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Robert Niemann. 2018. Wissenschaftssprache praxistheoretisch. Handlungstheoretische Überlegungen zu wissenschaftlicher Textproduktion. (Lingua Academica 3). Berlin, Boston: De Gruyter. 492 S.
Robert Niemanns umfangreiche Dissertation versucht einen handlungstheoretischen Unterbau zu wissenschaftlicher Textproduktion bereitzustellen und spannt einen Bogen durch die Geschichte der Sprachwissenschaft vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu aktuellen Tendenzen der Textproduktionsforschung. Die Fülle der damit inkludierten Ansätze und Konzepte beeindruckt auf den ersten Blick, wirft jedoch gleichzeitig die Frage auf, ob eine solche Materie handhabbar ist. Das sich von vornherein manifestierende Grundproblem einer solchen Arbeit ist, wie man den vielen komplexen einzelnen in verschiedenen Kontexten angeführten Konzepten in der notwendigen Verdichtung und Pointierung gerecht werden kann. Nicht immer gelingt dies hier auf adäquate Weise. In der Einleitung werden zunächst Problematisierung und Kernargumentation, die Verortung und Hintergründe der Arbeit, das methodische Vorgehen und der Aufbau der Arbeit vorgestellt. Das übergeordnete Thema der Studie ist der typisch wissenschaftliche Sprachgebrauch mit den ihm inhärenten Spezifika:
„Es soll [...] die Frage problematisiert werden, wie das Zustandekommen von typischen und überindividuell gleichförmigen Ergebnissen des fachlichen bzw. wissenschaftlichen Sprachgebrauchs erklärt werden kann und welche Perspektiven und Instrumente hierfür notwendig erscheinen. [...] Wie ist der spezifische und typische wissenschaftssprachliche Merkmalreichtum zu erklären, der einen überhaupt erst von [...] Wissenschaftssprache sprechen lässt?“ (S. 1–2)
Um sich einer solchen Erklärung anzunähern, sollen „zunächst einmal z. T. etablierte und anerkannte Erklärungsansätze für typischen wissenschaftlichen Sprachgebrauch herausgearbeitet“ (S. 2) werden. Danach erfolgt eine Überprüfung anhand des „historischen wissenschaftlichen Sprachgebrauch[s]“ (S. 2), um die Validität der referierten Ansätze zu überprüfen. Hinzu kommen „neue empirische Daten“ (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Daten wird bereits in der Einleitung vorweggenommen, dass die Erklärungsansätze nicht mehr unmodifiziert angewendet werden können. Dies mündet in eine Ergänzung in Richtung der wissenschaftlichen Textproduktion. Die Forschungsfrage wird zwar verständlich formuliert, das Vorgehen mindestens zu Anfang des Bandes ist aber nicht ganz klar. Erst über die gesamte Lektüre erschließt sich auch die gewählte, in sich letztlich nachvollziehbare Struktur. Eine nahezu zeitgleich erschienene vergleichbar angelegte, jedoch nachvollziehbarer gegliederte Arbeit ist etwa Meiler (2018).
Die Arbeit hat zwei Hauptteile: „A – Zur Erklärung von Wissenschaftssprache“ (S. 37–258) und „C – Wissenschaftliche Textproduktion – Spezifizierung des Explanans“ (S. 273 bis zum Ende). Die Gliederung nach Buchstaben gepaart mit der gewohnten Gliederung durch arabische Zahlen verhilft somit m. E. nicht zu einer besseren Übersicht.
Der erste Hauptteil „Zur Erklärung von Wissenschaftssprache“ beginnt mit einem Unterkapitel zu wissenschaftlicher Autorschaft (2.). Hierbei wird v. a. auf das Ich-Verbot eingegangen und aus der Literatur immer wieder auf die perspicuitas verwiesen, die mit „Durchsichtigkeit“ (S. 44) übersetzt wird. Es sei das „Stil-Ideal[]“ (S. 46), diese zu erreichen. Jedoch wird dies ohne Hinzuziehung von Literatur zu wissenschaftlicher Stilistik behauptet, sieht man von Kretzenbacher (1994) ab. Der zweite, auf fünfeinhalb Seiten abgehandelte Aspekt zur Erklärung von Wissenschaftssprache befasst sich mit dem Hedging und referiert die wesentliche einschlägige Forschung, sowohl aus dem anglophonen Raum wie auch die zentralen deutschsprachigen Beiträge (S. 47–52). Zu den Sachzwängen wissenschaftlicher Publikationsprozesse, die hier in der diachronen Entwicklung wie ihrer synchronen Ausprägung wichtig sind, erfahren wir in diesem Zusammenhang nichts.
Kapitel 3 (S. 53–69) ist mit „Reflexionen über Wissenschaft“ überschrieben. Hier wird zunächst (3.1.) über „Historizität und Sozialität in der Wissenschaftsreflexion“ nachgedacht, und zwar unter Bezugnahme auf Ludwik Fleck, Thomas S. Kuhn und „[w]issenschaftssoziologische Einsichten“ wie die eines starken Wachstums der Wissenschaften und der immer größer werdenden Zahl von Fachzeitschriften, gepaart mit einer immer stärkeren Ausdifferenzierung (S. 60f.). Beim Abschnitt zu Fleck (3.1.1) fällt auf, dass hier keine tiefergehende Auseinandersetzung stattfindet; dies ist in dem Raum, der Fleck hier eingeräumt wird (S. 54–57), auch gar nicht möglich. Die einzige zitierte Literatur zu Fleck ist Rheinberger (2008), ansonsten operiert Reimann mit Zitaten aus Fleck (1980). Die Berücksichtigung der derzeit in der Forschung ausgesprochen lebhaften Fleck-Rezeption und -diskussion (zuletzt u. a. Szurawitzki 2016, Radeiski 2017) hätte die Ausführungen bereichert. Das Kapitel wird mit historisch perspektivierten Erläuterungen zur Kategorie der Objektivität komplettiert, und zwar unter den Gesichtspunkten der Naturwahrheit und Objektivität sowie des geschulten Urteils.
Nachfolgend werden konzeptionelle Ausrichtungen in der deutschen Sprachwissenschaft diskutiert (4.; S. 71–84). Auch hier lässt sich mindestens kritisch fragen, ob angesichts einer knapp 500-seitigen Dissertationsschrift ausführlicher hätte gearbeitet werden können. In der vorliegenden Form bleiben viele Fragen offen und Literatur unzitiert. Zwar ist das Ausgehen von den Junggrammatikern nachvollziehbar, ebenso wie die sukzessive Distanzierung von deren Konzepten. Der dann folgende Sprung zu Chomsky (unter der Überschrift „Die deutsche Sprachwissenschaft in den 1970er Jahren“ (!); S. 80) überzeugt m. E. hingegen nicht. Reimann begründet die Auslassung anderer wesentlicher historischer Entwicklungen kaum:
„Nicht im Einzelnen besprochen und gewissermaßen übergangen wird im Folgenden also der Strukturalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der ausgehend von Ferdinand de Saussure über Schulen wie etwa den Prager Strukturalismus (Trubetzkoy, Jakobson) oder den Kopenhagener Strukturalismus (Hjelmslev) bis heute einen durchaus prägenden Einfluss in der deutschen Sprachwissenschaft besitzt[.]“ (S. 80)
Auch der Name Karl Bühler fällt in diesem Zusammenhang nicht. Anschließend wird die kommunikativ-pragmatische Wende auf knapp zwei Seiten im Kontext des hier besprochenen Bandes thematisiert, und dies nicht unter Zuhilfenahme von Originalquellen, sondern rein über Sekundärliteratur.
An den Teil zu den konzeptionellen Ausrichtungen der deutschen Sprachwissenschaft schließt sich ein empirischer Untersuchungsteil zum unbestimmten Sprachgebrauch in der Wissenschaft an, der sowohl quantitative wie qualitative Resultate umfasst. Es wird für das gewählte Korpus eine quantitative Untersuchung der sprachlichen Mittel, die zum Ausdruck von Unbestimmtheit genutzt werden, durchgeführt, unterteilt nach Verben (dürfen, mögen, scheinen) und Modalwörtern (nicht-sicher, z. B. eventuell, möglicherweise, vs. fast sicher, z. B. sicher, offenbar). Eine vorangestellte gesonderte Erläuterung zum Korpus fehlt, man muss sich im Literaturverzeichnis unter ,Primärliteratur‘ selbst einen Überblick bilden; dort sind die untersuchten Quellen nach quantitativ und qualitativ untersuchten getrennt. Dies wirft die Frage auf, warum nicht alle Quellen quantitativ und qualitativ untersucht wurden. Schaut man auf die für die qualitative Untersuchung ausgewerteten wissenschaftlichen Beiträge (S. 467), so sieht man, dass insgesamt nur acht ausgewertet werden. Das erscheint mir viel zu wenig, um gesicherte Aussagen treffen zu können. Innerhalb der quantitativen methodischen Überlegungen (S. 109) erhält man schließlich genauere Informationen zu dem selbst zusammengestellten Korpus und – in einer klaren tabellarischen Übersicht – zu den analysierten sprachlichen Unbestimmtheitsmitteln, auf die hin quantitativ untersucht wird (S. 112). Die Auswertung der quantitativen Ergebnisse (ab S. 122) erfolgt unter Verwendung von Diagrammen und Tabellen und ist in ansprechender Weise besorgt. In der Ergebnisdiskussion (S. 141) wird „der große Unterschied im Gebrauch von Unbestimmtheitsmitteln im Vergleich zwischen den Zeiträumen 1900 und 2010“ festgestellt. Zwischen diesen beiden Zeiträumen ist sonst nur die Zeit um 1970 untersucht worden, in der sich bereits ein Bruch anzudeuten scheint. Warum nicht ein früherer Zeitraum (z. B. ca. 1930–1940) ergänzend untersucht wurde, um diachronische Entwicklungen besser zu veranschaulichen, bleibt unklar. Insgesamt scheint quantitativ zu Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich häufiger Unbestimmtheit auf; für ein ausführliches Referat fehlt hier der Raum (vgl. S. 122–146).
Innerhalb der qualitativen Untersuchung kann ich (vgl. oben) die m. E. zu geringe Menge an untersuchten Texten nicht nachvollziehen (je zwei zur Mundartforschung und aus dem Bereich der Junggrammatiker um 1900, je zwei aus der generativistischen Linguistik und der Pragmatik um 1970). Dazu kommt, dass sieben der acht Beiträge aus Zeitschriften stammen, einer jedoch (Bierwisch) aus einem Sammelband. Eine systematische und nachvollziehbare Korpuszusammenstellung sieht anders aus. Eine Begründung der finalen Auswahl erfolgt nicht.
Blicken wir auf die Resultate: Bei der Untersuchung der einleitenden Textteile fällt auf, dass Robert Niemann offenkundig diverse Forschungsbeiträge nicht kennt, die sich mit genau diesem Thema auseinandergesetzt haben (u. a. etwa Petkova-Kessanlis 2009 oder auch Szurawitzki 2011) und somit hier (etwa S. 150–151) im Kontext der Frage expliziter vs. impliziter sprachlicher Strategien hinter bereits existierende Studien, die weit größere Korpora zu Grunde legen, zurückfällt. Die für den Zeitraum 1900 gefundenen Funktionen (S. 201), wie Rechtfertigungen, Ankündigungen oder Absichtsbekundungen, hätten unter Verwendung der Terminologie aus der o. g. Literatur in einschlägige Forschungsdiskurse eingebettet werden können; dies unterbleibt jedoch. Ähnlich wie beim Zeitraum um 1900 verhält es sich bei der Untersuchung der Einleitungen aus der Pragmatik (v. a. S. 212), die unsystematisch angelegt ist. Insgesamt liest sich der Ertrag aus der qualitativen Empirie eher dürftig: „Es lässt sich im Grunde kein großer Unterschied in der Qualität des Unbestimmtheitsgebrauchs zwischen den unterschiedlichen konzeptionellen Ausrichtungen erkennen.“ (S. 258). Das dann folgende Zwischenfazit (Teil B) scheint – wie oben bereits angedeutet – deplatziert.
Der darauffolgende Teil C soll das Explanans der Wissenschaftlichen Textproduktion spezifizieren. Warum dieser Teil nach der Empirie steht, ist auf der sehr dünnen qualitativen Grundlage nicht nachzuvollziehen; dies schwächt m. E. die gesamte Arbeit. Eine handlungstheoretische Fundierung, die von schmalen Befunden ausgeht, hat kaum das Potenzial für belastbare zu entwickelnde Prinzipien. Außerdem würde man einen konstanten Einsatz der vorgelegten Resultate erwarten, um bestehende Theorien angemessen zu hinterfragen und zu modifizieren. Dies jedoch geschieht im Laufe der Lektüre dieses Teils der Untersuchung viel zu selten. Manchmal liest sich die Studie als sehr salopp verfasst, so etwa, wenn Niemann noch „(kurz) [...] auf ein paar Ausführungen von Jan Georg Schneider“ (S. 325) eingeht. Insgesamt verarbeitet Niemann eine Anzahl relevanter Theorien, die jedoch m. E. zu unverbunden nebeneinander stehen und zu wenig explizit kontextualisiert werden.
Insgesamt lässt die Studie von Robert Niemann viele Fragen offen. Eine Konzentration auf bestimmte Aspekte und tiefergehende qualitative Analysen wäre m. E. wünschenswert gewesen. Es besteht im praxistheoretischen Bereich der Wissenschaftssprachforschung viel Potenzial für weitere Arbeiten, dies kann Niemann immerhin andeuten.
Literatur
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