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Silvia Dahmen & Constanze Weth. 2018. Phonetik, Phonologie und Schrift. (LiLA – Linguistik fürs Lehramt). Paderborn: Ferdinand Schöningh. 223 S.
In den bereits beachtlich umfangreichen Bestand an Einführungswerken, die sich der Phonetik oder Phonologie (z. B. Pompino-Marschall 2009, Maas 2006, Noack 2016) oder der Schriftlinguistik oder Graphematik (z. B. Dürscheid 2016, Fuhrhop 2015) oder der Phonetik/Phonologie und der Graphematik (v. a. Fuhrhop & Peters 2013) annehmen, reiht sich mit Phonetik, Phonologie und Schrift von Silvia Dahmen und Constanze Weth ein weiteres Werk ein. Das wirft natürlich die Frage auf, inwiefern sich der Neuzugang vom Bestehenden abhebt. Füllt das Buch eine Lücke? Bietet der Neuzugang auch einen neuen Zugang zur Thematik? Mir scheint jedenfalls, dass diese Fragen und die damit verbundenen Erwartungen zentral sein sollten für eine Rezension zu einem Einführungsbuch. Denn woran messen wir eigentlich die Qualität von Einführungsliteratur? Wohl daran, wie gut sie eines oder mehrere der möglichen Bedürfnisse befriedigt, mit denen Leserinnen und Leser an ein solches Buch herantreten – ob es z. B. dem interessierten Laien einen verständlichen Einstieg in das Themenfeld gibt, der Kollegin aus der Nachbardisziplin einen fundierten Überblick, dem Studenten brauchbare Erklärungen und damit der Dozentin eine gute Seminargrundlage, dem praktizierenden Lehrer eine schnelle Auffrischung des im Studium erworbenen Wissens usw. An welche Zielgruppe also richtet sich das Buch Phonetik, Phonologie und Schrift und welche Bedürfnisse kann es stillen?
Die Zielgruppe ist durch die Reihenzuordnung bereits klar abgesteckt: Einführungen aus der Reihe „LiLa – Linguistik fürs Lehramt“ richten sich an „Studierende in Lehramts- und lehramtsaffinen Studiengängen, an angehende Lehrkräfte in der zweiten Ausbildungsphase sowie an Lehrkräfte, die ihre sprachwissenschaftlichen Kenntnisse auffrischen möchten“ (aus dem Vorwort der Herausgeberinnen, S. 5). Zudem sollen die Bücher den jeweiligen linguistischen Gegenstand aus praxisnahen Fragestellungen heraus erschließen und legen einen Schwerpunkt auf die Berücksichtigung des Bereichs Deutsch als Zweitsprache/Fremdsprache. Zu diesen beiden Zielsetzungen passt das Buch gut, wie schon der Überblick über die Kapitel zeigt:
Grundlagen der Phonetik
Grundlagen der Phonologie
Lautspracherwerb
Aussprachedidaktik DaZ/DaF
Das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache
Das deutsche Schriftsystem
Kognitive Grundlagen des Schriftspracherwerbs
Der Schriftspracherwerb und didaktische Methoden für den (Erst‑)Schrifterwerb
Der Schrifterwerb in einer Zweit- oder Fremdsprache.
Sowohl aufseiten der gesprochenen (Kapitel 4) als auch der geschriebenen Sprache (Kapitel 8 und 9) bietet das Buch einen Zugang aus Fragestellungen der fachdidaktischen Praxis heraus wie auch aus der Perspektive von DaZ/DaF. Zusätzlich stellt auch das dritte Kapitel einen DaZ/DaF-Bezug her, da es sich auch mit den Grundprinzipien des Lautspracherwerbs in der Zweitsprache befasst (Teilkapitel 3.3).
Genau das benennt auch schon die Lücke, die das Buch zu füllen vermag, denn eine Einführung, die sich mit der Phonetik/Phonologie und Graphematik, dem Laut- und Schriftspracherwerb und den jeweiligen DaZ/DaF-Bezügen befasst, gibt es m. W. bislang nicht. Wer also diese Kombination in Form einer kompakten einführenden Darstellung sucht, wird, so scheint es, nur hier fündig. Damit dürften sich vor allem Lehrkräfte, die in Zweit- und Fremdsprachenkontexten arbeiten, oder Dozierende und Studierende, die im Bereich DaZ/DaF lehren und lernen, von dem Buch angesprochen fühlen.
Allerdings machen die Autorinnen aus dieser Sonderstellung, mithin aus der Chance, hier eine wichtige Lücke im Bereich der Einführungsliteratur zu schließen, nach meinem Verständnis zu wenig. Denn was der obige Überblick über die Kapitel auch zeigt: Die meisten Kapitel des Buches befassen sich nicht mit DaZ/DaF-Bezügen, sondern mit dem kanonischen Forschungsstand von Phonetik/Phonologie und Graphematik sowie den jeweiligen ontogenetischen Aspekten, wie er bereits mehrfach zu Einführungszwecken dargestellt wurde.
Selbstverständlich müssen die Autorinnen in irgendeiner Form diese Grundlagen darstellen. Doch die Theoriekapitel sind weder ausführlich genug, um für sich bestehen zu können – hier könnte man z. B. für die phonologischen und graphematischen Grundlagen besser Fuhrhop & Peters (2013) heranziehen, die auch näher am aktuellen Forschungsstand sind –, noch sind sie konzise genug, um dem DaZ/DaF-Bezug angemessen Raum zu geben. Hinzu kommt, dass die Autorinnen recht häufig in die für Einführungswerke typische stilistische Falle laufen und in ihrer Darstellung im Aufzählungscharakter verharren. Das ist zum einen bei dieser Textsorte sicher schwer zu vermeiden und zum anderen suggeriert dieser Schreibstil (hier unterstützt durch farbige Hervorhebungen, Beispiel- und Definitionskästen) eine gewisse Übersichtlichkeit, die auch ein späteres Nachschlagen erleichtert. Tatsächlich aber, so meine Wahrnehmung, ist dieser Stil wenig geeignet, um wirklich Verstehenszusammenhänge herzustellen. Sein größter Nachteil besteht darin, dass er keine Lust aufs Thema macht – und das wiegt bei einem Einführungsbuch doch ziemlich schwer. Dieser Eindruck eines eher aufzählenden als erzählenden (und dadurch Verstehen erzeugenden) Charakters wird verstärkt durch die Tatsache, dass es keine Einleitung gibt, die an das Thema heranführt, Zusammenhänge herstellt, kontextualisiert. Zudem wirken die Grafiken wenig ansprechend, teilweise sind Linien zu kurz oder schief geraten (z. B. S. 47). Zugleich erscheint gerade das vierte Kapitel, das sich mit der Aussprachdidaktik im Bereich DaZ/DaF befasst, die den Autorinnen zufolge ein großes Manko der bisherigen Unterrichtspraxis sei, stellenweise wie ein reiner Ratgeber mit praktischen Tipps und Übungen für Lehrende – hier kommt der Bezug zur Theorie und zum Forschungsstand zu kurz.
So entsteht insgesamt ein unausgegorener Eindruck, die Kapitel reihen sich allzu beliebig aneinander. Es wäre sicher geschickter gewesen, die DaZ/DaF-Bezüge konsequent zum roten Faden zu machen, also das Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache und ihre jeweilige Ontogenese konsequent durch das Brennglas DaZ/DaF zu betrachten. Das hätte das Buch ansprechender und stringenter gemacht.
Wenig stringent und etwas unausgewogen wirkt auch die Darstellung der Systematizität der geschriebenen Sprache und ihres Verhältnisses zur gesprochenen Sprache. Das betrifft verschiedene Aspekte. Symptomatisch ist vielleicht schon der Titel mit seiner auffälligen Asymmetrie zwischen „Phonetik“ und „Phonologie“ auf der einen und „Schrift“ auf der anderen Seite: zum einen die Namen von zwei linguistischen Disziplinen, zum anderen der Name eines linguistischen Gegenstands. Was hätte gegen „Schriftlinguistik“ oder „Graphematik“ als drittes Glied im Titel gesprochen? Was die Autorinnen vorstellen, sind Schlüsselbegriffe und Erkenntnisse schriftlinguistischer (v. a. Kap. 5) bzw. graphematischer (v. a. Kap. 6) Forschung, analog zu den Inhalten der Kapitel über Phonetik und Phonologie. Vielleicht hätte der Begriff „Schriftlinguistik“ etwas zu weit gegriffen und „Graphematik“ wäre für das Buch insgesamt zu eng gewesen. Und vermutlich hat auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass die Graphematik als linguistische Disziplin noch immer eine eher randständige Existenz führt und ihr Gegenstandsbereich uneinheitlich, nämlich mal enger (z. B. Neef 2005), mal weiter (z. B. Fuhrhop & Peters 2013) abgesteckt wird. Trotzdem ist der Titel unbefriedigend, weil er in der vorliegenden begrifflichen Konstellation eine Nachrangigkeit der geschriebenen Sprache als linguistischem Gegenstand suggeriert, was ja keineswegs das Anliegen der Autorinnen ist. Umso mehr verwundert aber, dass der Begriff „Graphematik“ auch im Buch nicht explizit eingeführt wird, auch wenn die Überschrift von Teilkapitel 5.2.2 („Begrifflichkeiten zur Analyse von Schrift: Schriftsystem, Graphematik und Orthographie“) diese Erwartung weckt. In den folgenden Passagen werden dann aber nur die Begriffe „Skript“, „Schriftsystem“ und „Orthographie“ näher erläutert, von Graphematik ist nur nebenbei (S. 121) und dann erst wieder in den Literaturhinweisen die Rede (S. 150).
Letztlich ist das komplette sechste Kapitel eine Einführung in den kanonischen graphematischen Kenntnisstand und hat nun seinerseits Schlagseite: Hier stehen fast nur phonographische Bezüge im Fokus. Der Titel des Kapitels lautet jedoch „Das Schriftsystem des Deutschen“, und die Autorinnen schreiben an anderer Stelle selbst, dass „die phonologische Repräsentation nicht der einzige Bezugsfaktor“ für flache Schriftsysteme ist (S. 111). Wohlgemerkt ist hier von flachen Schriftsystemen die Rede, und für das Deutsche ist diese Zuordnung mehr als fraglich – jedenfalls mehr, als die Autorinnen suggerieren, wenn sie schreiben: „[...] auch das Deutsche wird oft als flaches System eingestuft“ (ebd.). Doch nicht-phonographische Regularitäten, also jene strukturellen Eigenschaften schriftsprachlicher Ausdrücke, die sich nicht explanativ an Bezüge zum Gesprochenen rückkoppeln lassen und entsprechend auch nicht auf diese Weise didaktisiert werden sollten, spielen kaum eine Rolle. Dem morphologischen Prinzip wird lediglich ein knappes Teilkapitel gewidmet, das sich wie ein Anhang ausnimmt; weitere graphematische Regularitäten wie die Groß- und Kleinschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung oder die Interpunktion werden nur kurz erwähnt.
So entsteht der Eindruck einer phonozentrischen Betrachtung des deutschen Schriftsystems, die dessen (relativ) autonomer Grammatizität nicht gerecht wird. Dazu trägt auch bei, dass z. B. die Begriffe „phonologisch“ und „phonographisch“ nicht stringent voneinander unterschieden werden. Auf S. 138 heißt es z. B.: „Die konkreten Wortformen /kɔmt/, /kɔmst/ sind, rein phonologisch betrachtet, als *<komt> und *<komst> richtig verschriftet.“ Hier wäre „rein phonographisch betrachtet“ präziser, denn es geht ja um die Betrachtung von Korrespondenzen zwischen geschriebener und gesprochener Sprache und nicht um die – rein phonologische – Betrachtung gesprochener Sprache; „rein phonologisch“ schließt jeden Bezug auf geschriebene Sprache aus.
Noch bezeichnender für die phonozentrische Tendenz der Darstellung sind die Ausführungen zum Dehnungs-h bzw. Blickfang-h in Wörtern wie <dehnen> oder <kahl>. Hier schreiben die Autorinnen mit Verweis auf Roemheld (1955): „Die Bezeichnung ‚Blickfang‘-<h> geht davon aus, dass das <h> bei kurzen bedeutungstragenden Wörtern das Lesen des gespannten/langen Vokals unterstützen soll; bei komplexem Anfangsrand sei das weniger notwendig“. (S. 142) Das ist eine veritable Fehlinterpretation. Roemhelds hellsichtige Beobachtung bestand gerade darin, dass sich das so genannte Dehnungs‑h phonographisch nicht konsistent erklären lässt, sondern vielmehr als eine lexikalisch motivierte Lesehilfe (für die semantische Dekodierung, nicht die lautliche Rekodierung) zu interpretieren ist. Das <h> bringt die Schreibung der Stämme kurzer lexikalischer Wörter auf das prototypische Mindestmaß von vier Buchstaben (vgl. auch Berg i. E.) und verleiht den besonders schmalen Stämmen mit <r>, <l>, <n> oder <m> mehr graphische Substanz.
Der Gesamteindruck, der demnach bleibt, ist der einer starken Unausgewogenheit, des Unfertigen. Von der grundsätzlichen Konzeption, wie sie sich in der Anordnung der Kapitel und deren Schwerpunktsetzungen niederschlägt, bis hin zu einzelnen Details (Titel, Darstellung des Forschungsstands, Grafiken) macht das Buch den Eindruck, als sei es eilig zusammengeschraubt worden. Die Chance, eine wichtige Lücke im Bereich der Einführungsliteratur zu schließen, wurde auf diese Weise versäumt.
Literatur
Berg, Kristian. i. E. Die Graphematik der Morpheme im Deutschen und Englischen. Erscheint in der Reihe „Konvergenz und Divergenz – Sprachvergleichende Studien zum Deutschen“ (Hg. Eva Breindl & Lutz Gunkel). Berlin, Boston: De Gruyter. Search in Google Scholar
Dürscheid, Christa. 2016. Einführung in die Schriftlinguistik. 5., aktual. u. korr. Aufl. Stuttgart: UTB.10.36198/9783838544953Search in Google Scholar
Fuhrhop, Nanna. 2015. Orthografie. 4., aktual. Aufl. Heidelberg: Winter.Search in Google Scholar
Fuhrhop, Nanna & Jörg Peters. 2013. Einführung in die Phonologie und Graphematik. Stuttgart, Weimar: Metzler.10.1007/978-3-476-00597-7Search in Google Scholar
Maas, Utz. 2006. Phonologie. Einführung in die funktionale Phonetik des Deutschen. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.Search in Google Scholar
Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer.10.1515/9783110914856Search in Google Scholar
Noack, Christina. 2016. Phonologie. 2., aktual. Aufl. Heidelberg: Winter.Search in Google Scholar
Pompino-Marschall, Bernd. 2009. Einführung in die Phonetik. 3., durchges. Aufl. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110224818Search in Google Scholar
Roemheld, Friedrich. 1955. Die Längenbezeichnung in der deutschen Rechtschreibung. In: Deutschunterricht 7.3, 71–82.Search in Google Scholar
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