, wie Richard Schrodt und Elisabeth Leiss, eigene Unterkapitel gewidmet werden, spielen dagegen bei der Hypothesenbildung keine Rolle. Insgesamt ist es jedoch inhaltlich angemessen, dass im diachronen Kapitel chronologisch und nicht nach Theorien vorgegangen wird.
Ad Kap. 3: Aus dem Theoriekapitel werden insgesamt neun Hypothesen abgeleitet (S. 131f.):
Bei H4 bis H9 handelt es sich um Hypothesen, die aus einzelnen Arbeiten extrahiert wurden (in Klammern die jeweiligen Arbeiten): H4 („Reflexivität ist in ein spezielles Ereigniskontinuum eingebettet, das medial-reflexive Ereigniskontinuum“ (Kemmer 1993)), H5 („Reflexivität (und Medialität) ist semantisch ±transitiv“ (Ágel 1997)), H6 („Reflexivierung bewirkt eine Vorgangsbedeutung“ (Welke 2005)), H7 („Das Reflexivum ist immer lokal gebunden, d. h. sein Antezedens befindet sich innerhalb der kommunikativen Minimaleinheit“ (Sternefeld 2008)), H8 („Reflexivität bewirkt eine Rollenfusion. Die einzelnen Fusionstypen können beschrieben und klar voneinander abgegrenzt werden.“ (IdS-Grammatik 1997)), H9 („Reflexivität bewirkt eine Rollenabsorption. Die Absorptionstypen können beschrieben und klar voneinander abgegrenzt werden.“ (IdS‑Grammatik 1997)).
Die Hypothesen H10 bis H12 beziehen sich auf das topologische Satzmodell, vor allem auf Wöllstein 2010 und die IdS-Grammatik 1997, werden aber nicht aus einzelnen Arbeiten extrahiert. Sie werden später (S. 283) zu einer Hypothese zusammengefasst („Hypothesen 10–12: Die Position des Reflexivums ist von der Position einer anderen Konstituente abhängig.“). Was die restlichen zwei Hypothesen (S. 132f.) anbelangt: H13 („Der Konstruktionstyp (Dublettenkonstruktion, Variantenkonstruktion, Autonomiekonstruktion) entscheidet über die Interpretation des reflexiven Syntagmas.“) ist eine (sehr sinnvolle) corpus-driven Hypothese, während H14 („Das Reflexivum ist ein syntaktischer Marker. Die Funktion kann klar beschrieben werden, ist von anderen Kategorien/Kategorisierungen abgrenzbar und lässt sich im Sprachsystem verorten.“) „als Synthese der anderen 13 Hypothesen zu werten ist“ (S. 133).
Wie man dem Vergleich der Gliederung in Unterkapitel mit der Hypothesenbildung entnehmen kann, gibt es eine Diskrepanz zwischen der Mikrostruktur von Kap. 3 und der Hypothesenbildung: Kemmer 1993 steht für eine Hypothese, taucht aber als Unterkapitel nicht auf. Dagegen stellen Duden 2005 und Welke 2011 eigene Unterkapitel dar, stehen aber bei keiner der Hypothesen Pate. Dies ist auch nicht verwunderlich. Denn Duden 2005 ist ein Referenzwerk und tritt nicht mit eigenem theoretischen Anspruch auf. Was Klaus Welke anbelangt: Er hat keine zwei Reflexivitätsmodelle beschrieben. In Welke 2011 spielt Reflexivität kaum eine Rolle. Die Aussagen, die sich hier auf Medialisierung und Vorgang(sträger) beziehen, basieren auf Welke 2005. Entsprechend geht es in dem Unterkapitel 3.6 („Konstruktionsgrammatik: Klaus Welke (2011))“ gar nicht um Welke 2011, sondern um die Konstruktionsgrammatik.
Wir sind nun, über den inhaltlich relevanten Umweg des Aufbaus, mitten im eigentlichen Inhalt angekommen. Da der große Stoff- und Facettenreichtum der Arbeit von Karen Lehmann eine detaillierte und der trotz Kritik beeindruckenden Leistung der Autorin angemessene Würdigung nahezu unmöglich macht, soll sich die inhaltliche Besprechung an zwei Fragen (= F) orientieren:
F1: Sind die Annotationskategorien der Arbeit tatsächlich „theorieneutral bzw. theorieoffen“ (S. 151)? Kann ein Annotationswerkzeug überhaupt theorieneutral/-offen sein?
F2: Gibt es mehr oder weniger implizite Vorannahmen, die in die Hypothesenbildung einfließen und diese – und somit auch die Ergebnisse – mit beeinflussen?
Die Antworten auf diese Fragen sollen dem Leser helfen, die Ergebnisse der Arbeit besser einzuordnen.
Ad F1: Zu Recht wird in der Arbeit den Annotationskategorien viel Raum gewidmet (Kap. „4.4 Das Annotationswerkzeug: Modellierung syntaktischer Beschreibungsmittel“). Angesichts der Bandbreite der theoretischen Zugänge, die zur Hypothesenbildung geführt haben, scheint dabei auch einleuchtend, wenn die Autorin betont: „Die Kategorienbildung darf das Untersuchungsergebnis nicht bereits vorwegnehmen.“ (S. 147). Doch genau das tut sie einerseits bei der funktionalen, andererseits bei der semantischen Analyse der Konstituenten (S. 178ff. und 199ff.).
Das funktionale Beschreibungsinventar der Arbeit wird unterteilt in „syntaktische Funktion“, „syntaktische Bedeutung“ und „Strukturfunktion“.[6] Syntaktische Funktionen sind laut Autorin „agentiv“, „fientiv“, „stativ“, „kohärenzstiftend“ und „begünstigt“ (S. 197), syntaktische Bedeutungen „Temporativ“, „Lokativ“, „Instrument“, „Eigenschaft“ und „Kausativ“ (S. 188). Beispiel:
[Charlotte]agentivschneidet [das Brot]kohärenzstiftend [mit dem Messer]Instrument.[7]
Syntaktische Funktionen erinnern dabei an (mögliche) semantische Rollen von Komplementen, syntaktische Bedeutungen an (mögliche) semantische Klassen von Supplementen. Doch die valenztheoretische Interpretation der „Mitspieler des Verbalgeschehens“ wird „ausdrücklich“ zurückgewiesen (S. 190). Worum geht es dann?
Das ist nicht ganz klar. Klar ist, dass es sich bei den syntaktischen Funktionen nicht um ,reine‘ semantische Rollen handelt, sondern sie werden immer satzgliedbezogen interpretiert: „agentiv“, „fientiv“ und „stativ“ subjektbezogen, „kohärenzstiftend“ bezogen auf das Direkte Objekt und „begünstigt“ bezogen auf das Indirekte Objekt. Die Funktion „kohärenzstiftend“, in Anlehnung an Klaas Willems’ Kohärenzbegriff (Willems 1997: 196ff.) eingeführt, scheint der gemeinsame Nenner für Affiziertes und Effiziertes Objekt zu sein.[8]
Die wichtigsten syntaktischen Funktionen sind dabei „agentiv“, „fientiv“ und „stativ“, die offensichtlich direkt an die drei gleichnamigen indogermanistischen „Verhaltensarten“ – „Tätigkeit (agentive Funktion)“, „Zustandsänderung (= Vorgang; fientive Funktion)“ und „Zustand (statische Funktion)“ (Tichy 2009: 88, Fettmarkierung im Original) – anknüpfen. Wie man sieht, versteht Tichy allerdings unter Verhaltensarten eher Aspektklassen (im Sinne von Vendler 1957) oder verbale Bedeutungsklassen (im Sinne von Welke 2005: 164ff.) und nicht, wie die Autorin, subjektspezifische semantische Rollen. Beispielsweise beschreibt Lehmann ,fientiv‘ als „Das Subjekt verändert sein Erscheinungsbild.“ (S. 197) und exemplifiziert es an beiden Subjekttypen des labilen Verbs schmelzen:
[Das Eis]fientivschmilzt und [Das Eis]fientivwird geschmolzen.
Dabei ist hier die Veränderung des Erscheinungsbildes des Subjekts nur die Folge der jeweiligen Art der Vorgangsrealisierung: Intransitives schmelzen drückt einen endoaktiven Vorgang aus, d. h. impliziert keinen Vorgangsauslöser (*Das Eis schmilzt von der Sonne), während transitives schmelzen einen exoaktiven Vorgang ausdrückt, d. h. einen Vorgangsauslöser impliziert (Das Eis wird von der Sonne geschmolzen). Aus den unterschiedlichen Vorgangsarten folgt dann die unterschiedliche Interpretation des Subjekts (mehr dazu s. Haspelmath 1993, Ágel 2007 und GTA 2017: 276).[9]
Bei Reflexivierung werden zwei syntaktische Funktionen im Subjekt fusioniert (S. 196f.). Zwei Beispiele:
[Charlotte]agentivschneidet [das Brot]kohärenzstiftend > [Charlotte]agentiv-kohärenzstiftendschneidet sich; [Jorinde]agentivkauft [ihm]begünstigt [Eis]kohärenzstiftend > [Jorinde]agentiv-begünstigtkauft sich [Eis]kohärenzstiftend.
An dieser Stelle muss der Bericht über den ungewöhnlichen, aber durchaus inspirierenden Ansatz zu den syntaktischen Funktionen abgebrochen werden. Festzuhalten bleibt dabei, dass diese Annotationskategorien weder „theorieneutral bzw. theorieoffen“ sind, noch lassen sich die drei zentralen syntaktischen Funktionen direkt auf die Verhaltensarten der Indogermanistik zurückführen.
Was die „semantische Analyse der Kernkonstituenten“ (S. 199ff.) anbelangt, soll hier nur auf einen (zentralen) Aspekt eingegangen werden, nämlich auf die Unterteilung der Verbtypen des reflexiv-medialen Feldes in fünf Bedeutungstypen (S. 204): „kognitives Ereignis“, „körperliches Ereignis“, „Äußerungsereignis“, „Ereignis der Sinneswahrnehmung“ und „Ereignis, das dem medial-reflexiven Ereignisraum nicht zugeordnet werden kann“ (= „sonstige Ereignisse“, S. 202). Unter dem letzten Typ subsumiert die Autorin Sätze wie z. B. Er wäscht seine Hände und Er baut sich ein Haus, die ihr zufolge im Sinne von Kemmer 1993 den anderen vier Bedeutungstypen nicht zugeordnet werden könnten. Daraus folgt implizit, dass sie die ersten vier Typen aus Kemmer 1993 abgeleitet haben will.
Auch hier gilt dasselbe wie bei den syntaktischen Funktionen: Einerseits ist die Klassifikation der Bedeutungstypen nicht „theorieneutral bzw. theorieoffen“. Andererseits entspricht sie weder ganz der Klassifikation von Kemmer noch bildet sie ganz Kemmers Intention ab. Denn in Kemmer 1993 geht es nur um die Unterteilung des medialen kognitiven Ereignisraumes (zu dem übrigens auch waschen gehört). Dass bauen reflexiv verwendet werden kann, würde Kemmer gewiss nicht in Frage stellen, sodass es unklar bleibt, welche Sorten von sich-Verwendungen dem medial-reflexiven Ereignisraum (nach Kemmer) nicht zugeordnet werden könnten.[10]
Antwort auf F1: Der Annotationsapparat ist (verständlicherweise) stark theorieabhängig, und weder der Leser noch die Autorin sollten sich der Illusion hingeben, dass die Kategorienbildung das Untersuchungsergebnis – wenigstens partiell – nicht bereits vorwegnimmt. Das tut sie, wie man es kurz an H4 („Reflexivität ist in ein spezielles Ereigniskontinuum eingebettet, das medial-reflexive Ereigniskontinuum“ (Kemmer 1993)) und H5 („Reflexivität (und Medialität) ist semantisch ±transitiv“ (Ágel 1997)) zeigen kann:
Von den 1131 reflexiven Syntagmen werden 964 Belege einem der vier reflexiv-medialen Bedeutungstypen und 167 dem nicht reflexiv-medialen Bedeutungstyp zugeordnet (S. 225). Per kategorialer Zuordnung steht also fest, dass H4 auf ca. 85 % der Fälle zutrifft, aber eben auf knapp 15 % nicht. Trotzdem sind die Analysen der Autorin zu H4 relevant, da sie zeigen kann, dass der reflexiv-mediale Ereignisraum nicht auf reflexive Syntagmen beschränkt ist.
H5 stellt ein Beispiel dafür dar, dass die eigene Kategorienbildung eine(n) gar zu einer Hypothese verleiten kann, die sich aus der zitierten Arbeit, aus der sie abgeleitet werden will, nicht ableiten lässt – und dies, obwohl diese Arbeit sehr gewissenhaft rezipiert wird. Die Autorin lehnt H5 ab, weil
„das Reflexivum nur in einem sehr kleinen Anteil der Belege im Reflexivkorpus eine semantische Indifferenz hinsichtlich Transitivität und Intransitivität zulässt, d. h., dass nur ein sehr kleiner Anteil der Belege das Merkmal [±transitiv] hat.“ (S. 245)
In Ágel 1997 geht es weder explizit noch implizit um semantische Indifferenz hinsichtlich (In-)Transitivität, sondern darum, dass sich reflexive sich-Verwendungen syntaktisch an prototypisch transitiven Sätzen, mediale sich-Verwendungen dagegen an prototypisch intransitiven Sätzen orientieren. Als syntaktischer Beleg dafür wird das Medialpassiv (als eine Sorte unpersönliches Passiv) angeführt.[11] Eine Hypothese, die sich aus Ágel 1997 ableiten und empirisch testen ließe, könnte folglich lauten: „Reflexive sich-Verwendungen sind syntaktisch transitiv und bilden deshalb kein (unpersönliches) Reflexivpassiv, mediale sich-Verwendungen sind syntaktisch intransitiv und bilden deshalb ein (unpersönliches) Medialpassiv“. Für die Überprüfung dieser Hypothese wäre aber das Reflexivkorpus der Autorin nicht geeignet.
Von der Antwort auf F1 führt ein direkter Weg zu F2: Gibt es mehr oder weniger implizite Vorannahmen, die in die Hypothesenbildung einfließen und diese – und somit auch die Ergebnisse – mit beeinflussen?
Antwort auf F2: Ja, es lassen sich drei solcher Vorannahmen rekonstruieren:
Niedrigfrequente/markierte Phänomene spielen bei der Hypothesenbildung keine Rolle.
Hypothesen lassen sich beliebig empirisch überprüfen.
Auch Kategorisierungen, die an historischen Sprachstufen gewonnen werden, lassen sich auf das Nhd. übertragen und empirisch überprüfen.
Die Datengrundlage der Arbeit, das Reflexivkorpus, soll den Sprachgebrauch reflektieren, was dazu führt, „dass stark markierte Konstruktionen aufgrund ihrer niedrigen Frequenz im Sprachgebrauch nicht oder nur selten belegt sind“ (S. 14). Die Autorin nennt als Beispiele „die Medialkonstruktion (z. B. Das Kleid trägt sich gut.) und das Reflexivpassiv (z. B. Hier wird sich jetzt zusammengerissen.)“ (ebd.).
Es mag sein, dass das Reflexivkorpus den Sprachgebrauch reflektiert, aber H4 bis H7 z. B. reflektieren nicht den Sprachgebrauch, sondern theoretische Positionen, die nichts mit Frequenz/Markiertheit zu tun haben. Beispielsweise ergibt sich H7 („Das Reflexivum ist immer lokal gebunden, d. h., sein Antezedens befindet sich innerhalb der kommunikativen Minimaleinheit“ (Sternefeld 2008)) aus Prinzip A der generativen Bindungstheorie (Sternefeld 2008: 264), deren Probleme frequenzunabhängig und theoretisch, durch „erzwungene leere Subjekte“ (Sternefeld 2008: 265ff.), gelöst werden.
H7 ist auch ein Beleg dafür, dass Hypothesen sich nicht beliebig empirisch überprüfen lassen. Denn pro oder contra leere Subjekte kann man nicht mit dem Sprachgebrauch argumentieren.
Es gibt aber auch noch eine andere Sorte von empirischer Nichtüberprüfbarkeit, nämlich den Fall, dass eine Hypothese ein abstrakt-rationales (und allgemein akzeptiertes) Merkmal enthält, das keiner Operationalisierung zugänglich ist: Das gilt für H3 („Reflexivität bewirkt eine Rückbeziehung des Geschehens auf das Subjekt“). Hier führt die ,empirische Überprüfung‘ zu der Feststellung, dass Reflexivierung
„in allen Belegen eine starke Involviertheit des Subjekts am Verbalgeschehen und somit auch eine Rückbezüglichkeit des Verbalgeschehens auf das Subjekt (bewirkt).“ (S. 231, Kursivierung im Original)
Was nun die dritte (implizite) Vorannahme anbelangt, deutet das ganze Hypothesenbildungsverfahren darauf hin, dass die Autorin der Auffassung ist, dass sich auch Kategorisierungen, die an historischen Sprachstufen gewonnen werden, auf das Nhd. übertragen und an einem gegenwartsdeutschen Reflexivkorpus empirisch überprüfen lassen. Konkret lässt sich hier z. B. H1 („Reflexivität ist eine diathetische Kategorie mit dem Merkmal [+fientiv]“) anführen:
Eva Tichy, die bei der Hypothese Pate steht, stellt auf knapp zwei Seiten das (rekonstruierbare) idg. Zusammenspiel von (grammatischer) Grunddiathese (Aktiv oder Medium) und (lexikalischer) Verhaltensart vor (Tichy 2009: 88f.). Dabei geht es ihr um die Typen von „Funktionsverschiebungen“, d. h. um semantische Transpositionstypen beim Wechsel der jeweiligen Grunddiathese. Hier besteht nach Tichy (2009: 88) „eine Affinität zwischen aktiver Grunddiathese und Tätigkeit (agentives Aktiv) bzw. medialer Diathese und Zustandsänderung (fientives Medium)“.
Das System des Gegenwartsdeutschen beschreibt man aber gewöhnlich mit Hilfe der Verbalgenera ,Aktiv‘ und ,Passiv(e)‘ und einer Aspekt-/Bedeutungsklassifikation, die sich nicht unbedingt mit Tichys Verhaltensarten decken. Offensichtlich gilt also, was oben bereits erwähnt wurde: Die Autorin geht davon aus, dass sich das idg. System in irgendeiner Form im nhd. System widerspiegelt und/oder dass der Sprachwandel im reflexiv-medialen Ereignisraum historisch unerheblich war.
Ich komme nun zum (kurzen) Fazit: Karen Lehmanns Arbeit, die Überarbeitung ihrer Dissertation, ist (sehr) anregend, (sehr) komplex, teilweise widersprüchlich, aber auf jeden Fall (sehr) lesenswert und beeindruckend. Man kann Wochen mit dem Buch verbringen, über Details nachdenken, über kategoriale und terminologische Sprünge grübeln oder verzweifeln, über kluge Lösungen in Euphorie verfallen, aber auch über unverständliche Stellen rätseln, obwohl die Autorin im Vorwort beteuert: „Die vorgenommenen Veränderungen dienten v. a. dem Ziel, die Lesbarkeit zu erhöhen und die Ergebnisse der Korpusanalyse verständlicher und pointierter zu präsentieren.“
Trotzdem: Respekt!
Literatur
Ágel, Vilmos. 1997. Reflexiv-Passiv, das (im Deutschen) keines ist. Überlegungen zu Reflexivität, Medialität, Passiv und Subjekt. In: Christa Dürscheid, Karl Heinz Ramers & Monika Schwarz (Hg.): Sprache im Fokus. Festschrift für Heinz Vater zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 147–187.Search in Google Scholar
Ágel, Vilmos. 2007. Die Commonsense-Perspektivierung von labilen Verben im Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie rezessiv-kausativer Alternationen. In: Hartmut E. H. Lenk & Maik Walter (Hg.): Wahlverwandtschaften. Valenzen – Verben – Varietäten. Festschrift für Klaus Welke zum 70. Geburtstag. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 65–88.Search in Google Scholar
Duden 2005 = Duden. Die Grammatik (Der Duden 4). 7. Aufl. Hg. von der Dudenredaktion. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag.Search in Google Scholar
GTA 2017 = Ágel, Vilmos. 2017. Grammatische Textanalyse. Textglieder, Satzglieder, Wortgruppenglieder. Berlin, Boston: De Gruyter.Search in Google Scholar
Haspelmath, Martin. 1993. More on the typology of inchoative/causative alternations. In: Bernard Comrie & Maria Polinsky (Hg.): Causatives and transitivity. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins, 87–120.10.1075/slcs.23.05hasSearch in Google Scholar
Hopper, Paul J. & Sandra A. Thompson. 1980. Transitivity in grammar and discourse. In: Language 56, 251–299.10.1353/lan.1980.0017Search in Google Scholar
IdS-Grammatik 1997 = Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann & Bruno Strecker. 1997. Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin, Boston: De GruyterSearch in Google Scholar
Kemmer, Suzanne. 1993. The Middle Voice. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins.10.1075/tsl.23Search in Google Scholar
Kotin, Michail. 1998. Die Herausbildung der grammatischen Kategorie des Genus verbi im Deutschen. Eine historische Studie zu den Vorstufen und zur Entstehung des deutschen Passiv-Paradigmas. Hamburg: Buske. Search in Google Scholar
Kotin, Michail. 2012. Gotisch: Im (diachronischen und typologischen) Vergleich. Heidelberg: Winter.Search in Google Scholar
Meier-Brügger, Michael. 2010. Indogermanische Sprachwissenschaft. 9. Aufl. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110251449Search in Google Scholar
Sternefeld, Wolfgang. 2008. Syntax. Eine morphologisch motivierte generative Beschreibung des Deutschen. Bd. 1. 3. Aufl. Tübingen: Stauffenburg.Search in Google Scholar
Tichy, Eva. 2009. Indogermanistisches Grundwissen für Studierende sprachwissenschaftlicher Disziplinen. 3. Aufl. Bremen: Hempen.Search in Google Scholar
Vendler, Zeno. 1957. Verbs and Times. In: The Philosophical Review 66, 143–160.10.7591/9781501743726-005Search in Google Scholar
Welke, Klaus. 2005. Deutsche Syntax funktional. Perspektiviertheit syntaktischer Strukturen. 2. Aufl. Tübingen: Stauffenburg.Search in Google Scholar
Welke, Klaus. 2011. Valenzgrammatik des Deutschen. Eine Einführung. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110254198Search in Google Scholar
Willems, Klaas. 1997. Kasus, grammatische Bedeutung und kognitive Linguistik. Ein Beitrag zur allgemeinen Sprachwissenschaft. Tübingen: Narr.Search in Google Scholar
Wöllstein, Angelika. 2010. Topologisches Satzmodell. Heidelberg: Winter.Search in Google Scholar
© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 Public License.