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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter March 29, 2019

Thilo Weber. 2017. Die TUN-Periphrase im Niederdeutschen.Funktionale und formale Aspekte (Studien zur deutschen Grammatik 94). Tübingen: Stauffenburg. 418 S.

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Thilo Weber. 2017. Die TUN-Periphrase im Niederdeutschen. Funktionale und formale Aspekte (Studien zur deutschen Grammatik 94). Tübingen: Stauffenburg. 418 S.


Es gibt ja nicht viele syntaktische Merkmale, die das Niederdeutsche vom Standarddeutschen unterscheiden; die tun-Periphrase ist zweifelsfrei eines von ihnen. Zahlreiche Arbeiten beschäftigen sich (zentral oder peripher) mit diesem Thema. Ist also eine ganze Monographie notwendig und sinnvoll? Lässt sich überhaupt genug Neues sagen zu diesem alten Thema? Thilo Weber zeigt eindrucksvoll, dass das der Fall ist. Er entwickelt eine Reihe von Fragen, die sich aus der tun-Periphrase ergeben, aber z. T. weit über sie hinausgehen (so z. B. zum Tempus- und Modussystem im Niederdeutschen), und er beantwortet diese Fragen souverän mit unterschiedlichen Methoden. Aufgrund der Breite der Arbeit und der Fülle der Erkenntnisse beschränke ich mich hier auf die Präsentation einiger Ergebnisse, die mir besonders interessant erscheinen. Einen Aspekt, nämlich den Einfluss prosodischer Faktoren bei der Verteilung von tun, möchte ich herausgreifen und etwas ausführlicher diskutieren.

Zunächst in aller Kürze zum Begriff tun-Periphrase, mit dem drei unterschiedliche Konstruktionen bezeichnet werden (Beispiele aus Weber 2017: 17,117, 113):

(1) a. Utknipen doot se ni.

‚Durchbrennen tun sie nicht‘

(Nordniedersächsisch)

b. Ob ik dat wohl schaffen dau?

‚Ob ich das wohl schaffen tu?‘

(Mecklenburgisch-Vorpommersch)

c. Denn daut se Pannekaoken backen.

‚Dann tun sie Pfannkuchen backen.‘

(Westfälisch)

In (1a) besetzt die tun-Periphrase die linke Satzklammer und ermöglicht damit die Topikalisierung des Verbs. Diese Konstruktion ist auch im Standarddeutschen grammatisch. Das gilt für die anderen beiden Typen nicht. In (1b) besetzt tun gemeinsam mit dem Vollverb die rechte Satzklammer; in (1c) besetzt tun die linke, das Vollverb die rechte Satzklammer. Es sind die letzten beiden Konstruktionen, die im Fokus der Arbeit stehen.

Wie Weber in einem erweiterten Forschungsüberblick (Kap. 2) zeigt, ist die tun-Periphrase in allen deutschen Dialekten und in fast allen westgermanischen Sprachen verbreitet – allerdings mit unterschiedlichen Funktionen. Und für das Niederdeutsche selbst liegen mehrere Hypothesen vor, die die Verteilung der tun-Periphrase erklären sollen. So wird häufig vermutet, es handele sich um die Markierung des Konjunktivs, des progressiven Aspekts oder einer kausativen Funktion. Quer zu diesen semantischen Erklärungen liegen zwei Hypothesen, die Günter Rohdenburg vorgebracht hat. Rohdenburg (2002) vermutet, dass schwache Verben im Präteritum häufiger umschrieben werden als andere Verben (auf diese Weise kann der Synkretismus zwischen Präsens und Präteritum vermieden werden, der sich durch den Ausfall des Dentalsuffixes ergibt). Rohdenburg (1986) legt zudem eine prosodische Hypothese für die Verteilung vor: In Verbletztsätzen liegt der Satzakzent häufig auf dem Verb in der rechten Satzklammer; im Niederdeutschen werden finale Satzakzente aber insgesamt vermieden. Die tun-Periphrase ist eine Strategie, die Äußerung zu verlängern und mit einer unbetonten Silbe zu beenden.

Thilo Weber geht der Verteilung und den möglichen bedingenden Faktoren der tun-Periphrase in zwei empirischen Untersuchungen (Kap. 3 und 4) auf den Grund. Datengrundlage der ersten Untersuchung sind 889 Aufnahmen des Zwirner- und des DDR-Korpus, die durchsucht und ausgewertet wurden. Grundlegend für die Untersuchungen ist eine einfache methodische Einsicht, die Labov (2004: 7) als das Rechenschaftsprinzip („Principle of Accountability“) bezeichnet: Wenn wir die Häufigkeit einer Konstruktion sinnvoll erheben wollen, dann müssen wir auch die Kontexte zählen, in denen die Konstruktion möglich wäre, aber nicht vorkommt. So einleuchtend das Prinzip ist, so selten wurde es bei Untersuchungen der tun-Periphrase bislang angewendet.

Zu den Ergebnissen: Weber kann zunächst Keselings (1968) Gliederung des niederdeutschen Sprachraums in zwei Typen bestätigen. Im Südwesten ist die Paraphrase sowohl in Verbzweit- wie in Verbletztsätzen belegt, allerdings ist sie dort in beiden Satztypen wesentlich seltener als im Norden: Weniger als 10 % aller möglichen Kontexte weisen eine tun-Periphrase auf. Im übrigen Sprachgebiet ist die tun-Paraphrase praktisch nur in Verbletztsätzen belegt. Dafür liegt die Häufigkeit um einiges höher, und zwar bei über 50 % aller möglichen Kontexte.[1]

Mithilfe multipler logistischer Regressionsanalysen kann Weber nun diejenigen Faktoren isolieren, die die An- bzw. Abwesenheit der tnn-Periphrase determinieren. In den südwestlichen Dialekten sind das die Habitualität und der Flexionstyp. In habituellen Kontexten sowie bei schwachen Verben ohne Stammveränderung tritt die tun-Periphrase häufiger auf als in der jeweils anderen Kategorie, wobei der Effekt der Habitualität größer ist als der des Flexionstyps. Alle anderen getesteten Faktoren sind hingegen nicht signifikant.

Im übrigen Dialektgebiet sieht die Lage etwas anders aus. Hier sind nur der Flexionstyp und das Tempus statistisch signifikante Faktoren. Schwache Verben ohne Stammveränderung und Verben im Präteritum werden häufiger umschrieben als die übrigen Verben bzw. Verbformen. Damit ist erst einmal die These Rohdenburgs (2002) bestätigt, der das Präteritum schwacher Verben als den Kern der Konstruktion ansetzt. Alle anderen Faktoren haben keinen signifikanten Einfluss auf die Verteilung. Das gilt auch für die prosodische Hypothese Rohdenburgs (1986). An dieser Stelle möchte ich etwas ins Detail gehen. Weber testet die Abhängigkeit der tun-Periphrase von der Prosodie über einen Umweg, und zwar mithilfe von Partikelverben. Seine Argumentation ist: In Verbletztsätzen mit Partikelverb fällt der Satzakzent nie auf den Verbstamm (z. B. ... dass er ABwartet); in anderen Verbletztsätzen ist der Verbstamm (unter anderem) dann betont, wenn das Mittelfeld unbesetzt ist (z. B. ... dass er WARtet). Daher sollten Sätze ohne Partikelverb häufiger umschrieben werden als Sätze mit Partikelverb.

Das Problem an diesem Vorgehen ist, dass der Zusammenhang sehr indirekt ist, wie Weber selbst einräumt (200, Fn. 48). Es gibt eben eine Reihe von Sätzen ohne Verbpartikel, bei denen der Satzakzent dennoch nicht auf dem Verb realisiert ist (z. B. ... dass er auf seinen BRUder wartet). Für solche Sätze würde Rohdenburg keine Umschreibung erwarten; für Weber ist das ein Kontext, in dem mit der tun-Periphrase zu rechnen ist. Weil das häufig nicht geschieht, ist der Faktor in seiner statistischen Analyse dann nicht signifikant.

Es sprechen allerdings zwei Beobachtungen dafür, dass bei der Verteilung der tun-Periphrase zumindest auch prosodische Faktoren beteiligt sind. Zum einen deckt sich der geographische Bereich, in dem doon in Verb­letztsätzen belegt ist (Karte 3.3, S. 123), relativ genau mit dem Gebiet, in dem finales Schwa apokopiert wird (vgl. z. B. Karte 116 im „Sprachatlas des Deutschen Reichs“). Nur in Gebieten, in denen Schwa apokopiert wird, tritt auch die tun-Paraphrase satzfinal auf. Wie auch immer dieser Zusammenhang konkret vermittelt wird – er spricht dafür, dass die tun-Periphrase empfänglich ist für prosodische Faktoren.

Zum anderen zeigt sich in den Daten, die Thilo Weber mir dankenswerterweise hat zukommen lassen, dass der Abstand des Satzakzents von der Intonationsphrasengrenze einen recht deutlichen Einfluss auf die An- bzw. Abwesenheit der Konstruktion hat. Ein intonationsphrasenfinaler oder -präfinaler Satzakzent wird vermieden, indem die tun-Periphrase verwendet und die Intonationsphrase (IP) um eine Silbe verlängert wird. Das soll im Folgenden kurz gezeigt werden.

Bei den Daten handelt es sich um die 48 Aufnahmen aus dem Mecklenburgisch-Vorpommerschen, in denen mindestens eine tun-Periphrase im Verbletztsatz belegt ist. Neben den mit tun umschriebenen Verbletztsätzen sind auch die nicht-umschriebenen transkribiert. Insgesamt liegen 432 Sätze vor. Da im Präteritum die große Mehrzahl aller Sätze umschrieben ist (83 %), werden nur die 241 Sätze im Präsens genutzt. Daraus wird knapp ein Drittel zufällig ausgewählt. Diese 72 Sätze bilden die Datenbasis. Für jeden dieser Sätze wird mithilfe der zugehörigen Tonaufnahmen in der „Datenbank Gesprochenes Deutsch“ (dgd.ids-mannheim.de) bestimmt, auf welcher Silbe der Satzakzent realisiert ist. Das ist nicht immer einfach, und es gibt einige Zweifelsfälle (das ist der Grund, warum Weber von der Methode Abstand genommen hat, vgl. S. 200, Fn. 48). In den allermeisten Fällen ist die Lage des Satzakzents aber eindeutig bestimmbar. In einem zweiten Schritt wird der Abstand des Satzakzents (in Silben) zur Intonationsphrasengrenze gezählt. Bei den mit tun umschriebenen Sätzen (wie ... wat so an Arbeit ANfallen deit ‚was so an Arbeit anfallen tut‘) wird der Abstand in der nicht-umschriebenen Variante gezählt (... wat so an Arbeit ANfallt). Auf diese Weise ist es möglich, die Position des Satzakzents und die An-/Abwesenheit von tun miteinander in Beziehung zu setzen. Das geschieht in Tabelle 1.

Tabelle 1

Der Zusammenhang zwischen dem Abstand des Satzakzents von der Intonationsphrasengrenze in Silben und der An-/Abwesenheit der tun-Periphrase. Datengrundlage: 72 zufällig ausgewählte Nebensätze aus dem Mecklenburgisch-Vorpommerschen Dialektgebiet aus Aufnahmen des DDR-Korpus.

Abstand von der IP-Grenze in Silben-tun+tun% +tun
091359 %
1131655 %
26114 %
3+1317 %

Die Verteilung bestätigt Rohdenburgs Hypothese von der Dispräferenz IP-finaler und -präfinaler Satzakzente. Droht eine Intonationsphrase mit einer betonten Silbe zu enden, ist die tun-Umschreibung wesentlich häufiger, als wenn die betonte Silbe zwei oder mehr Silben vom Intonationsphrasenende entfernt ist. Trotz der schmalen Datenbasis sind die Unterschiede relativ groß und m. E. belastbar.

Dass Thilo Weber diese Art der Untersuchung nicht auch noch durchgeführt hat, ist ihm nicht vorzuwerfen; um das vernünftig und transparent zu machen, muss man wohl Spezialist/in in Phonologie oder Phonetik sein. Ich kann das an dieser Stelle etwas impressionistisch tun, weil ich eben nur die Rezension schreibe und nicht die Monographie. Entscheidend ist, dass prosodische Faktoren einen Einfluss auf die tun-Paraphrase haben könnten und dass eine syntaktisch-phonologische Untersuchung hier lohnenswert wäre.

Neben der Untersuchung der Zwirner- und DDR-Aufnahmen, die ja aus den 1950er und 1960er Jahren stammen, erhebt Weber im Rahmen der Arbeit auch selbst Daten, und zwar spontane Gespräche und Akzeptabilitätsurteile. In den spontanen Gesprächen, die im Südwesten des norddeutschen Sprachraums aufgezeichnet wurden, findet Weber keine Belege für die tun-Paraphrase. Dort war schon in den Zwirner-Daten die Umschreibung wesentlich seltener als im Norden. In den übrigen Regionen ist die tun-Paraphrase nur im Verbletztsatz belegt. In den schriftlichen Akzeptabilitätstests kann Weber (unter anderem) zeigen, dass die Umschreibung im Verbzweitsatz im Norden nicht nur ausbleibt, sondern dass sie tatsächlich auch schlecht bewertet wird. Diese Information ist aus dem Nicht-Vorkommen im Korpus allein nicht zu gewinnen. Weber überprüft hier auch die prosodische Hypothese, indem er zwei Sätze mit tun-Umschreibung bewerten lässt, bei denen der Satzakzent einmal auf dem Verb liegt (Wat de doar blos MOken deiht ‚Was der da bloß machen tut‘) und einmal vor dem Verb (Wer dor blos so’n KRACH moken deiht ‚Wer da bloß so’n Krach machen tut‘). Beide Sätze werden ähnlich gut bewertet, was Weber als Argument gegen die Prosodie-Hypothese wertet. Dabei sind die Daten gut mit der oben in Tabelle 1 präsentierten Verteilung vereinbar: In beiden Varianten wäre der Satzakzent ohne die Umschreibung final oder präfinal, und in genau diesen Kontexten ist die Umschreibung am häufigsten.

In zwei weiteren Teilen der Arbeit (Kap. 5 und 6) werden die empirischen Ergebnisse theoretisch interpretiert. Ich fürchte, diese Kapitel haben wenig Relevanz für all jene, die außerhalb der Generativen Grammatik arbeiten, und wage mal die Behauptung: Was von dieser Arbeit bleiben wird, sind vor allem die empirische und deskriptive Leistung, die sorgfältige Methodik und die kleinschrittige Argumentation, die doch nie die großen Zusammenhänge aus den Augen verliert. An dieser Arbeit wird niemand vorbeikommen, der sich in Zukunft mit der tun-Periphrase beschäftigen möchte.

Literatur

Keseling, Gisbert 1968. Periphrastische Verbformen im Niederdeutschen. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 91, 139–151.Search in Google Scholar

Labov, William. 2004. Quantitative Analysis of Linguistic Variation. In: Ulrich Ammon, Norbert Dittmar, Klaus J. Mattheier & Peter Trudgill (Hg.). Sociolinguistics/Soziolinguistik (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 3). Erster Teilband. 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Berlin, Boston: De Gruyter, 6–21.10.1515/9783110141894.1.1.6Search in Google Scholar

Rohdenburg, Günter. 1986. Phonologisch und morphologisch bedingte Variation in der Verbalsyntax des Nordniederdeutschen. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 114, 164–174.Search in Google Scholar

Rohdenburg, Günter. 2002. Die Umschreibung finiter Verbformen mit ‚doon‘ und ‚tun‘ und die Frikativierung stammauslautender Plosive in nordniederdeutschen Mundarten. In: NOWELE 40, 85–104.Search in Google Scholar

Published Online: 2019-03-29
Published in Print: 2019-12-04

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 1.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2019-2004/html
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