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Konstanze Marx. 2017. Diskursphänomen Cybermobbing. Ein internetlinguistischer Zugang zu [digitaler] Gewalt. (Diskursmuster – Discourse Patterns 17) Berlin, Boston: De Gruyter. XII, 387 S.
In einem Essay über „Die Vereindeutigung der Welt“ beklagt Thomas Bauer (2018, S. 67–69), dass Authentizität, „das Gegenteil von Kultur“, immer mehr als höchstes Ideal geglaubt werde. Ein frühes Opfer dieser Entwicklung sei die Höflichkeit, am extremsten im Internet, wo „die Verwahrlosung der Kommunikation weit vorangeschritten“ sei. Treffen derartige Diagnosen zu, oder beruhen sie auf Vorurteilen? Das näher zu prüfen ist Aufgabe der Wissenschaft. Konstanze Marx stellt sich in ihrer Habilitationsschrift dieser Aufgabe; und sie zeigt, wie schwer sie zu lösen ist.
Wie menschliche Kommunikation überhaupt tritt auch Kommunikation im Internet in zahllosen und unüberschaubar vielfältigen Ausprägungen auf. Marx untersucht eine der zugleich gewalttätigsten wie dem äußeren Anschein nach mitunter subtilsten Formen, nämlich Cybermobbing. Das ist die gemeinschaftliche Ausübung verbaler Gewalt über das Internet. Im Gegensatz zu herkömmlichem Mobbing bietet es den Urhebern die Möglichkeit, eine große Öffentlichkeit zu erreichen und dabei vollständig anonym zu bleiben, so dass sich Angegriffene noch weniger wehren können. Andererseits beschränken sich die unmittelbaren Konsequenzen zunächst einmal auf mehr oder minder erniedrigende Rufschädigung mit entsprechenden, oft ganz erheblichen sozialen und psychischen Folgen, jedoch ohne zusätzlichen materiellen Schaden (außer bei kommerziellem Missbrauch virtueller Identitäten) wie etwa durch Verlust des Arbeitsplatzes beim Bossing. Folglich eignet sich Cybermobbing besonders gut für lästeraffine Kinder und Jugendliche in der Phase ihrer Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung.
Das heißt allerdings mitnichten, dass es hier um harmlose Konkurrenzspielchen ginge. Schon auf der ersten Seite weist Marx darauf hin, dass das Verfassen dieser Arbeit für sie „ein zehrender Prozess“ war; und sie warnt ihre Leserinnen und Leser ausdrücklich vor emotional belastender Lektüre (S. V). „Die Texte, die dieser Cybermobbing-Studie zugrunde liegen, übertreffen mehrheitlich jede Negativerwartung, sie sind schockierend und menschenverachtend.“ (S. 83) Dabei werden sie oft (vermeintlich?) aus Spaß oder Langeweile verfasst (S. 222, 267). Marx schätzt verbale Online-Gewalt als „ubiquitär“ und „omnipräsent“ ein (S. 63, 327). In einer Verknüpfung korpus-, interaktions- und kognitionslinguistischer Herangehensweisen möchte sie Hintergründe und Erscheinungsformen der Interaktion bei Cybermobbing analysieren.
Im gesamten Buch gelingt ihr eine bewunderungswürdige Balance zwischen emotionaler Anteilnahme und wissenschaftlicher Objektivität. Schon die Korpuserstellung wirft erhebliche sachliche, wissenschaftliche, technische, rechtliche und ethische Probleme auf, die sie auf geradezu vorbildliche Weise diskutiert und für diesen Gegenstand im Rahmen des Möglichen auch weitgehend löst (Kap. 3, S. 63–106). Dass allerdings die gesammelten Texte – wie zwar sorgfältig begründet, aber doch überraschend beiläufig mitgeteilt wird – nicht veröffentlicht werden können (S. 83), stellt jeden empirisch arbeitenden Wissenschaftler vor ein unlösbares Dilemma. Marx bemüht sich, damit so umsichtig und transparent wie möglich umzugehen. In der Folge ist die Arbeit qualitativ orientiert, auch wenn ihr ein Korpus zugrunde liegt, aus dem zahlreiche Beispiele zitiert und planvoll kommentiert werden. Überzeugend begründet sie (S. 59–62), warum Fragebogenstudien, wie sie in der bisherigen Cybermobbing-Forschung üblich waren und die sie im Rahmen ihrer Arbeit auch selbst betreibt, nur von geringem Nutzen sind.
Die Untersuchung ist ebenso klar wie schlüssig aufgebaut. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Sprechende Zwischenüberschriften geben Orientierung (auch für selektive Lektüre); und jedes Kapitel (außer dem ersten und letzten) schließt mit einer Zusammenfassung in fünf Sätzen. Wer will, kann sich also mit diesen 35 Sätzen (auf zusammen zweieinhalb Druckseiten) einen guten, wenngleich trockenen Überblick über das Buch verschaffen – alternativ empfiehlt sich auch ein kompakter Aufsatz zum gleichen Thema (Marx 2018). Doch die gründliche Lektüre des Buches lohnt: Erst dann treten die sachlichen, politischen und pädagogischen Herausforderungen des brisanten Themas, die methodischen Probleme der empirischen Untersuchung, die detaillierten Einsichten in den komplexen Gegenstand, die wissenschaftlichen Ergebnisse und die gesellschaftlichen Implikationen sehr lebendig vor Augen.
Eingangs macht die Verfasserin ihre Leserinnen und Leser zunächst mit dem Gegenstand vertraut, und zwar durch einen ausführlichen Kommentar zu einem ausgewählten Beispiel. Daran anschließend führt sie allgemein ins Thema ein und stellt sieben Leitfragen (zur situativen Rahmung, zu den Themen, zur Umsetzung und Diskursdynamik, zur Gruppenkonstellation, zum kommunikativen Ziel und zu vorbeugenden Maßnahmen) sowie die daraus hervorgehende Gliederung des Buches vor.
Ganz klassisch und souverän werden im zweiten Kapitel Stand und Desiderata der Cybermobbing-Forschung (gerade auch jenseits der Sprachwissenschaft) diskutiert. Das dritte Kapitel beschreibt die Gewinnung der Datengrundlage als produktive Verknüpfung von herkömmlicher Feldforschung (durch Datenspenden, Sensibilisierungsworkshops und Fragebogenerhebungen) und „Feldforschung 2.0“ (S. 86) im Internet. Dieser Weg soll als methodische „Empfehlung für die junge Disziplin Internetlinguistik verstanden werden“ (S. 327).
Leicht könnte man in der so gewonnenen und teils heterogenen Materialmenge (61.261 Beiträge mit zusammen 980.178 Tokens; S. 106) ersticken. Doch im Kern der Untersuchung (also in den Kapiteln 4 bis 8) macht die Verfasserin geschickt die von Deppermann (2015, S. 323 et passim) vorgeschlagenen „vier Bestimmungsstücke des sprachlichen Handelns“ für ihre Herangehensweise fruchtbar, nämlich Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Sozialität und Epistemizität.
Kapitel 4 (Zeitlichkeit: „Das Internet vergisst nicht“) widmet sich der Interaktionsorganisation von Social-Media-Daten mit einem besonderen Schwerpunkt auf Initialmustern in Auftaktsequenzen digitaler Gewalt. Es zeigt sich, dass modifizierende, rekontextualisierende, expandierende und permanent revitalisierende Prozesse mittlerweile bereits „diskurstraditionelle Schemata“ (S. 132) entstehen ließen.
Kapitel 5 (Leiblichkeit: „Alterierende Identität und Multimodalität“) stellt dar, in welcher Weise gerade die Verquickung von Online- und Offline-Räumen elementar für die Funktionsweise von Cybermobbing ist. Das „Spiel mit der eigenen Identität“ und selbst- oder fremdinitiierte „Körperwanderung“ (S. 141) durch die verschiedenen realweltlichen und virtuellen Rahmen zieht für alle Beteiligten erhebliche psychologische Folgen nach sich, die näher erörtert werden. Außerdem werden multimodale Elemente (eindrucksvolle Übersicht auf S. 154–156) diskutiert, und zwar insbesondere als „Leiblichkeitssubstitutionsindikatoren“ (S. 158). Speziell „Bilder im Cybermobbing dienen dem effizienten Leiblichkeitstransfer aus Rahmen 4“ (realweltlicher öffentlicher sozialer Interaktionsraum) oder mittelbar aus Rahmen 2 (realweltlicher höchstpersönlicher Lebensbereich) in Rahmen 1 (Online-Kommunikat am Bildschirm) (S. 158). Unklar bleibt, wieso das nicht auch aus Rahmen 3, dem privaten Umfeld, heraus geschehen kann.
Das mittlere sechste Kapitel beschreibt und analysiert, ebenfalls anhand prägnanter Beispiele, sprachlich-kommunikative Verfahren von Cybermobbing: von Instanziierung über Anklage, Degradierung, Simulation einer Urteilsverkündung bis zu vermeintlicher Handlungs- und Rollen-Reflexion. Dabei geht es darum, „wie Diskursfiguren konkret konstruiert, etabliert und perspektiviert werden und wie damit Verleumdung und Diffamierung einhergehen“ (S. 170). Hier und durchweg in den präsentierten Korpusdaten zeigt sich „ein großes Repertoire an sprachlichen Gestaltungsmitteln (Reime, pejorative Lexik, Vergleiche, rhetorische Fragen, dehumanisierende Metaphern, Personifizierung von Körperteilen)“ (S. 224). Daraus sei aber nicht die Existenz einer Tätersprache abzuleiten.
Kapitel 7 (Sozialität: „macht ihr euch denn keine Sorgen um die Gruppe“) behandelt online-spezifische Konstellationen der Interaktionsteilnehmer. Marx identifiziert vier Diskursrollen, nämlich von Mobbing betroffene Personen, Initiatoren, Verteidiger und Kommentatoren (jeweils auch in der weiblichen Form).
Kapitel 8 (Epistemizität: „Muster digitaler Gewalt und Deutungsversuche“) stellt die Ergebnisse in den Zusammenhang der allgemeinen Aggressions- und Gewaltforschung, deutet Gewalt und Cybermobbing als sicht- und ergründbaren Niederschlag „tradierte[r] transgenerationale[r] Gewaltmuster“ (S. 320) sowie „einer gemeinhin geförderten Atmosphäre mangelnder Kooperation“ (S. 326) bzw. als Reaktion auf „kompetitive Umstände“ (S. 306) in unserer Gesellschaft und erörtert Präventionsmöglichkeiten.
„Ich lese Cybermobbing also nicht als Signal der Ohnmacht, sondern als aktiven Versuch, einen Konflikt offenzulegen und das transgenerational transportierte Relikt der verdrängten Bedürfnisse zu überwinden“ (S. 322).
In einem kurzen Schlusswort (Kap. 9) fasst Marx die wichtigsten Ergebnisse ihrer aspektreichen Untersuchung noch einmal knapp zusammen und hofft, dass das „mit diesem Buch vorgelegte Plädoyer gegen jedwede Gewalt“ vielleicht „einen Weg heraus aus der Hilflosigkeit“ aufzeigen kann, „in der sich Eltern und Lehrkräfte sehen, wenn sie mit den Taten ihrer Kinder konfrontiert werden“ (S. 329).
Nur der Vollständigkeit halber seien einige kleine Mängel genannt. Nicht alle nebenher geäußerten Spekulationen (S. 153) und Hypothesen (S. 160) sind plausibel. Manche Passagen geraten etwas langamig (z. B. auf den ersten 16 Seiten), manche Sätze etwas lang (z. B. der erste auf S. 23). Einige Kommata fehlen (z. B. je zwei auf S. 44, 72, 190, 218, 322). Das Literaturverzeichnis nennt beeindruckende über 900 tatsächlich verarbeitete Titel, einige wenige wurden aber vergessen: Biffar (S. 163), Bourdieu (S. 167 & 230), Liebert (S. 172), Lévi-Strauss (S. 175).
Konstanze Marx hat mit ihrer ebenso lesenswerten wie weithin gut lesbaren Habilitationsschrift eine persönlich engagierte und wissenschaftlich aufwendige, solide, kreative, gedanken- und ergebnisreiche Untersuchung zu einem brisanten und gesellschaftlich hochaktuellen Thema vorgelegt. Darüber hinaus zeigt das Buch in seiner interdisziplinär angelegten Verknüpfung von Detailtreue und umfassender Perspektive, wie seriöse Wissenschaft nicht (nur) Selbstzwecke erfüllt, sondern (auch) der Aufklärung, einem guten Leben und vernünftiger Praxis im Alltag dienen kann.
Literatur
Bauer, Thomas (2018). Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam.Search in Google Scholar
Deppermann, Arnulf (2015). Pragmatik revisited. In: Ludwig M. Eichinger (Hg.): Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 323–352.10.1515/9783110401592.323Search in Google Scholar
Marx, Konstanze (2018). Cybermobbing aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. In: IDS Sprachreport H. 1/2018, S. 1–9.Search in Google Scholar
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