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Jörg Riecke (Hg.). 2017. Sprachgeschichte und Medizingeschichte. Texte – Termini – Interpretationen (Lingua Historica Germanica 16). Berlin, Boston: De Gruyter. vi, 302 S.
„Wie kanns im Maul ligen, das in der Pracktick ligt?“ Mit diesem markigen paracelsischen Zitat aus dem Paragranum sprach der Heidelberger Germanist Wilhelm Kühlmann in seinem öffentlichen Abendvortrag, der im Rahmen der dem vorliegenden Buch zugrundeliegenden Tagung stattfand, ein zentrales Problem der historisch-medizinischen Lexikographie an, nämlich das Verhältnis zwischen verba und res. So hatte der Hohenheimer seinen akademischen Widersachern auch ein „Die Artzney ist kein Geschwätz [...] Sondern ein werck der thaten“ entgegegengeschleudert und mit dieser fundamentalen Kritik eine große Strahlkraft und Wirkmächtigkeit entfaltet. Allerdings bemühten sich seine Anhänger, die „Sturmvögel des Paracelsismus“ (Joachim Telle), in den Jahrzehnten nach Paracelsus’ Tod im Interesse der Anschlussfähigkeit der Schriften des Meisters darum, die „Dunkelheit“ vieler seiner Begriffe aufzuhellen und diese zu explizieren, wie Kühlmann erläuterte. „Dunkelheit“ und Polysemie einer großen Zahl der Begriffe einer sich entwickelnden Fachsprache ist jedoch keineswegs nur ein Problem der paracelsischen Schriften. Beides ist insgesamt auch für deutschsprachige medizinische Texte, wie sie seit dem frühen Mittelalter fassbar werden, festzustellen. Insofern ist es besonders hervorzuheben, dass sich die von Jörg Riecke organisierte Heidelberger Tagung „Sprachgeschichte und Medizingeschichte. Texte – Termini – Interpretationen“ (2014) nicht ausschließlich theoretischen Fragen der Fachprosaforschung und der Fachsprachenforschung widmete, sondern im Sinne eines „werck[es] der thaten“ auch konkrete Möglichkeiten sondierte, eine bedauerliche lexikographische Lücke zu schließen.
Im Jahr 2017 ist der von Jörg Riecke herausgegebene Tagungsband Sprachgeschichte und Medizingeschichte als Band 16 der renommierten Reihe „Lingua Historica Germanica“ der Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte erschienen. In seiner Einleitung betont Riecke die Heidelberger Tradition der Fachprosaforschung und hebt das Entstehen des Deutschen Rechtswörterbuchs an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hervor, bedauert aber, dass „ein vergleichbares Unternehmen [...] für die Medizin leider nie begonnen“ (S. 1) wurde. Insofern läuft der gesamte Band stringent auf den abschließenden Beitrag von Thomas Gloning zu, dessen Titel lautet: „Wie kann ein modernes Dokumentationssystem zum deutschen Sprachgebrauch der Medizin von den Anfängen bis zur Gegenwart aussehen?“. Konsequenterweise thematisieren die übrigen Beiträge nicht nur Einzeltexte und Textgruppen, sondern auch Hilfsmittel wie den Handschriftencensus und das ebenfalls in Heidelberg angesiedelte Frühneuhochdeutsche Wörterbuch. Viele der Autor*innen nehmen zudem in ihren jeweiligen abschließenden Bemerkungen Bezug auf ein möglicherweise kollektiv zu erarbeitendes Dokumentationssystem zur Geschichte der deutschen medizinischen Fachsprache. Insofern ist der vorliegende Tagungsband durchaus heterogen. Der zeitliche Rahmen spannt sich vom frühen Mittelalter bis zum späten 19. Jahrhundert; die Beiträge liefern detaillierte Beschreibungen einzelner Textzeugen, bieten Vorschläge zur Erfassung der insbesondere für das Mittelalter nach wie vor unzureichend erschlossenen Texte oder zu deren lexikographischer Bearbeitung und lassen sich zu einem geringeren Teil auch auf die medizinhistorische Interpretation der Quellen ein. Teils knapp und programmatisch formulierte Beträge mischen sich mit deskriptiven Texten und vertieften Analysen sowie mit Kühlmanns eingangs erwähnter rhetorisch ausgefeilter Darstellung der Sprachproblematik im Frühparacelsismus. So bietet das Buch in jedem Fall die Möglichkeit einer gleichermaßen abwechslungsreichen wie ertragreichen Lektüre.
Die 17 chronologisch geordneten Beiträge eröffnet Bernhard Schnell mit einem Text unter dem Titel „Die deutsche Medizinliteratur des Mittelalters. Vorüberlegungen zu einer historischen Darstellung“. Nicht zu Unrecht ruft der Autor zunächst in Erinnerung, vor welch großen textlichen Problemen die Medizinhistoriographie des Mittelalters und insofern auch jede zukünftige lexikographische Bearbeitung der Anfänge einer deutschen medizinischen Fachsprache steht: „Ein umfassendes Verzeichnis der deutschen medizinischen Texte des Mittelalters, das auf dem heutigen Forschungsstand ist, gibt es nicht.“ (S. 3) In der Folge präzisiert er seine Vorüberlegungen und liefert bereits eine chronologisch von ca. 800 bis ca. 1350 reichende, sehr nützliche Liste der einzelnen Werke.
Einen interessanten interdisziplinären Aspekt greifen Stefanie Stricker, Anette Kremer und Vincenz Schwab mit dem Beitrag „Die Leges barbarorum als Quelle der Medizingeschichte“ auf. Die Autor*innen stellen Erkenntnisse aus dem rechtsgeschichtlichen Bamberger Leges-Projekt (Digitale Erfassung und Erschließung des volkssprachlichen Wortschatzes der kontinentalwestgermanischen Leges barbarorum in einer Datenbank) zur Verfügung. Da die in gut 300 Handschriften überlieferten Gesetze sich zu einem nicht geringen Teil auch auf Medizin und Heilkunde beziehen, bewahren sie teils ansonsten verlorene Begriffe, für deren Wiedergabe man heute nur noch Umschreibungen nutzen kann. Mag ein Begriff wie hirniwuotig (‚tobsüchtig‘) auch heute noch verständlich sein, so gilt dies beispielsweise nicht für den Terminus wasobūh (‚Rasenbauch‘), der aus einer gänzlich vergangenen kulturellen Praxis stammt: Die Lex salica legt fest, wie viel Buße für einen ‚Rumpf auf dem Rasen‘ zu zahlen ist. Gemeint ist ein „Gegner, dessen Gliedmaßen abgeschlagen wurden und dessen Rumpf am Ort des Kampfes zurückgelassen wird“ (S. 30) – das Beispiel bietet einen Einblick in die Erkenntnisse, die Medizinhistoriker*innen bezüglich vormoderner Körperkonzepte aus dieser Quelle gewinnen können, wird doch die Bedeutung von Körperteilen, Körpersekreten und Verletzungen in einem eigenen, rechtlichen Kontext dargestellt.
Der Beitrag von Jürgen Wolf „Medizinisches im Handschriftencensus – Zugänge, Fragestellungen, Hilfsmittel, Optionen, Zukunftsprojektionen“ ist wiederum einem digitalen Erfassungsprojekt gewidmet, mit dem das „gesamte deutschsprachige Handschriftenerbe des Mittelalters in einer Datenbank systematisch“ erfasst werden soll. Den zahlreichen Erfassungsschwierigkeiten und „Unschärfeproblemen“ zum Trotz soll der Handschriftencensus in Zukunft „Überlieferungsplattform, Forschungsplattform, Forschungsnetzwerk und Kommunikationsinstrument in einem“ (S. 43) sein, ein sehr verlockendes Instrument also für Medizinhistoriker*innen des Mittelalters, deren Zahl mit einer derart verbesserten Forschungsbasis durchaus wieder steigen könnte.
Einen einzelnen Text auch in inhaltlicher Hinsicht erläutert der Beitrag von Lenka Vănková „Krankheitsbezeichnungen in der Chirurgia des Juden von Salms“ (15. Jhd.), während Lenka Vondrážková eine Beschreibung der Prager Handschrift von Konrad von Megenbergs Buch der Natur (14. Jhd.) präsentiert. Anschließend widmet sich die Medizinhistorikerin Ortrun Riha der deutschen medizinischen Fachsprache am Beispiel des gut bekannten und überlieferten ersten systematischen Lehrbuchs der Medizin, des Arzneibuchs Ortolfs von Baierland(um 1300). Systematisch und detailliert untersucht sie die Begriffe zu Körper und Körperfunktionen, Krankheitsauslösern, Beschwerden und Zeichen, Krankheiten und Behandlung. In ihren „Schlussfolgerungen für ein fachsprachliches Lexikon“ (S. 93) weist sie nachdrücklich auf die Kontextbezogenheit und somit Kommentarbedürftigkeit der fachsprachlichen Begriffe hin und fordert „große Transparenz hinsichtlich der jeweiligen Textgrundlage“ (S. 94), sowie intensive interdisziplinäre Kooperation.
Ein medizinisch-diätetischer Codex der Bayerischen Staatsbibliothek München aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt des Beitrags von Melitta Weiss Adamson. Er überliefert neben Kochbüchern auch ein fragmentarisches Arzneibuch – diese Tatsache zeigt neben den in den Rezepten genannten Zutaten eine Kontinuität zwischen Küche und Krankenzimmer. Insgesamt neun Überlieferungen des Gebetes „wider die plag der malefrantzoß“ aus dem 15. und 16. Jahrhundert bespricht Kathrin Clench-Priber in ihrem Beitrag, der nochmals die Relevanz von Datierungsfragen für die Interpretation deutlich macht. So könnte die frühe Datierung eines der Textzeugen und damit die Erwähnung des Begriffs Franzosenkrankheit vor 1494/95 (also dem üblicherweise angeführten Zeitpunkt für das erstmalige Auftreten der Erkrankung bei der Belagerung Neapels durch die Franzosen in dem Jahr, das gemeinhin bei der Erläuterung der Etymologie angeführt wird) eine alte Diskussion über den Ursprung der Syphilis neu entfachen.
Einen übergreifend-programmatischen Beitrag liefert anschließend Anja Lobenstein-Reichmann mit „Medizinisches im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“. Sie zieht die Konsequenz aus der Unbestimmtheit und Polysemie vieler frühneuzeitlich-medizinischer Begriffe, die sie eher einer Alltagssprache als einer Fachsprache mit den Charakteristika von festgelegten Definitionen, Exaktheit, Normiertheit, Wohlbestimmtheit, Eindeutigkeit und Autonomie (nach Thorsten Roelcke) zuordnet. In Anbetracht der komplexen Gemengelage einer sich erst entwickelnden medizinischen Fachsprache schlägt sie vor, „den Expertendiskurs in seinem Verhältnis zum Alltagsdiskurs zu betrachten und damit alle Wortschatzebenen zu integrieren“. Damit wendet sie den eingangs zitierten paracelsischen Aufruf zur Praxis mit der Forderung, „dass ein medizinhistorisches Wörterbuch ein Wörterbuch der Sprecher, nicht das einer Fachsprache werden soll“, in eine neue Richtung. Es folgt der bereits besprochene, wortgewaltige Text von Wilhelm Kühlmann „Materia medica als Problem. Sprachdiskussion und Lexikographie im Paracelsismus“.
Einige weitere Beiträge sind sehr spezifisch, so diejenigen von Johannes Gottfried Mayer, „Fachterminologie und Übersetzungsstil im Leipziger Drogenkompendium und im Gart der Gesundheit, den größten deutschsprachigen Kräuterbüchern des 15. Jahrhunderts“, von Ágnes Kuna, „Die sprachlichen Muster von Anweisungen in ungarischen medizinischen Rezepten des 16.–17. Jahrhunderts“ und Józef Wiktorowicz, „Medizinisches Wissen in einem populärwissenschaftlichen Buch über den Kaffee aus dem Jahr 1686“.
Drei Beiträge sind dem 18. und 19. Jahrhundert gewidmet: „Das hundertjährige Alter. Medizinische Ratgeber aus dem 18. Jahrhundert“ (Rainer Hünecke), „In arte medica & chirurgica gegrndet – Medizinische Berichte des 18. Jahrhunderts in Handschrift und Druck“ (Bettina Lindner, zu einem Sektionsbericht aus Ulm von 1707) und „Medizinische Sprache in historischer Werbung“ (Jörg Meier).
Am Ende des Tagungsbandes steht ein wiederum programmatischer Beitrag von Thomas Gloning „Ein digitales Wörterbuch-System zur älteren Medizin. Textkorpus, Darstellungsformen, Kollaborationsformate“, der, wie oben angedeutet, das der Tagung zugrundeliegende Desiderat in ein konkretes Programm übersetzt. Er stellt ein (geplantes) integriertes digitales Informationssystem vor, das drei aufeinander bezogene Komponenten enthalten soll: ein historisches Textkorpus, eine lexikalisch-lexikologische Dokumentationskomponente und eine „Wissenskomponente, in der in strukturierter Form Teilthemen der Sprachgeschichte der Medizin und einer Geschichte medizinischer Auffassungen und Ideen dargestellt werden.“ (S. 293–294) Ein solch umfassendes, vermutlich kollaborativ aufzubauendes Projekt auch jenseits der „akademiegestützten Großlexikographie“ wäre außerordentlich erstrebenswert und hat dieser Tage mit der Eröffnung des „Zentrums für digitale Lexikographie“ (zentrum-lexikographie.de) vielleicht eine erste institutionalisierte Anlaufstelle.
Insofern wünscht man dem Tagungsband, wenn er auch relativ heterogen wirkt, mit seiner Programmatik viele Leser*innen und dem Großprojekt viel Kraft und günstige Winde getreu der paracelsischen Devise: „Glaubt den wercken/ nit den worten: die wörter seind lehre ding/ die werck aber zeigen sein Meister.“
© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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