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Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung & Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.). 2017. Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Tübingen: Stauffenburg. 331 S.
Der Untertitel des vorliegenden Sammelbandes legt nahe, dass es sich um eine Fortsetzung des 2013 bei De Gruyter erschienenen Bandes Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache handelt. Wie schon im ersten Band werden Themen von hohem öffentlichem Interesse aufgegriffen: Standarddeutsch (Peter Eisenberg), Dialekte und Regionalsprachen (Jürgen Erich Schmidt), Jugendsprache (Nils Bahlo & Wolfgang Klein), das Deutsch von Migrant_innen (Norbert Dittmar & Yazgül Şimşek), internetbasierte Kommunikation (Angelika Storrer) und gesprochene Alltagssprache (Ludwig Eichinger). Gesellschaftliche Debatten um diese Themen könnten von einer sprachwissenschaftlichen Bestandsaufnahme auf dem aktuellen Stand der Forschung, wie sie der Untertitel des vorliegenden Bandes und die institutionelle Herausgeberschaft versprechen, durchaus profitieren. Leider wird dieses Versprechen insgesamt nicht eingelöst.
Kapitel 1 (Klein) liefert eine Art erweiterte Einführung in das im Titel des Bandes angedeutete gemeinsame Thema der Beiträge. Der Autor stellt die grundsätzliche Frage, was die deutsche Sprache ist, wo sie herkommt, wie ihre Binnengliederung aussieht und wie die Vielfalt dieser Binnengliederungen so zusammenhängt, dass sie als Vielfalt innerhalb einer Sprache betrachtet werden kann. Am Beispiel der in den folgenden Beiträgen diskutierten Varietäten führt er die Leser_innen zunächst an die Idee heran, dass jede angenommene „Varietät“ selbst ein Bündel von Varietäten ist, und bringt sie so zu der Erkenntnis, dass Varietäten nur Abstraktionen über eine beliebig grob oder fein typologisierbare Variation des Sprachverhaltens einzelner Sprecher_innen sind und dass die zugrundeliegende Frage lauten müsse: „Wie sprechen welche Leute in welchen Redesituationen?“. Es folgt ein kurzer, programmatischer Abriss darüber, wie Vielfalt innerhalb einer anfänglich kleinen Sprachgemeinschaft entsteht, wenn diese wächst, die kommunikativen Netzwerke lockerer werden, neue Ausdrucksmittel hinzukommen und kulturelle Entwicklungen eine immer größere Ausdifferenzierung des Wortschatzes erfordern. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Entstehen einer Leitvarietät, an der andere Varietäten dann gemessen und bewertet werden. Klein beendet seinen Überblick mit einer Diskussion einiger Grenzfälle sprachlicher Variation: der Sprache der Dichtung, des Jiddischen, Lerner_innensprache(n) und der elliptischen, fast grammatiklosen Varietäten, die man in der Werbung, in Annoncen usw. findet. In gewisser Weise erfasst Klein mit seinem Beitrag das, was man sich als Stand der Allgemeinbildung bezüglich des Deutschen (und Sprache allgemein) wünschen würde und liefert damit die notwendige Grundlage zum Verständnis der folgenden Kapitel.
Kapitel 2 (Eisenberg) befasst sich allgemein mit der Frage, was Standarddeutsch ist und auf welchen Ebenen Standardisierung stattfindet. Nach einem kurzen historischen Abriss zur Standardisierung geht Eisenberg auf die grundlegende Frage ein, was Sprachnormen sind und wer sie bestimmt bzw. im Laufe der Zeit bestimmt hat. Dabei spricht er Normkodizes im Allgemeinen und die Rolle des Dudens im Besonderen an und übt bezüglich Letzterer Kritik an einer von ihm wahrgenommenen Rückkehr zu einer a priori postulierten und nicht begründeten Normativität nach einer Phase der eher deskriptiven Ableitung von Normen. Daran anknüpfend diskutiert er exemplarisch, wie eine „im Sprachgebrauch ruhende“ Normierung und Kodifizierung „problematischer“ Phänomene (Genitiv, Konjunktiv, Groß-/Kleinschreibung) aussehen könnte oder müsste. Eisenberg liefert hier bedenkenswerte Argumente für die empirische Ableitung von Normen aus dem standardsprachlichen Gebrauch. Allerdings bleibt unklar, wie entschieden werden soll, was als standardsprachlicher Gebrauch zählt. Die Auswahl entsprechender Daten kann m. E. nur auf der Grundlage sprachexterner Kriterien – insbesondere des Bildungsgrads der Autor_innen und gesellschaftlich etablierter Spracheinstellungen – geschehen. Diesen Punkt, der die implizite Machtdimension des Konzepts „Standardsprache“ explizit machen würde, umgeht Eisenberg aber völlig. Nach einem kurzen Abriss darüber, wie in den großen Nachbarsprachen des Deutschen mit Normierung und Kodifizierung umgegangen wird, kommt Eisenberg dann „Zur Lage der deutschen Standardsprache“ (so die Abschnittsüberschrift). Viel Konkretes enthält die Diskussion nicht. Eisenberg postuliert zunächst, dass die Rechtschreibfähigkeiten seit langem abnehmen (was die zugegebenermaßen schwierig zusammenzufassende Forschungslage in dieser Eindeutigkeit sicher nicht bestätigt). Er geht dann auf fünf Bereiche ein, deren Bezug zur Lage der Standardsprache er nicht immer deutlich macht: Anglizismen, „politisch korrekte Sprache“, „leichte Sprache“, „Kiezdeutsch“ und „Sprache in den neuen Medien“. Die Diskussion hier bleibt durchgängig äußerst oberflächlich und besteht hauptsächlich aus programmatischen Behauptungen, die häufig nicht die Forschungslage reflektieren. Wenn Eisenberg etwa behauptet, das englische Lehngut habe keinen Einfluss auf die Wortbildung, steht das im Widerspruch zu einer Vielzahl gut dokumentierter produktiver englischer Konfixe im Deutschen (Cyber-, Fake-, -gate usw.). Besonders bedenklich ist Eisenbergs Diskussion geschlechtergerechter Schreibweisen, die er wenig wissenschaftlich als „sprachpolizeiliche Allüren“ bezeichnet und die er als Irrweg darstellt, da die maskuline Form nicht „männlich“, sondern unmarkiert sei und damit als generische Form dienen könne. Eisenberg ignoriert hier nicht nur die sprachwissenschaftliche und psycholinguistische Forschung, er setzt auch das von ihm vorher aufgestellte Desideratum außer Kraft, dass Sprachnormen aus dem Sprachgebrauch abzuleiten seien. Laut diesem Desideratum wäre die Frage ja nicht, ob geschlechtergerechte Schreibweisen linguistisch gerechtfertigt sind, sondern ob sie sich im standardsprachlichen Gebrauch durchsetzen. Das Kapitel insgesamt liefert keine Erkenntnisse zur Lage der deutschen Sprache, obwohl es mit Rechtschreibung, Rechtschreibkenntnissen und geschlechtergerechten Schreibweisen Aspekte der geschriebenen Sprache anspricht, die nicht nur in öffentlichen Diskussionen höchst aktuell sind.
Kapitel 3 (Schmidt) befasst sich mit der Frage nach dem aktuellen Status von Dialekten und Regionalsprachen, speziell in Bezug auf die Frage ihrer aktiven Beherrschung in verschiedenen Regionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Nach einem konzisen und verständlichen historischen Abriss über die Entwicklung des gesprochenen Standarddeutsch und der modernen deutschen Regionalsprachen aus den ehemaligen deutschen Dialekten stellt er die Ergebnisse einer aktuellen, speziell für den Bericht durchgeführten Untersuchung vor, die zunächst eine Erfassung der aktiven und passiven Dialektkompetenz vornimmt, die es in dieser Genauigkeit bislang nicht geben dürfte. Des Weiteren erlaubt sie einen Vergleich von subjektiv wahrgenommener und tatsächlich vorhandener Kompetenz, der in dieser Form sehr innovativ ist und der den (vorrangig auf Befragungen durch demographische Institute beruhenden) Forschungsstand vollständig revidiert. Schmidt zeigt unter anderem, dass über die Hälfte der Deutschen den Dialekt ihrer Region noch aktiv beherrscht (wobei Männer etwas besser abschneiden als Frauen), dass allerdings im mittel- und norddeutschen Sprachraum bei jüngeren Sprecher_innen ein deutlicher Abbau zu beobachten ist. Auch ein passives Dialektverstehen ist überall noch vorhanden, Einschränkungen gibt es auch hier bei jüngeren Sprecher_innen in Mittel- und Norddeutschland. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Dialekt und Standard stellt er fest, dass es im Süden bis zur Mitte des Sprachraums eine komplexe Sprechlagendifferenzierung zwischen Regiolekt und Standard gibt, wobei sich bei jüngeren Sprecher_innen die Distanz zum Standard und der Umfang der Sprechlagen verringern und damit ein klarer Abbau regionaler Standards zugunsten eines gesprochenen Standarddeutsch zu beobachten ist. Schmidts Beitrag wird dem Anspruch eines Lageberichts in vollem Umfang gerecht. Er verbindet vorbildlich eine Einführung in die Hintergründe und die Geschichte des Themas, eine verständliche und differenzierte Terminologie, einen aktuellen Überblick über die Forschungslage und belastbare empirische Ergebnisse.
Die nächsten zwei Kapitel haben durchaus Stärken und bieten solide und allgemein verständliche Informationen zu ihren Themenbereichen, liefern aber keine Erkenntnisse zur Lage der deutschen Sprache.
Kapitel 4 (Bahlo & Klein) behandelt Jugendsprache. Nach einem interessanten, wenn auch etwas listenartigen Überblick der Methoden zur Erforschung von Jugendsprache folgt eine Zusammenfassung ausgewählter Aspekte des Forschungsstandes. Der Erkenntnisgewinn ist begrenzt, was einerseits an der eklektischen Auswahl der Literatur liegt und andererseits daran, dass die Autoren keine saubere Trennung zwischen individueller Sprachentwicklung im Jugendalter, sprachlicher Innovation durch junge Menschen und Jugendsprache als Distinktionsmerkmal vornehmen, in die diese Literatur einzuarbeiten wäre. Stattdessen geht der Text nacheinander verschiedene sprachliche Beschreibungsebenen durch (Aussprache, Schreibweise, Grammatik, Lexik). Dabei sprechen die Autoren eine Reihe interessanter Phänomene an, von Einflüssen des Kiezdeutschen oder Verbindungen zur Online-Kommunikation bis zu einzelnen Phänomenen wie den Diskursmarkern ey und so. Allerdings führt die o. g. fehlende Systematik dazu, dass sich diese Phänomene schwer einordnen lassen. Es folgt ein prägnanter Abschnitt, in dem mit diskursanalytischen Mitteln anhand authentischer Gesprächsausschnitte illustriert wird, wie Jugendliche Sprache tatsächlich nutzen. Dieser mit Abstand stärkste Abschnitt des Kapitels knüpft an die exzellente Forschung von Bahlo in diesem Bereich an und ist dazu angetan, verbreitete Klischees über Jugendsprache durch eine tatsächliche Analyse komplexer Interaktionen zu zerstreuen. Allerdings bleiben die Analysen zu punktuell, um die aktuelle Situation von Jugendsprache(n) und deren Platz in der deutschen Sprachgemeinschaft auch nur annäherungsweise zu dokumentieren.
Kapitel 5 (Dittmar & Şimşek) befasst sich mit dem Deutsch von Migrant_innen. Die Autor_innen liefern zunächst eine Einführung in die unterschiedlichen Phasen einer Migrationsbiographie und die Kontaktphänomene, die diese kennzeichnen (Lerner_innenvarietäten, (urbane) Kontaktphänomene und -varietäten etc.), sowie deren mediale Stereotypisierung. Dabei gelingt ihnen eine gut nachvollziehbare Unterscheidung von Phänomenen, die in der öffentlichen Debatte oft vermengt werden. Es folgt ein Abschnitt mit qualitativen Gesprächsanalysen von deutsch-türkischem Code-Switching sowie von urbanem Kontaktdeutsch allgemein auf der Grundlage zweier älterer Korpora. Wie im vorangehenden Kapitel sind diese Analysen von hoher Qualität und machen deutlich, dass der tatsächliche Sprachgebrauch wenig mit medialen Stereotypen gemein hat. Doch auch hier sind die Analysen nicht geeignet, um die aktuelle Situation von Migrant_innensprachen und -varietäten und deren Platz in der Sprachgemeinschaft zu dokumentieren. Schon der Fokus auf Sprecher_innen der Hintergrundsprachen Türkisch und Arabisch ist viel zu eng. Er blendet sowohl große traditionelle Migrant_innensprachen aus (man denke vor allem an das Russische und Polnische), als auch neue Sprachen, die im Zuge der Arbeitsmigration durch Europäisierung und Globalisierung im deutschen Sprachraum zunehmend präsenter werden.
Beide Kapitel hätten stark davon profitiert, sich von qualitativen Einzelanalysen zu lösen und belastbare Informationen zur demographischen Verteilung der betreffenden Varietäten zu liefern. Dabei hätte die Studie aus Kapitel 3 Vorbild sein können, aber zumindest vorhandene statistische Daten hätten aufgegriffen und eingeordnet werden müssen, um dem Anspruch eines Berichts zur Lage der deutschen Sprache gerecht zu werden.
Kapitel 6 (Storrer) befasst sich mit internetgestützter Kommunikation. Die Autorin stellt zunächst fest, dass diese nicht nur eine zentrale Rolle im sprachlichen Alltag spielt, sondern auch medial sehr vielfältig geworden ist. Sie erklärt dann, dass diese Vielfalt aus technischen und urheberrechtlichen Gründen aber schwer zu untersuchen sei, und beschränkt sich im Rest ihres Beitrags auf Daten aus IRC-Chaträumen und von den Diskussionsseiten der Wikipedia. Da die internetgestützte Kommunikation heute vor allem in Messenger-Apps, sozialen Netzwerken und möglicherweise den Kommentarspalten großer Online-Medien stattfindet, ist damit vorgezeichnet, dass Storrers Beitrag nicht die aktuelle Lage der deutschen Sprache im Internet abbilden kann. Angesichts der bestehenden Forschung zur Kommunikation in sozialen Netzwerken (die in Storrers Literaturverzeichnis auch sichtbar ist) ist diese Einschränkung auch strategisch kaum nachvollziehbar. Was Storrer dann anhand ihrer Daten zeigt, ist zwar durchaus interessant, aber weder aus der alltäglichen Erfahrung mit internetgestützter Kommunikation noch aus der inzwischen recht umfangreichen Forschungsliteratur überraschend: Die Kommunikation im Internet ist dem schriftlichen Standarddeutsch mal näher, mal ferner, je nachdem, wie stark die Kommunikationssituation konzeptionell mündlich konstruiert wird. Das ist eine zentrale Erkenntnis, die angesichts einer sprachpessimistischen Grundstimmung bezüglich der Onlinekommunikation auch in die Öffentlichkeit gehört, es ist aber für einen Band, der die Lage der deutschen Sprache abbilden will, deutlich zu wenig.
Kapitel 7 (Eichinger) fällt merkwürdig aus der Reihe, womit nicht die Qualität des Beitrags an sich infrage gestellt werden soll, sondern die Entscheidung, ihn diesem Band hinzuzufügen. Das Kapitel soll die gesprochene Alltagssprache behandeln. Der Autor stellt zunächst exemplarisch Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener (Umgangs-)Sprache dar, um dann festzustellen, dass Letztere eigene Strukturen aufweist – was unstrittig ist – und dass gesprochene Sprache sich der geschriebenen gegenüber durch eine geringere Explizitheit und eine stärkere Einbindung in interaktionelle Zusammenhänge auszeichnet – was in dieser Vereinfachung strittiger sein dürfte. Er stellt einige Dimensionen dar, auf denen geschriebene und gesprochene Sprache unterschiedlichen Anforderungen unterliegen, nämlich Ökonomie und Redundanz, Kooperation und Dialogizität sowie Informationsstruktur und Erwartungssteuerung. Es folgt eine etwas eklektische Diskussion „typischer Merkmale des gesprochenen Deutsch“. Der Text kann als Reihe von Denkanstößen gelesen werden und ist als solche auch lesenswert. Zur Lage der deutschen Sprache macht er aber keine Aussagen, und anders als die drei vorangehenden Beiträge vermittelt er auch keinen Überblick über die Grundlagen des Themas (im Literaturverzeichnis fehlen etwa zentrale Texte zur Grammatik des gesprochenen Deutsch).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der vorliegende Sammelband zwar sprachwissenschaftliche Einblicke in öffentlich intensiv diskutierte Aspekte des Sprachgebrauchs bietet, nicht aber in die Lage der deutschen Sprache. Während der erste Bericht anhand vergleichbarer empirischer Daten die aktuelle Situation der deutschen Sprache dokumentiert, haben die Beiträge im vorliegenden Band eher den Charakter einführender Texte. Wenn Daten diskutiert werden, geschieht dies qualitativ und ohne besondere Aktualität, teilweise beschränken sich die Beiträge sogar auf persönliche Meinungsäußerungen und bleiben deutlich hinter dem Stand der Forschung zurück. Eine Ausnahme stellt der Text von Schmidt dar, der den Anspruch des Bandes auf vorbildliche Weise einlöst.
Insgesamt ist der Sammelband damit eine vertane Chance. Die Themen, die er adressiert, sind von hoher Aktualität und Relevanz, sie hätten eine Aufarbeitung auf dem Niveau des ersten Berichtes dringend nötig. Es ist aber zu befürchten, dass sich aufgrund des Vorliegens eines scheinbaren Standardwerks so bald niemand daranmachen wird, eine solche Aufarbeitung vorzunehmen. Das ist höchst bedauerlich, und die großen sprachwissenschaftlichen Fachverbände und Forschungsinstitute wären gut beraten, darüber nachzudenken, wie sich die Lage der deutschen Sprache in Zukunft systematischer und objektiver ermitteln, dokumentieren und kommunizieren ließe.
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