Reviewed Publication:
Daniel Silva (Hg.). 2017. Language and Violence. Pragmatic perspectives (Pragmatic & Beyond New Series 279). Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins. 256 S.
Der Band Language and Violence umfasst neun Aufsätze, denen ein Vorwort des Herausgebers voran- und ein Index nachgestellt sind. Dem Untertitel Pragmatic perspectives entsprechend heben die Aufsätze weniger auf formale Charakteristika gewaltsamer Sprache ab, sondern behandeln vorrangig konkrete Handlungen und deren Effekte im Zusammenspiel mit inner- und außersprachlicher Gewalt.
Grundlegend ist dabei, wie Silvas Vorwort zu entnehmen ist, die Anerkennung der epistemischen Vielfalt der Welt. Dies schlägt sich zum einen darin nieder, dass neben linguistischen auch anthropologisch-philosophische Stimmen Beachtung finden, sowie zum anderen darin, dass sich die untersuchten Handlungen meist an den Rändern der betreffenden Gesellschaften abspielen. Zudem soll ein eurozentristischer Bias dezidiert vermieden werden zugunsten von „knowledges and practices from the margins of the world“ (S. 4). Folgerichtig liegt der Schwerpunkt insgesamt außerhalb Europas, hat allerdings eine Schlagseite in Richtung brasilianischer Phänomene, die in sechs der neun Aufsätze im Zentrum stehen. Den Anspruch größtmöglicher Diversität löst der Band damit (geographisch) im Sinn einer Abgrenzung von der westlichen Forschungstradition ein, weniger innerhalb seiner selbst.
Auch die theoretische Basis der Aufsätze ist von wiederkehrenden Namen und Konzepten geprägt – unvermeidlich aus der pragmatischen Perspektive hervorgehend das Verständnis von Sprechen als Handeln nach Austin und Searle; aber auch auf Judith Butlers Gedanken zu Hate Speech und Gender nehmen nahezu alle Aufsätze Bezug. Zentral sind daneben Derridas Konzept der iterability, nach dem das gewaltsame Potenzial sprachlicher Äußerung in deren Wiederholung (und Wiederholbarkeit) liegt, und Briggs‘ ähnlich gelagerte communicability bzw. communicable cartographies, die auf die Beweglichkeit sprachlicher Zeichen durch Raum und Zeit abheben. Als Gedanke, der sich durch alle Aufsätze zieht, lässt sich ein Bewusstsein für die Konstruiertheit bzw. das konstruktive Potenzial und die Interdependenz sozial-sprachlichen Handelns, sozial-sprachlicher Identitäten und sozial-sprachlicher Variablen und Kategorien im Allgemeinen ausmachen, deren Auswirkungen jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln ausgelotet werden. Auffallend ist dabei, dass keiner der Aufsätze einem anderen direkt widerspricht; größere Unterschiede lassen sich lediglich in der Schwerpunktsetzung und Zusammenstellung der zugrunde liegenden Theorien ausmachen, nicht aber hinsichtlich der Theorien selbst. Auch explizite, empirisch prüfbare Definitionen des Gewalt-Begriffs werden nicht geliefert. Diese relative Homogenität (geographisch wie theoretisch) lässt sich als Schwäche wie als Stärke des Bandes auslegen: Abweichende Perspektiven, Streitpunkte und definitorische Probleme werden ausgeblendet, womit ein Eindruck von Harmonie entsteht, die so im Fach nicht vorliegt.[1] Jedoch sind die Perspektiven trotz ihrer Ähnlichkeit keineswegs deckungsgleich, sondern greifen vielmehr wie Puzzleteile desselben Bildes ineinander und ermöglichen in ihrer spezifischen Zusammenstellung eine besondere Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Theoriengerüst.
Die Grobaufteilung in je drei Aufsätze folgt drei als leitend postulierten Beziehungen zwischen Sprache und Gewalt: 1. Gewalt beeinflusst Sprache bzw. Zeichensysteme und Ausdrucksmöglichkeiten, 2. Sprache kann Gewalt auslösen bzw. selbst gewaltsam sein und 3. zwischen diesen Beziehungen besteht ein Wechselspiel, das wiederum Einfluss auf die Beteiligten nimmt und Effekte produziert.
Teil 1: The language of violence
Renzo Taddei eröffnet den Band mit seinem Aufsatz „The invention of violence“, angelehnt an Wagners (1975) The Invention of Culture. Er untersucht das Zusammenspiel der Verhaltensweisen argentinischer Fußballfans (barra bravas) und der lokalen Polizei und stellt heraus, dass Faktoren wie maskuliner Habitus oder Nationalismus eine Rolle spielen, keine dieser Variablen für sich genommen jedoch ausreicht, um die beobachteten Situationen erklären zu können. Als Ausgangspunkt wählt er daher Wagners Konzept der ‚Erfindung‘ von Kulturen, innerhalb dessen das, was als ‚gegeben‘ oder ‚abweichend‘ betrachtet wird, erst konstruiert wird. Das Eskalationspotenzial der Fußballspiele ergibt sich dabei aus unterschiedlichen ‚Erfindungen‘ seitens Polizei und Fans: Letztere streben nach Heldentaten (protagonismo) und sehen die Polizei als Hindernis, das zu überwinden Teil des Strebens ist – je gewaltsamer die Polizei reagiert, desto größer das Eskalationspotenzial, wodurch sich die Polizei in einem „constant state of neurosis“ befindet, die Fans dagegen in „permanent hysteria“ (S. 34). Eine explizite Thematisierung der sprachlichen Dimension dieser Prozesse bleibt allerdings aus.
Ana Paula Galdeano widmet sich der Vernetzung von Sprache und Gewalt im zeitlich-relationalen Verlauf anhand von Community-Gesprächen in Vororten von São Paulo. Bei ihr sticht Sprache als entscheidendes Element eskalativer Prozesse heraus: „language is not merely a particular source of information about the conflicts; it rather is the main front of these conflicts“ (S. 68). Das Sprechen über Gewalt hat in den untersuchten Gesprächen ebenfalls gewaltsame Folgen: Es diskriminiert und kriminalisiert betroffene Gruppen, verbreitet Angst durch Narrative, legitimiert gewalttätige und illegale Racheformen und unterminiert die Legitimität staatlicher Institutionen, deren Durchgreifen als zu schwach oder ineffektiv konstruiert wird. Sprachliche Gewalt erscheint dabei nicht nur als singulärer Akt, sondern als Instanz in einem zeitlich-räumlichen Geflecht, das auch zukünftige Ereignisse beeinflusst.
Auch RuthGoldstein hat dieses Geflecht im Blick, hebt jedoch stärker auf die räumliche Komponente ab, indem sie Menschen- und speziell Frauenhandel auf der lateinamerikanischen Inter-Oceanic Road und dessen sprachliche Auswirkungen untersucht: „I argue that the discourse travels further than the people themselves“ (S. 79). Sprachliche Gewalt wie die Bezeichnung puta für Prostituierte wird ebenso behandelt wie Gewalt, die falschen Versprechungen durch Menschenhändler innewohnt. Daneben hebt die Autorin Formen der Gewalt hervor, die gerade dem Fehlen von Sprache entspringen und sich etwa im Herunterspielen oder Nicht-Erwähnen physischer Gewalt und daraus folgendem Nicht-Handeln äußern oder durch fehlende sprachliche Fähigkeiten, wie Lesen und Schreiben oder das Beherrschen einer Sprache, zustande kommen bzw. ermöglicht werden.
Teil 2: The violence of language
Der zweite Teil des Bandes behandelt Phänomene, in denen Gewalt durch Sprache verursacht oder verarbeitet wird. DanielSilva diskutiert, wie Gewalt im Diskurs zirkuliert, metasprachlich aufgegriffen wird und dadurch weiterhin gewaltsam ‚wirkt‘:
„violent words are not mere representations of some pre-existing violence in the world; they are rather pragmatic acts that work (or fail to work) as long as they circulate“ (S. 112).
Davon ausgehend plädiert er für eine Theorie, die nicht nur pragmatische, sondern auch metapragmatische Charakteristika gewaltsamer Diskurse erfasst; auch das bloße Erwähnen gewaltsamer Ausdrücke betrachtet er als weitere Instanz eines Gebrauchs derselben – die Intention ist für ihn dabei nachrangig. Sein Beispiel (Hate Speech gegen in Rio de Janeiro oder São Paulo lebende Nordost-Brasilianer und dessen diskursive Vor- und Nachbereitung) untermauert seine Theorie, zeigt jedoch auch ihre Lücken auf, denn auch Silvas Beitrag selbst wäre damit eine (gewaltsame) mentioning-Instanz des abwertenden Sprachgebrauchs.
Als einziger Aufsatz, der sich explizit mit Definitionen gewaltsamer Sprache (und deren Auswirkungen) auseinandersetzt, schließt sich der von Karla Cristina Dos Santos Allen an. Sie diskutiert die Delikte aggravated verbal injury und prejudice or discrimination im brasilianischen Rechtssystem, das für letzteres Vergehen härtere Strafen vorsieht, während ersteres schnell verjährt. Sie nimmt Kriterien wie Referenz, Situation und Ziel der Äußerung unter die Lupe und zeigt jeweils deren Grenzen auf, und zwar sowohl linguistisch als auch anhand von Interviews mit zwei AktivistInnen. Damit öffnet sich ein Spannungsfeld zwischen Individualität und Kollektivität, das sowohl den einzelnen Sprechakt betrifft (der auf sprachlichen Konventionen aufbaut, diese aber neu verbindet) als auch dessen Inhalt, der individuell beleidigt – dies jedoch vor dem Hintergrund einer Zugehörigkeit zu einem (im Sprechakt konstruierten) Kollektiv. Trotz der verschwimmenden Grenzen argumentiert die Autorin jedoch nicht für eine Zusammenführung der beiden Delikte. Vielmehr sieht sie gerade in ihrer Trennung eine diskursive Möglichkeit zur Entwicklung sprachlicher Konventionen, um effektiver über diskriminierende Sprache sprechen zu können.
MichielLeezenberg arbeitet linguistische Ideologien in Äußerungen der niederländischen Partei PVV heraus und geht der Frage nach, inwiefern rechtspopulistische Parteien Mitschuld am norwegischen Breivik-Attentat tragen. Einen besonderen Fokus legt er auf die asymmetrische Konstruktion der Macht von Wörtern: Eigene Äußerungen konstruieren PVV-VertreterInnen als mere words und bloße Meinungsäußerungen, während gegnerische Positionen, Äußerungen von Muslimen oder Koranverse als Gewalttaten konzeptualisiert werden (S. 150), die wiederum physische Gewalt (mehr oder weniger direkt) legitimieren. Äußerungen des Parteivorsitzenden Geert Wilders haben somit (postulierte) Gewalt zum Inhalt, können aber auch selbst als gewaltsam betrachtet werden sowie Gewalt bewirken oder befördern (etwa wenn Breivik explizit Wilders als Inspiration nennt).
Teil 3: The intersections of violence, bodies and languages
Der dritte Teil beleuchtet sprachliche Gewalt im Zusammenspiel mit und von körperlich-sozialen Variablen. Joana PlazaPinto beginnt, indem sie über den Zusammenhang von Körperlichkeit und Sprache reflektiert und das Etikett der epistemischen Gewalt zur Erklärung heranzieht. Sie offenbart sprachliche Ressourcen als Teil einer Geschichtlichkeit, die intersektionale Verbindungen, Machtverhältnisse und Unterschiede auch über metadiskursive Regime ständig reproduziert als „historicity of bodies, their colonial, national, racialized, gendered, sexualized past, present, future“ (S. 184). Epistemische Gewalt sieht sie auch im Unsichtbarmachen dieser Prozesse bzw. im Unsichtbarmachen bestimmter Körper oder deren Äußerungen, Denkweisen und Gefühle, wodurch sie ihrer Sprache beraubt werden.
Elizabeth SaraLewis & Liliana Cabral Bastos analysieren Gespräche mit jugendlichen Favela-BewohnerInnen und ihren narrativen Umgang mit Gewalt-Stereotypen. Favela ist dabei nur eines von mehreren stigmatisierenden Labels, die hier gemeinsam mit diversen potenziell diskriminierenden Kategorien (Gender, Sexualität, Rasse usw.) unter dem Begriff Queer und dem Konzept der Intersektionalität versammelt werden. Queer meint somit nicht einzelne marginalisierende Variablen, sondern deren Zusammenspiel. Dieser Ausgangspunkt wird theoretisch schlüssig hergeleitet, in den Interviews allerdings nur punktuell aufgegriffen. Zwar zeigen die Autorinnen, wie die Jugendlichen das Thema selbst queeren und narrativ umdeuten, gehen jedoch nicht systematisch auf Charakteristika der Sprechenden selbst und Zusammenhänge mit deren Narrativen oder der Interviewsituation ein.
LianaBiar beschließt den Band mit der mikroperspektivischen Analyse eines Interviews mit einem Drogenhändler im Gefängnis. Die Verantwortung für sein kriminelles Verhalten verlagert der Befragte narrativ auf die Seite des ‚Systems‘ bzw. der Polizei. Das so etablierte Netzwerk an Sequenzen und Kausalitäten wird syntaktisch unterstützt, indem er agentivische Strukturen für Erzählungen von seiner Kindheit und Familie verwendet, sich in der Begegnung mit der Polizei aber passivisch bzw. als Objekt konzeptualisiert. Insbesondere im Vergleich zum vorhergehenden Aufsatz wird hier unter dem Stichwort der möglichen „agenda of the interview“ (S. 246) das Beobachterparadoxon breit reflektiert; vorgefasste Annahmen des Insassen über soziologische Forschung können demnach in sein Narrativ einfließen und dürfen nicht ausgeblendet werden.
Resümee
Die Lektüre des Sammelbandes lohnt in mehrerlei Hinsicht. Durch den engen Fokus auf pragmatisch-soziale Dimensionen liefert er ein in sich schlüssiges Bild des Zusammenhangs von Sprache und Gewalt; auch innerhalb des Buchs, so scheint es, wird Gewalt in Form harter Auseinandersetzungen vermieden. Er zeigt überdies auf, dass die sprachliche Ebene – auch wenn es um sprachliche Phänomene geht – mit anderen interagiert und nicht isoliert betrachtet werden kann.
Was die Beiträge nicht bieten (dies aber auch nicht für sich beanspruchen), ist ein umfassender Abriss linguistischer Perspektiven auf den Gegenstand. Quantitative Erhebungen sind genauso wenig zu finden wie feinkörnige Untersuchungen etwa von Implikaturen, Syntax, Lexik oder Metaphern – Sprache tritt hier eher als thematischer Anker denn als primärer Untersuchungsgegenstand in Erscheinung. Aus traditionell-sprachwissenschaftlicher Perspektive empfiehlt sich der Band damit in erster Linie als ein gewinnbringender Ausflug in soziologisch-anthropologische Gefilde, der aber durchaus Anknüpfungspunkte für formallinguistische Untersuchungen bietet.
Literatur
Bonacchi, Silvia (Hg.). 2017. Verbale Aggression. Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der Sprache. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110522976Search in Google Scholar
Wagner, Roy. 1981 [1975]. The Invention of Culture. Chicago: University of Chicago Press.Search in Google Scholar
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