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Sascha Wolfer. 2017. Verstehen und Verständlichkeit juristisch-fachsprachlicher Texte (Korpuslinguistik und interdisziplinäre Perspektiven auf Sprache 7). Tübingen: Narr/Francke/Attempto. 312 S.
In der kognitionswissenschaftlichen Textanalyse im Besonderen und bei der linguistischen Textanalyse allgemein spielen Fragen nach der Verständlichkeit eines Textes eine tragende Rolle. Textproduzenten und Textrezipienten stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis, um einem Text Sinn zuzuschreiben. Schwer zu beantworten ist dabei jedoch die Frage, ab wann ein Text als verständlich gelten kann. Welches sind geeignete Parameter für die Bestimmung der Verständlichkeit eines Textes? Fachsprachlich geprägte Texte gelten dabei vielfach als besonders schwer verständliche Texte, was auf der Hand liegt, da sie komplexe Inhalte vermitteln, die unter Umständen nur einer Gruppe entsprechend vorgebildeter Personen zugänglich sind. Eine Sonderrolle nehmen dabei Texte aus der Domäne des Rechts ein. Zum einen sind sie besonders oft dem Vorwurf der Unverständlichkeit ausgesetzt, zum anderen sind sie häufiger und auch mit einer höheren Dringlichkeit an die Öffentlichkeit gerichtet als andere Fachtexte. Sascha Wolfer setzt mit seiner Dissertation an dieser Stelle an und analysiert die Rezeption juristisch-fachsprachlicher Texte durch Laien mit einer innovativen Methode.
Die Dissertation besticht durch einen klaren Aufbau und ist in acht Kapitel gegliedert. Nach der knappen Einleitung in das Thema, in der Wolfer die Frage aufwirft, ob juristische Fachtexte überhaupt optimierungsbedürftig sind (S. 10), ordnet der Autor seine Arbeit der Linguistik und der Kognitionswissenschaft zu. In Kap. 2 werden passend dazu kognitionswissenschaftliche Modelle der menschlichen Textverarbeitung angeführt. Hier unterscheidet er auch Textverarbeitung und Textverstehen von Verständlichkeit und dem Prozess ihrer Herstellung. Im Besonderen wird dies anhand der Anaphernauflösung gezeigt, wobei auch die Annotationsebenen im verwendeten Korpus bereits einbezogen werden. In Kap. 3 werden ergänzend Verständlichkeitsmodelle beschrieben. In diesem Kapitel setzt sich Wolfer aber auch kenntnisreich mit der Situation in der deutschen Rechtssprache (und dem Rechtsetzungsverfahren) auseinander und gibt dabei des Weiteren Einblicke in das schweizerische Gesetzgebungsverfahren. Außerdem wird in diesem Kapitel das Konzept der plain language eingeführt, womit bereits auf die Reformulierungsverfahren verwiesen wird, die später in der Analyse zum Einsatz kommen. Auch aus dem Kontext der barrierefreien bzw. der Leichten Sprache sind Reformulierungsverfahren bekannt und werden teilweise schon erfolgreich umgesetzt. Wichtig für den Fortgang der Arbeit sind dann die kritischen Fragen und Diskussionspunkte, die Wolfer in Kap. 4 zu Blickbewegungsmessungen – den Messungen des Fixations- und Leseverhaltens von Probanden – im Zusammenhang mit der Verständlichkeit von Texten aufwirft:
„Wie eng ist die Verbindung zwischen kognitiven Prozessen auf höheren Ebenen und Blickbewegungen? Sollte es der Fall sein, dass Blickbewegungen tatsächlich nur von oberflächlichen Eigenschaften des Perzepts (in unserem Fall dem geschriebenen Text) abhängen, würde das ein schwerwiegendes Problem darstellen, wenn wir diese Methode einsetzen, um Aussagen zur Verständlichkeit abzuleiten.“ (S. 77)
Es ist – wie hier exemplifiziert – einer der großen Vorteile der Arbeit, dass mögliche Probleme bei der Analyse stets angesprochen und diskutiert werden, auch wenn dies an manchen Stellen den Lesefluss beeinträchtigt. Blickbewegungskorpora können, so Wolfer dann weiter, demnach nicht alle Phänomene abdecken, die psycholinguistisch potenziell interessant wären (S. 85). Darauf aufbauend stellt der Autor seine Methoden und das Korpus näher vor. Wolfer untersucht in seiner Arbeit sowohl natürlich-sprachliche Texte als auch „gezielt reformulierte Textpassagen“, wobei ihn die Auswirkungen der Reformulierungen auf den Verstehensprozess interessieren (S. 10). Ausgangspunkt der Arbeit ist das Freiburg Legalese Reading Corpus (FLRC). Dieses Korpus besteht aus einem Teil mit ausschließlich natürlich-sprachlichen Texten, den Originaltexten, und einem zweiten Teil, dem sogenannten Reformulierungsteil (S. 91). Bei den Originaltexten handelt es sich um Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), diese sind: Strafvorschriften über den Umgang mit Cannabis, Beteiligung deutscher Soldaten am AWACS-Einsatz der NATO, die Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts in Deutschland sowie die dazugehörigen Pressemitteilungen und je ein Zeitungsartikel, der sich mit der Gerichtsentscheidung befasst. Als Auswahlkriterien dienten eine ausreichende Länge der einzelnen Texte sowie ein Widerhall in den Medien. Unter den Originaltexten sind also Entscheidungen, Pressemitteilungen und Zeitungstexte. Hieraus generiert Wolfer ein Teilkorpus mit Originalsätzen. Die Sätze werden reformuliert und bilden den Reformulierungsteil. Es ist eine wesentliche und interessante Vorgehensweise dieser Untersuchung, dass mit Originaltexten und reformulierten Daten gearbeitet wird. Nicht entscheidend ist für Wolfer der Umfang des Korpus. Zwar schreibt Wolfer, dass eine breitere Textbasis wünschenswert gewesen wäre; die Probanden, die über keine juristische Vorbildung verfügten, seien jedoch nicht unbedingt in der Lage gewesen, noch weitere Texte zu verarbeiten. Es wurde daher eine größere Gruppe an Personen – es sind Studierende der Universität Freiburg – eingesetzt und nicht ein höherer Textumfang. Zu beiden Teilen – reformuliert und natürlich – mussten neben den Blickbewegungsmessungen auch Fragen beantwortet werden. Wir erfahren ferner, dass die Reformulierungen von Linguisten vorgenommen wurden. Juristische Gewährspersonen haben die reformulierten Texte auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft. Dies ist entscheidend, denn eine Verfälschung des juristischen Sachverhalts wäre bedenklich; aus meiner Sicht würden dann die Reformulierungen in den untersuchten Rechtstexten ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Allgemeine Aussagen zur Textverständlichkeit könnten eventuell zwar dennoch getroffen werden, aber es würde das Untersuchungsdesign zumindest in Frage stellen. Kap. 5.2 schließlich widmet sich der linguistischen Oberflächenanalyse der verwendeten Texte. Ins Zentrum seines Erkenntnisinteresses stellt der Autor Nominalisierungen und komplexe Nominalphrasen sowie Sätze mit einer komplexen syntaktischen Struktur. Die Ergebnisse der korpuslinguistischen Studien werden in den Kapiteln 6 und 7 präsentiert (S. 103), den beiden Hauptkapiteln der Dissertation.
Reformuliert wurden Nominalisierungen mit dem Suffix -ung (ersetzt durch die verbale Form des Lemmas). In einem zweiten Reformulierungsschritt (sog. starke Reformulierung) wurde die Ersetzung der Nominalisierung durch eine Nebensatzkonstruktion mit finitem Verb vorgenommen. So war es bei der Reformulierung unter anderem das Ziel, die -ung-Formen zu reduzieren. Die Ergebnisse der Oberflächenanalyse sind aus korpuslinguistischer Perspektive unbestreitbar aufschlussreich. Jedoch bin ich unsicher, ob auch stärker an juristischen Fragen Interessierte die Ergebnisse für sich fruchtbar machen können. Der anspruchsvolle Text der Dissertationsschrift ist den komplexen Analysen geschuldet, wobei der Autor durchaus durch Zwischenschritte Ebenen einzieht, die das Verständnis erleichtern. Wissenschaftler, die sich mit dem methodischen Verfahren der Blickbewegungsmessungen befassen, erhalten in Wolfers Arbeit einen sehr guten Überblick über dieses Vorgehen. In Kap. 6 werden die Ergebnisse der Lesestudie vorgestellt (S. 145), vor allem in Bezug auf nicht-blickbewegungsbasierte Maße wie die Gesamtlesedauer und die Antwortperformanz. In Kap. 7 werden die Blickbewegungsdaten ausgewertet. Eine Einführung in die verwendeten statistischen Methoden wird den empirischen Ergebnissen vorangestellt. In der Auswertung der Lesezeiten macht Wolfer eine interessante Beobachtung:
„Bezüglich der Gesamtlesezeit fallen insbesondere die stark reformulierten syntaktisch komplexen Texte aus dem Rahmen, sie werden von allen Texten am längsten gelesen. Außerdem zeigte sich in einer Nachanalyse, dass der Effekt der Textlänge auf die Lesedauer in langen Texten schwächer wird (im Vergleich zu kürzeren Texten). Anders formuliert: Wenn ein Text schon relativ lang ist, scheint es weniger ausschlaggebend zu sein, ob er noch etwas länger wird. Kommen bei einem kurzen Text noch einige Wörter hinzu, scheint dies größere Auswirkungen zu haben.“ (S. 172)
Dies ist ein Ergebnis der Arbeit, welches sicherlich auch für weitere Studien Ansatzpunkte bietet und hilfreich sein kann, wobei im abschließenden Kap. 8 noch einige Einschränkungen zur Korrelation von Lesezeitmaßen und Verständlichkeit gemacht werden (S.286). Die Auswertung der Blickbewegungsdaten wird auf der lexikalischen, der syntaktischen oder Textebene vorgenommen. Bi- und Trigramme wurden dabei nochmals gesondert untersucht. Aus meiner Perspektive fällt es schwer, hier Einzelaspekte dieser Ergebnisse näher zu besprechen, da die jeweiligen Beobachtungen sehr voraussetzungsreich sind und eine entsprechende Erläuterung in der vom Umfang her äußerst angemessenen Dissertation gut nachgelesen werden kann.
Das achte Kapitel trägt den Titel „Implikationen“ und bildet den Schluss der Arbeit. Wolfer kommt hier noch einmal auf die bereits angesprochenen Reformulierungen im Bereich der Nominalisierungen zu sprechen und konstatiert, „dass Nominalisierungen in der Tat langsamer verarbeitet und seltener übersprungen werden als alle anderen Nomen“ (S. 281). Wolfer stellt auch Ergebnisse dazu vor, „welche Wörter jene sind, die am langsamsten gelesen werden“ (ebd.), wobei wiederum die Nominalisierungen auffällig waren. Neben den Nominalisierungen spielten aber auch die syntaktisch komplexen Sätze eine hervorgehobene Rolle in der Untersuchung. Besonders lange Sätze wurden im Zuge der Reformulierungen getrennt, wodurch sich ein beschleunigender Effekt der Einbettungstiefe für die reformulierten Texte im Unterschied zu den Originaltexten ergab. Dabei erscheint mir die folgende Hypothese für weitere Arbeiten aufschlussreich zu sein:
„LeserInnen scheinen also die Einbettungstiefe von modifizierenden Strukturen als Hinweis auf deren Relevanz zu verstehen. Aus verarbeitungsökonomischen Gründen widmen sie dann jenen Strukturen, die als weniger zentral für die Aussage des Satzes angesehen werden, weniger Aufmerksamkeit.“ (S. 284)
Innovativer Zugang zur Fachtextanalyse
Offen bleibt bei der Lektüre lediglich, inwiefern die Besonderheiten der juristischen Fachtexte eine Rolle spielen und damit auch ein Dialog mit den juristischen Experten erwünscht ist. Das sehr klare Ergebnis hinsichtlich der Nominalisierungen beispielsweise wird so eventuell nicht so stark rezipiert, wie es die Arbeit verdient hätte. Für den psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Arbeitsbereich ist sie ohnehin und zweifelsfrei von großem Wert.
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