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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 23, 2019

Jürg Fleischer. 2017. Geschichte, Anlage und Durchführung der Fragebogen-Erhebungen von Georg Wenkers 40 Sätzen. Dokumentation, Entdeckungen und Neubewertungen (DDG 123). Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms. XII + 199 S.

  • Horst Haider Munske EMAIL logo

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Jürg Fleischer. 2017. Geschichte, Anlage und Durchführung der Fragebogen-Erhebungen von Georg Wenkers 40 Sätzen. Dokumentation, Entdeckungen und Neubewertungen (DDG 123). Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms. XII + 199 S.


Mit diesem Band wird – nach Alfred Lamelis Schriften zum Sprachatlas des Deutschen Reiches (3 Bände, 2014) – ein weiterer Baustein zur Geschichte, zur Würdigung und zur künftigen Nutzung der über 55 000 ausgefüllten Formulare der 40 Wenkersätze geliefert. Erstmals hat sich ein Marburger Wissenschaftler der Mühe unterzogen, aus sämtlichen archivierten Marburger Beständen, den ausgefüllten Fragebögen, den beigefügten Anschreiben und Anleitungen, den Schriftwechseln sowie aus bisherigen Berichten und Dokumentationen ein Bild von der Entstehung dieser einmaligen Sammlung dialektaler Dokumente zusammenzustellen.[1]

Das Material ist, obwohl Wenker und seine Nachfolger nur minimale Änderungen der 40 Sätze vorgenommen haben, schon wegen der Gesamtdauer der Erhebungen von 1879/80 bis ca. 1943 viel heterogener, als die meisten Benutzer bisher ahnten. Jürg Fleischer dokumentiert sämtliche Erhebungen chronologisch und geographisch, die praktisch den gesamten kontinentalwestgermanischen Sprachraum abdecken. Nach Wenkers „Das Rheinische Platt“ (1877) wurde durch die Erhebungen von 1879/80 für Nord- und Mitteldeutschland und 1887 für Süddeutschland die Datengrundlage des DSA geschaffen. Schon hier macht Fleischer auf eine gewisse Diskrepanz aufmerksam. Wenkers 40 Sätze waren, da er die Ausdehnung auf das gesamte Deutsche Reich zunächst nicht im Sinn hatte, auf die nieder- und mitteldeutschen Dialekte ausgerichtet. Charakteristika der süddeutschen wurden, wie schon Zeitgenossen bemerkten, weniger vollständig erfasst.[2] Das mag auch die geringere Rücklaufquote im Süden erklären. Hinzu kam, dass Wenker nun im Anschreiben an die Lehrer darum bat, nur „echte, unverfälschte Mundart“ aufzuzeichnen. Hatte er bisher nur um „möglichst ungesuchte und ungezwungene Schreibweise“ gebeten, so fügte er jetzt hinzu, man möge Nasalierung durch eine Tilde, offene bzw. geschlossene Vokale durch die Akzente Akut und Gravis anzeigen und „für Länge und Kürze die bekannten Zeichen anwenden“. Diese Ergänzungen sind wohl den Erfahrungen der ersten Erhebung geschuldet. Offenbar erfassten die älteren Fragebögen oft auch jenes Spektrum, das wir heute Regionalsprache nennen. Oft wurden von einem Ort mehrere Fragebögen, sog. Dubletten, abgegeben, aber nur einer für die Sprachkarte ausgewählt. Hier schlummert noch ein wenig ausgewerteter Schatz.

Unter Georg Wenkers Leitung des Sprachatlas (bis 1911) wurden Erhebungen in Luxemburg und zum Projekt eines Siebenbürgisch-deutschen Sprachatlas durchgeführt. Durch seinen Nachfolger Ferdinand Wrede erfolgten verschiedene Nacherhebungen: während des I. Weltkrieges an Kriegsgefangenen (Flämisch, russlanddeutsche Dialekte, Jiddisch), Mitte der 1920er Jahre durch einen Schüler Wredes, den späteren Kieler Nordisten Hans Kuhn (Zimbrisch), in der Sowjetunion durch Georg Dinges und Viktor Schirmunski (wolgadeutsche Dialekte, Sprachinseln). 1928 wurden Erhebungen in der Tschechoslowakei abgeschlossen, ab 1925 folgten Österreich und Liechtenstein. Schon 1930 hatte Walther Mitzka die Wenkersätze von mennonitischen Flüchtlingen aus der Sowjetunion überset­zen lassen. Eine intensive Zusammenarbeit mit dem Schweizer Idiotikon erbrachte nach 1933 eine umfassende Dokumentation der schweizerdeutschen Dialekte (1 785 Fragebögen), gefolgt von Südtirol (1941), Aussiedlerdialekten im besetzten Polen (sog. Warthegau) sowie Sprachinseln in Ungarn. Schließlich wurden während des II. Weltkrieges über 2 000 Erhebungen zum Niederländischen durchgeführt.

Großes Interesse hatte schon Wenker an den Dialekten der Sprachminderheiten im Deutschen Reich. Er selbst reiste 1899 für Erhebungen zum Friesischen nach Helgoland. So sind fast alle Kontaktsprachen deutscher Dialekte rund um das zentrale deutsche Sprachgebiet miterfasst: friesische, dänische, kaschubische, litauische, jiddische, polnische, sorbische, tschechische, ungarische, slowenische, französische u. a. Viele Bögen harren bis heute einer systematischen Auswertung. Die fragwürdigen Umstände, unter denen einige von ihnen in der Nazizeit erhoben wurden, sind bei der Benutzung zu beachten, mindern aber nicht ihren dokumentarischen Wert.

Erstmalig macht Fleischer auf die Rolle der Schulinspektoren als Vermittler zwischen dem Sprachatlas und den befragten Lehrern aufmerksam. So werden in zehn Bildanhängen nicht nur Originale der Wenkersätze, sondern auch die Instruktionsschreiben zu den Erhebungsformularen abgebildet. Da die Wenkersätze mehrfach kleinere Änderungen bzw. Ergänzungen erfuhren, sind auch diese als Textanhänge beigefügt.

Was kann man lernen aus dieser umsichtig durchgeführten Dokumentation? Zunächst einmal wird der Blick auf die über 50 Jahre anhaltenden Nacherhebungen zu deutschen und nichtdeutschen Dialekten gelenkt und empfohlen, vor einer Auswertung die Bedingungen ihrer Entstehung zu bedenken. Dazu gehört auch die Belegauswahl, die Wenker und Wrede für ihre farbigen Karten getroffen haben. Letztlich müssen die Fragebögen selbst herangezogen werden.

Mehrfach nimmt Fleischer auf ein Arbeitsjournal des Sprachatlas Bezug, das die Projektleiter geführt haben: ein ganz wesentliches Dokument zur historischen Einordnung und heutigen Bewertung vieler Arbeiten am Sprachatlas. Daraus lässt sich eine Maxime für Drittmittelprojekte ableiten. Es lohnt, neben den üblichen Akten aus Anträgen, Bewilligungen, Personalia, Abrechnungen, neben Protokollen und Publikationen zusätzlich ein laufendes Journal zu führen, in dem wichtige Korrespondenz notiert, Besuche und Veranstaltungen verzeichnet und besonders auch interne Diskussionen und Entscheidungen festgehalten werden. Mitten im Geschäft weiß man meist nicht, was einmal wichtig sein wird, was man für einen Rückblick benötigt, was künftige Benutzer zur Einordnung der Publikationen benötigen. So reicht Jürg Fleischers Dokumentation weit über den behandelten Gegenstand hinaus. Bei der Lektüre dieses Buches wird immer wieder sichtbar, was alles bei großen Vorhaben dokumentiert werden sollte und wie leicht das im Grunde ist.

Published Online: 2019-11-23
Published in Print: 2019-12-04

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 Public License.

Downloaded on 21.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2019-2019/html
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