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Alfred Wildfeuer. 2017. Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit und Sprachverlust. Deutschböhmisch-bairische Minderheitensprachen in den USA und Neuseeland (Linguistik – Impulse und Tendenzen 73). Berlin, Boston: De Gruyter. 365 S.
Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt zählen in den von Globalisierung geprägten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zu den zentralen Forschungsdesiderata und -gegenständen beinahe aller Subdisziplinen der Linguistik. Darunter fallen auch solche, die besonders im deutschen Sprachraum traditionell auf die Modellierung eines distinkten Sprachsystems hin ausgerichtet waren, etwa die historisch-strukturalistisch orientierte Dialektologie und die Sprachinselforschung, die sich mit ihr über weite Teile des 20. Jahrhunderts parallel entwickelt hat. Letztere ist zwar per se mit Sprachkontaktsituationen konfrontiert, legte jedoch ihr Erkenntnisinteresse primär auf konservierte sprachliche Phänomene in den jeweiligen Sprachinseldialekten.
Der Herausforderung, historisch-dialektologisch orientierte Sprachinselforschung mit Fragestellungen der modernen Kontaktlinguistik zu verknüpfen und Erstere für Letztere nutzbar zu machen, stellt sich die vorliegende, 2017 erschienene Monographie von Alfred Wildfeuer. Sie ist aus seiner 2013 an der Universität Regensburg angenommenen Habilitationsschrift hervorgegangen und untersucht drei deutschböhmisch-bairische Minderheitensprachen in Übersee, nämlich jene von Puhoi in Neuseeland sowie Ellis County/Kansas und New Ulm/Minnesota in den USA. Zwei zentrale Zielsetzungskomplexe finden Bearbeitung: Einerseits handelt es sich dabei um eine Sprachdokumentation, also eine systemorientiert-dialektologische Beschreibung der deutschbasierten Minderheitensprachen, andererseits um Fragestellungen, die systemlinguistische und soziolinguistische Aspekte und Folgen des Sprachkontakts mit der englischen Mehrheitssprache fokussieren.
Die der Untersuchung zugrundeliegenden Daten wurden vom Autor selbst im Rahmen von Forschungsreisen zwischen 2005 und 2013 erhoben. Dabei kamen sowohl Methoden der Beobachtung und Aufzeichnung freier Gespräche und Erzählungen als auch der direkten Befragung mit Hilfe des Fragebuchs des „Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien“ (Bachmann, Greule, Muzikant & Scheuringer 2014‒2016) zum Einsatz. Insgesamt konnten so Sprachdaten von 15 Gewährspersonen, davon vier aus Puhoi, sieben aus Ellis County/Kansas und vier aus New Ulm/Minnesota, aufgezeichnet werden.
Besonders auf den ersten zwanzig Seiten des Buches irritiert die flache Hierarchie im Aufbau: Sieben knappe Kapitel der höchsten Ordnung werden abgehandelt, die jeweils lediglich zwischen zwei und vier Seiten Umfang aufweisen. Bei den Kapiteln 1 und 2, die der thematischen Einleitung sowie der knappen und übersichtlichen Formulierung der Zielsetzung der Arbeit dienen, verwundert diese Strukturierung weniger als bei den folgenden, theoretisch und methodisch ausgerichteten Kapiteln 3–7. Eine Unterteilung der Publikation in größere Teilkapitel der höchsten Ordnung wäre durchaus ohne inhaltliche Restrukturierung möglich gewesen, lässt sich doch der Hauptteil des Werks in drei große Abschnitte unterteilen, nämlich (A) einen theoretisch, methodisch und historischen (Kapitel 3–8), (B) einen systemlinguistisch-dialektologischen (Kapitel 9–11) sowie (C) einen kontaktlinguistisch ausgerichteten Abschnitt (Kapitel 12–15).
Abschnitt A verortet die Arbeit theoretisch und methodisch in der Forschungslandschaft sowie den speziellen Untersuchungsraum historisch-geographisch. Einleitend wird in Kapitel 3 (S. 7–9) der Terminus ‚Sprachinsel‘ kritisch diskutiert. Er wird auf Grund der durch ihn implizierten Abgeschlossenheit zumindest in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand abgelehnt und durch den Begriff der ‚Sprachsiedlung‘ ersetzt. Ähnlich wie Kapitel 3 beginnen auch die folgenden Kapitel 4–6 theoretisch-allgemein, um sich dann rasch dem spezifischen Interesse der Untersuchung zuzuwenden. Dabei werden an vielen Stellen Informationen vorweggenommen, die in späteren Kapiteln elaborierter wieder aufgegriffen werden oder auch Schlussfolgerungen späterer Kapitel darstellen. So werden z. B. bereits in Kapitel 6 (zur Herkunftsbestimmung) Informationen zum Herkunftsgebiet der SiedlerInnen erwähnt, die in Kapitel 8 wiederaufgenommen werden. Die Untersuchungsgebiete werden in Kapitel 5 als „zweifelsfrei“ „am Aussterben befindliche Siedlungen“ (S. 16) bezeichnet – eine Aussage, die theoriebasiert erst in Kapitel 15 herausgearbeitet wird. Eine derartige Verschränkung der theoretisch und methodisch ausgerichteten Kapitel ist natürlich nicht vermeidbar und bringt auf Grund der wiederholten Rückkoppelung abstrakter Konzepte an den konkreten Untersuchungsgegenstand auch Vorteile mit sich. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Arbeit ihre zentralen Erkenntnisse selbst vorwegnimmt und in der Folge in ihrer Innovationskraft nicht entsprechend wahrgenommen wird. Abschnitt A wird durch die Beschreibung der Erhebungsmethoden und Gewährspersonen (Kapitel 7, S. 21–24) und einen historischen Abriss zur Herkunft der deutschböhmischen SiedlerInnen sowie zur Besiedlung der Kolonien in Übersee, den USA und Neuseeland (Kapitel 8, S. 25–48) abgeschlossen.
Die beiden ergebnisorientierten Abschnitte B und C bearbeiten jeweils einen der thematischen Zielsetzungskomplexe, nämlich B die Sprachdokumentation und C die kontaktlinguistischen Fragestellungen. Ersterer Komplex nimmt insofern den größten Raum ein, als ihm ‒ unter Miteinbezug des Supplements ‒ 211 von insgesamt 365 Seiten der Publikation gewidmet sind. Kapitel 9 (S. 49‒57) beschreibt dazu zunächst kurz die Methodik, bevor dann in den darauffolgenden Kapiteln 10 (S. 58‒73) und 11 (S. 74‒130) lautliche bzw. morphologische, syntaktische und lexikalische Aspekte behandelt werden. Wildfeuer geht in diesen Untersuchungen phänomenorientiert vor und untersucht sein Korpus primär im Hinblick auf Erscheinungen, die als den bairischen Dialektraum konstituierend beschrieben werden. Als Referenzliteratur werden im Bereich der Phonologie z. B. Kollmer (1985), Kranzmayer (1956), Wiesinger (1983) und Zehetner (1985) herangezogen. Der dialektologischen Forschungstradition entsprechend fungieren dabei das ([re-]konstruierte) mittelhochdeutsche Lautsystem als Referenzsystem für den Vokalismus und das spätalthochdeutsche für den Konsonantismus.
Übergeordnetes Ziel der Sprachdokumentation ist abweichend von dieser Forschungstradition allerdings nicht die Konstruktion eines abstrakten Sprachsystems der beschriebenen deutsch-basierten Minderheitensprachen. Vielmehr wird die intraindividuelle – Wildfeuers Terminologie entsprechend ‚idiolektale‘ – und an manchen Stellen auch interindividuelle Variation in den Vordergrund gestellt, um basierend auf der Dokumentation Aussagen zu sprachkontaktinduzierten Sprachwandelerscheinungen auf diversen Ebenen treffen zu können. Trotzdem bleibt Wildfeuer der Vorstellung distinkter Varietäten und damit einhergehend der Idee als distinkt beschreibbarer Sprachsysteme verhaftet. Dies äußert sich in Abschnitt B insbesondere in den zusammenfassenden Kapiteln, in denen der Autor basierend auf seinen Untersuchungen etwa zu dem Schluss kommt, dass die untersuchten Varietäten „in ihren morphologischen und syntaktischen Regelsystemen intakt“ seien – und das „trotz ihrer inzwischen sehr kleinen Anzahl an Sprecherinnen und Sprechern“ (S. 109).
Das Supplement (S. 232‒361) ist zur Gänze der Phonetik und Phonologie der Minderheitensprachen gewidmet und gestaltet Abschnitt B durch die Auslagerung sämtlicher idiolektaler phonetischer Realisierungen historischer Bezugslaute kompakter. Es enthält umfassende Beleglisten, wobei die Belege mit Hilfe der für den „Atlas der deutschen Mundarten in Tschechien“ adaptierten Form der Theutonista transkribiert werden. Alle Einzelbelege sind den einzelnen Gewährspersonen zuordenbar und stehen in Ermangelung eines Korpus für (deutschböhmische) Minderheitensprachen auch als Material für künftige, insbesondere kontrastive Untersuchungen bereit. Quantitativ-korpuslinguistische Auswertungen, die tatsächlich die inter- und intraindividuelle Variation beschreibbar machen, finden sich in der Publikation nicht, obgleich derartige (Beispiel-)Analysen die oben beschriebene Orientierung unterstützen und noch präzisiere Aussagen ermöglichen hätten können.
In Abschnitt C werden anhand der in Abschnitt B systemlinguistisch beschriebenen Sprachdaten Fragen der Mehrsprachigkeits- und Sprachkontaktforschung behandelt. Diesen Abschnitt eröffnet mit Kapitel 12 (S. 131–138) eine knappe theoretische Auseinandersetzung mit dem Terminus des ‚Bi- und Multilingualismus‘, bevor in den folgenden drei Kapiteln je eine Fragestellung fokussiert wird. Dabei wird der erneut beispielbasierten Datenanalyse je eine knappe theoretisch-methodische Ausführung vorangestellt, wodurch dieser Teil der Arbeit auch kapitelweise lesbar wird. Kapitel 13 (S. 139–191) setzt sich mit Sprachkontaktphänomenen (Transferenzen und Code-Switching) auseinander. Terminologisch richtet sich dieser Teil am Überblicksartikel von Lüdi (2003) aus und fasst dementsprechend beide Phänomentypen unter dem Begriff der ‚transkodischen Markierung‘ zusammen. Nicht rezipiert werden hingegen Ansätze, wie sie im jüngeren Handbuch von Hickey (2010) vertreten sind, wodurch etwa bei Transferenzen weder terminologisch und noch konsequent auf allen linguistischen Ebenen zwischen matter und pattern replication (vgl. Matras 2010) unterschieden wird.
Wildfeuer identifiziert in den Sprachdaten all seiner InformantInnen transkodische Markierungen, wobei besonders seine Klassifikation der meisten Code-Switching-Inzidenzen als ‚kompetenzgesteuert‘ hervorzuheben ist. Diese Schlussfolgerung verweist auf Kapitel 15 (S. 198–213), das sich mit Sprachverlust in den deutschböhmischen Siedlungen beschäftigt. Das Phänomen Code-Switching tritt, wenn man verschiedene Phasen im „Lebenslauf“ solcher Siedlungen ansetzt (vgl. Mattheier 2003), vor allem „an der Schnittstelle Assimilationsphase-Sprachverlust“ auf (S. 207–208). Im Zuge dieser Einordnung unterscheidet Wildfeuer zwischen drei Ebenen. Die systemlinguistische und soziolinguistische Ebene trennt er terminologisch eindeutig, zumal sich Sprachverlust auf den „Verlust der autochthonen Sprache einer Sprechergemeinschaft“ bezieht, wohingegen Sprachtod das „globale Verschwinden einer Einzelsprache“ bezeichnet. Daraus folgt im vertretenen strukturalistisch-dialektologischen Paradigma, dass der Sprachverlust der deutschböhmischen Gemeinschaften in Übersee nicht automatisch zum Sprachtod führt, da die entsprechenden Varietäten in Abschnitt B eindeutig als dem Bairischen zugehörig identifiziert werden konnten (S. 202–203). Gleichzeitig interagieren diese beiden Ebenen vermittels einer dritten stark miteinander, nämlich der individuellen Sprachverwendung (Sprachverschiebung) und Sprachkompetenz (Sprachverfall). In Bezug auf Letztere ordnet der Autor seine Gewährspersonen auf einem Kontinuum (von hoher Sprachkompetenz bis zum Sprachverlust) an, wobei er in jeder der Siedlungen sowohl „noch kompetente Sprecher“ als auch sogenannte „Halbsprecher“ und „rememberers“ antreffen konnte (S. 191).
Abschließend sei noch Kapitel 14 (S. 192–197) hervorgehoben, das sich mit Aspekten des mentalen Lexikons bilingualer SprecherInnen auseinandersetzt. In diesem Kapitel analysiert Wildfeuer Sprachkontaktphänomene aus seinem Korpus, um herauszuarbeiten, dass das mentale Lexikon von kompetenten Bilingualen ‚verbunden‘ ist, also eine gemeinsame Konzeptquelle aufweist, was unter den soziolinguistischen Bedingungen des Sprachwechsels Kompensationsstrategien vereinfacht. Je größere Lücken jedoch das deutschböhmische Subnetz im mentalen Lexikon aufweist, desto eher ist Letzteres als „Vergesserlexikon“ zu beschreiben.
Besonders dieses Kapitel zeigt gut, dass sich Wildfeuer der Herausforderung, strukturalistisch-dialektologische Sprachinselforschung auch für aktuelle Fragen der Kontaktlinguistik und Mehrsprachigkeitsforschung nutzbar zu machen, erfolgreich gestellt hat. Auf Grund der mit dem Forschungsparadigma einhergehenden Methoden und Darstellungsformen, die quantitativ-korpuslinguistische Verfahren nicht mitberücksichtigen, sind allerdings Aussagen zur inter- und intraindividuellen Variation nicht möglich. Dennoch wird das Werk dem Titel der Reihe gerecht, in der es erschienen ist: Es zeigt aktuelle Tendenzen auf und gibt Impulse für zukünftige Forschung.
Literatur
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