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Eva Neuland & Peter Schlobinski (Hg.). 2018. Handbuch Sprache in sozialen Gruppen. (Handbücher Sprachwissen 9). Berlin, Boston: de Gruyter. xxvi, 501 S.
Auf rund 500 Seiten legen die Herausgeber Eva Neuland und Peter Schlobinski das Handbuch Sprache in sozialen Gruppen, das als neunter Band der Reihe Handbücher Sprachwissen erschienen ist, vor. Den 25 Beiträgen ist ein einleitendes Vorwort der Herausgeber vorangestellt, das kurz die Gliederung des Handbuchs beschreibt und dann einen ersten Überblick über grundlegende Begriffe wie soziale Gruppe und Peergroup, Szene/Milieu/Subkultur und (mit Bezug auf interaktive Online-Medien) posttraditionale Gemeinschaften gibt. Auch das Konzept der Interaktionsnetzwerke wird eingeführt. Die (variations-)linguistische Abgrenzung von Soziolekten gegenüber anderen Varietäten wird erklärt und mit Netzwerkanalysen in Verbindung gesetzt. Der inhaltlich gut gelungenen Einführung der Herausgeber steht auf formaler Seite ein unzureichendes Endlektorat gegenüber, denn leider enthält das Vorwort einige – den Lesefluss störende – Fehler. Neben simplen Tippfehlern (etwa am Ende des Zitats auf S. X „Schäfers 20013“) finden sich auch Kongruenzfehler (z. B.: „Die Matrix der Repräsentation dieser Beziehungen nannte er ‚sociomatrix‘, die graphische [sic] Abbildungen dieser Matrix ‚sociogram‘.“ (S. XV)). Ein überflüssiger Zeilenumbruch mitten im Satz auf S. XVII wirkt störend: „Steger (1964) forderte [nächste Zeile] den Einbezug der sozialen Situation [...]“, vor allem aber irritiert folgender Satzabbruch auf S. XIV: „Posttraditionale Gemeinschaften sind daher in besonderer [sic] Weitere Beispiele solcher Gemeinschaften stellen [...]“.
Dem Vorwort der Herausgeber folgen im ersten Kapitel vier Beiträge zu theoretischen Grundlagen und zur empirischen Datenerhebung. Im zweiten Kapitel wird in acht Beiträgen, ausgehend von zentralen linguistischen Gegenstandsfeldern wie bspw. der Variationslinguistik, der Textsortenlinguistik oder der Mehrsprachigkeitsforschung, die Bedeutung der sozialen Gruppe für den Sprachgebrauch erläutert. Das dritte Kapitel versammelt acht Beiträge mit Einzelanalysen zum Sprachgebrauch in bestimmten sozialen Gruppen, etwa unter Jugendlichen, Personengruppen in (groß‑)städtischen Kontexten, in Musikszenen oder Fußballfangruppen. Kapitel vier widmet sich verschiedenen Anwendungsfeldern gruppenspezifischen Sprachgebrauchs, etwa in der Schule, in politischen Gruppen oder in der Fachkommunikation. Ein Sachregister rundet den Band ab.
Aufgrund der Umfangsstärke des Handbuchs kann im Folgenden nicht auf alle Einzelartikel im Detail eingegangen werden – v. a. aus den beitragsstarken Kapiteln II–IV werden daher exemplarisch einzelne Beiträge herausgegriffen und einer näheren Betrachtung unterzogen.
Zunächst sollen die vier Beiträge aus Kapitel I „Grundlagen“ kurz skizziert werden. Christian Stegbauer fasst theoretische und methodische Grundlagen der Netzwerkforschung zusammen, thematisiert auch Probleme und Grenzen des Netzwerkkonzepts. Der Beitrag ist allerdings eher allgemein auf der (sprach-)soziologischen Ebene gehalten, Informationen zur Relevanz der Netzwerkforschung in aktuellen Forschungsarbeiten sucht der Leser vergeblich. Der Beitrag von Paul Eisewicht widmet sich der „Vielfalt und Komplexität von Gruppen“, den „Anforderungen an kompetente Zugehörige“ und den „Herausforderungen für die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Gesellungsgebilden“ (S. 31) mit Fokus auf die Moderne und die Posttraditionalen Vergemeinschaftungen. Der Autor fasst in prägnanter Weise die zentralen Aspekte der Gruppenforschung zusammen und spricht auch die Rolle von Sprache im Zusammenspiel von Gruppenzugehörigkeit und gruppenspezifischen Wissensbeständen an.
Peter Schlobinski gibt einen Überblick über Methoden der quantitativen Datenerhebung in den Sprachwissenschaften. Grundlegende Termini wie Operationalisierung, Sampling oder Erhebungsmerkmal werden dabei ebenso thematisiert wie Probleme der Datenerhebung, etwa das Beobachterparadoxon. Ein Plädoyer für Methodenpluralität und die Zusammenführung quantitativer und qualitativer Arbeitsweisen rundet den Beitrag ab.
Auch Norbert DittmarsBeitrag ist der Datenerhebung gewidmet, jedoch mit Fokus auf qualitative Methoden unter Einbezug theoretischer Positionen der Ethnomethodologie und Ethnographie, der gruppendokumentarischen Methode und der interaktiven Gesprächsforschung. Bevor der Autor exemplarisch qualitative Beschreibungsverfahren der Konversationsanalyse, der Analyse von Kontextualisierungshinweisen nach Gumperz und der ethnographischen Beschreibung (soziale Stilistik) näher ausführt, legt er verschiedene Typen der Datenerhebung (S. 58–75) dar. Dabei kommt es zu inhaltlichen Überschneidungen mit Schlobinskis Ausführungen. Beide Autoren beschreiben etwa die teilnehmende Beobachtung, die anonyme Beobachtung oder das Interview. Dieser Umstand ist der Untrennbarkeit von quantitativen und qualitativen Herangehensweisen geschuldet, eventuell wäre es daher sinnvoll gewesen, diese thematischen Überschneidungen durch einen übergreifenden Artikel aufzulösen.
In Kapitel II „Sprachmuster und Kommunikation in sozialen Gruppen“ kommen weitere führende Experten der (Sozio-)Linguistik zu Wort. Lediglich exemplarisch werden im Folgenden zwei Beiträge näher besprochen. Zu Beginn des Kapitels behandelt Stephan Elspaß den Zusammenhang von Sprachwandel und -variation mit dem Faktor soziale Gruppe. Er erläutert zugrundeliegende Konzepte wie das Nähe-/ Distanzmodell, den Unterschied zwischen Gebrauchsnormen und statuierten Normen, die Termini Variation/Variante/Variable/Varietät, den Unterschied zwischen Sprachwandel ‚von oben‘ (durch regulierendes Eingreifen) und Sprachwandel ‚von unten‘ (als „natürlichem“ Sprachwandel in nähesprachlichen Konstellationen). Prägnant und in gut verständlichem Sprachduktus fasst der Autor verschiedene Auslöser und (interne und externe) Faktoren für Sprachvariation und Sprachwandel zusammen und fokussiert dabei die Bedeutung des Faktors soziale Gruppe in besonderem Maße. Er versäumt dabei nicht auf Analysen des Sprachgebrauchs in sozialen Netzwerken hinzuweisen, die zu einer „Neubewertung sprachlicher Variation“ (S. 104) geführt haben:
„In der neueren soziolinguistischen Forschung werden Varietäten und Varianten nicht mehr nur in Beziehung zu einer bestimmten Herkunft, Sozialisation oder sozialen Identität von Gruppen von Sprecher/inne/n gesetzt. Vielmehr konzentriert sich diese Forschung auf den symbolischen Wert von Variation auf dem sprachlichen Markt, den sich die Sprecher/inne/n gezielt zunutze machen.“ (ebd.)
Insgesamt gibt der Autor einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung im thematisierten Teilbereich.
Den Bereich „Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit“ fokussiert Jannis Androutsopoulos in seinem Beitrag. Nach einem Überblick über aktuelle theoretische Entwicklungen in der (gesellschaftlichen) Mehrsprachigkeitsforschung beleuchtet er die Zusammenhänge zwischen Prozessen der Mobilität, Globalisierung und Digitalisierung, den damit einhergehenden veränderten Rahmenbedingungen für Mehrsprachigkeit und der Rolle der sozialen Gruppe. Grundlegende Begriffe wie jene der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit werden ebenso (kritisch) vorgestellt wie neuere (sprecherorientierte) Konzepte, z. B. Languaging, Poly‑/Metro‑/Translingualität oder Superdiversität. Ohne auf die Ausführungen des Autors näher eingehen zu können, seien hier nur wenige Punkte hervorgehoben: Androutsopoulos fasst pointiert den Paradigmenwechsel „von einer nationalsprachlich und strukturalistisch geprägten zu einer post-strukturalistischen Perspektive auf Mehrsprachigkeit“ (S. 199) zusammen, die die kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Macht(institutionen) und Sprache (sowie Sprachwissenschaft) zentral setzt und sich der Erforschung der sich interaktional vollziehenden sprachlichen Praktiken zuwendet. Auch wird ein guter Überblick über aktuelle Methoden geboten, um diese Praktiken „im Alltag zu verfolgen“ und die Perspektiven der Sprecher „als fortwährenden Prozess der Selektion, Kombination, Aushandlung sprachlicher Mittel zur Erreichung interaktionaler Ziele zu verstehen“ (S. 204). Ein Einblick in ausgewählte neuere Forschungsarbeiten, der Möglichkeiten und Probleme eines dafür notwendigen Methoden-Mixes veranschaulicht, rundet den Beitrag ab.
Kapitel III enthält „Einzelanalysen zum Sprachgebrauch in sozialen Gruppen“, etwa unter Kindern, in Jugendgruppen, städtischen Gruppen, Musikszenen oder unter Fußballfans. Wiederum können hier aus Umfangsgründen lediglich zwei der acht Beiträge exemplarisch skizziert werden.
Robert Claus und Jonas Gabler beleuchten Sprache und Kommunikation in Fußballfangruppen. Nach einer Typisierung verschiedener Arten von Fußballfans (konsumorientiert, fußballzentriert und erlebnisorientiert), die allesamt die Betonung der Gruppenidentität im Sinne eines „Wir gegen die Anderen“ kennzeichnet, widmen sich die Autoren verschiedenen Kommunikationsformen, die von diesen Fangruppen genutzt werden – als typisch für Fußballfangruppen werden hier v. a. Spruchbänder und Fangesänge charakterisiert. Als weitere sprachliche Praktiken, die unter Fußballfans typischerweise verwendet werden, nennen die Autoren fäkal- und vulgärsprachliche Äußerungen sowie Codes (etwa anstatt der korrekten Namen gegnerischer Fußballclubs) oder gewaltverharmlosende oder gar -verherrlichende Metaphern. Dabei wird auch ein Einblick in den szenetypischen Wortschatz gegeben, ebenso wird die Rolle von Männlichkeit im Sprachgebrauch innerhalb der Fußballfangruppen beleuchtet. Wenngleich die Analyse der sprachlichen Praktiken streckenweise sehr oberflächlich bleibt, gewinnt der Leser dennoch einen guten ersten Eindruck von den Formen und Funktionen der Fangruppenkommunikation.
Helen Christen thematisiert in ihrem Beitrag den Zusammenhang von „Dialekt und soziale[r] Gruppe“. In drei Kapiteln fasst sie Perspektiven und Forschungsergebnisse der traditionellen Dialektologie, der korrelativ-quantitativen Soziodialektologie und der konversationell-qualitativen Soziodialektologie zu diesem Bereich zusammen. Ausgehend von der Definition des grundlegenden Begriffs Dialekt spannt die Autorin den Bogen von der Analyse einzelner Ortsmundarten mit Fokus auf ortsfeste, ältere Sprecher in dörflich-agrarischem Umfeld über den Perspektivenwechsel hin zum gesamten Repertoire der (Dialekt-)Sprecher in verschiedenen sozialen Kontexten bis zur Analyse des indexikalischen Potentials dialektaler Varianten in der Interaktion. Im Fokus letzterer Forschungsrichtung – der konversationell-qualitativen Soziodialektologie – stehen (u. a.) Dialektstilisierungen, die die Autorin anhand einzelner Beispiele illustriert. Abschließend konstatiert Christen zu Recht einen Wandel des aktuellen wissenschaftlichen Interesses weg „vom statischen ‚being place‘ der traditionellen Areallinguistik“ hin zu einem „dynamische[n] ‚doing place‘ der Sozialwissenschaften.“ (S. 398)
Kapitel IV widmet sich verschiedenen Anwendungsfeldern gruppenspezifischen Sprachgebrauchs. Exemplarisch soll nachfolgend auf Carmen Spiegels Beitrag „Gruppensprachliche Praktiken in der Institution Schule“ und Heidrun Kämpers Beitrag „Sprache in politischen Gruppen“ näher eingegangen werden.
Carmen Spiegel beschreibt in ihrem Beitrag sprachliche Praktiken in der Institution Schule in verschiedenen sozialen Kontexten bzw. Gesprächskonstellationen. Grundlage ihrer Ausführungen bildet die begriffliche Unterscheidung zwischen Schulsprache als übergreifendem Ausdruck für verschiedene Formen des Sprachgebrauchs innerhalb der Institution Schule, Unterrichtssprache als fachsprachlich geprägtem Sprachgebrauch während des Unterrichts und Schülersprache als Terminus für den Sprachgebrauch der jugendlichen Schüler. Als ein dementsprechend facettenreicher und komplexer Untersuchungsgegenstand ist Kommunikation in der Schule zu begreifen – diesen Umstand verdeutlicht die Autorin durch pointiert eingesetzte Beispiele aus aktuellen Forschungsarbeiten. Dem Leser wird somit ein guter Überblick über die verschiedensten, teils institutionell stark geprägten, teils sehr informellen Gesprächskonstellationen in und außerhalb des Klassenzimmers geboten.
Heidrun Kämper betont in ihrem Beitrag „Sprache in politischen Gruppen“ die Interdisziplinarität des Forschungsgegenstands – sowohl Perspektiven der Polito- als auch der Soziolinguistik werden berücksichtigt. Als Grundfunktion politischen Sprechens bezeichnet die Autorin die „Erzeugung von Zustimmungsbereitschaft durch überzeugen oder überreden“ (S. 444), die mit „Auf-/Abwertungshandlungen“ (S. 445) eine „Ideologisierung als Ausdruck von Werthaltungen“ (ebd.) bewirkt. Hier bietet sich ein kurzer Vergleich mit werbesprachlicher Kommunikation an, die ebenfalls weniger auf Information, sondern mehr auf Persuasion der Adressaten abzielt und zur Vermarktung des Produkts/der Dienstleistung/der ‚Idee‘ mit Sprache Aufwertung betreibt.[1] Insgesamt bietet Heidrun Kämpers Beschreibung der sozialen Formationen politischer Gruppen und ihrer spezifischen Lexik, Textarten und Kommunikationsstrukturen dem Leser eine gute Basis für die weiterführende Auseinandersetzung.
Das Handbuch Sprache in sozialen Gruppen spiegelt in seiner Vielfalt der Beiträge den Facettenreichtum dieses Forschungs(groß)bereichs wider. Auch die Einbettung des Bandes in die Reihe Handbücher Sprachwissen ist schlüssig. Reihenherausgeber sind Ekkehard Felder und Andreas Gardt. Sie wollen mit der Reihe in prägnanter Form sprachliche Zusammenhänge in ihren historischen und sozialen Konstellationen beschrieben wissen – der Faktor soziale Gruppe war hierbei unbedingt zu berücksichtigen.
Literatur
Janich, Nina. 2013. Werbesprache.Ein Arbeitsbuch. 6., durchges. u. korr. Aufl. Tübingen: Narr.Search in Google Scholar
Lenzhofer-Glantschnig, Melanie. 2015. Information oder Persuasion? Zum Nutzen einer sprachkritischen Auseinandersetzung mit (Pseudo‑) Fachwörtern der Kosmetikwerbung im Deutschunterricht. In: Jörg Kilian & Jan Eckhoff (Hg.): Deutscher Wortschatz – beschreiben, lernen, lehren. Beiträge zur Wortschatzarbeit in Wissenschaft, Sprachunterricht, Gesellschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang, 279–312.Search in Google Scholar
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