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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter March 4, 2020

Tanja Ackermann, Horst J. Simon & Christian Zimmer (Hg.). 2018. Germanic Genitives. (Studies in Language Companion Series 193). Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins. vi, 327 S.

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Rezensierte Publikation:

Tanja Ackermann, Horst J. Simon & Christian Zimmer (Hg.). 2018. Germanic Genitives. (Studies in Language Companion Series 193). Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins. vi, 327 S.


Die zehn Kapitel des vorliegenden Bandes stellen eine Auswahl der Referate dar, die im Mai 2014 bei einem Workshop an der FU Berlin gehalten wurden. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung (S. 3–4) hervorheben, weist die Entwicklung des Genitivs in den germanischen Sprachen viele synchrone wie diachrone Variationen auf, deren vergleichende Untersuchung aufschlussreiche Einsichten in das Zusammenspiel von phonologischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Faktoren verspricht. Wie sie weiter klarmachen, ist dabei vor allem der Umstand interessant, dass die ererbten Flexionsformen des Genitivs bemerkenswert stabil sind, obwohl viele frühere syntaktische Funktionen des synthetischen Kasus verlorengegangen sind. Diese Flexionsformen lassen sich dann auf verschiedene Weise zum Ausdruck anderer sprachlicher Funktionen reanalysieren in einer Art diachroner Entwicklung, die dem von Lass (1990) als „exaptation“ bezeichneten Vorgang nahekommt.

Die Beiträge des Bandes sind in vier thematische Gruppen aufgeteilt. Die erste, „Portraits of lesser studied languages“, enthält zu Beginn eine Untersuchung von Caroline Döhmer zum Luxemburgischen, „A new perspective on the Luxembourgish genitive“. Darin berichtet sie über die Ergebnisse aus ihrer 2017 eingereichten Dissertation zur Syntax des Luxemburgischen, deren Datenbasis ein zwischen 2003 und 2013 erstelltes Korpus des geschriebenen und gesprochenen Luxemburgischen bildet. Bei den meisten Konstruktionen mit dem Genitiv handelt es sich um lexikalisierte Relikte oder den Transfer von Elementen aus dem Register des formalen hochdeutschen Schrifttums. Hochinteressant im Luxemburgischen ist das Vorhandensein von Resten ererbter Genitivpronomina – und zwar däers (betont) und es (unbetont), die partitiv verwendet werden, und dies nicht nur als Pronomina, wie z. B. en im Französischen oder er im Niederländischen, sondern auch als Artikel bzw. Determinative. Döhmer hat sicher recht, wenn sie diese Formen nicht mehr als Genitive betrachtet, sondern als Bestandteile eines eigenständigen Partitivsystems, das eher durch eine unabhängige diachrone Reanalyse entstanden ist als infolge einer Entlehnung aus dem Französischen.

In einem durch die Datenfülle hervorragenden Beitrag „Frisian genitives. From Old Frisian to the modern dialects“ zeigt Jarich Hoekstra, wie die ererbten Formanten des Genitivs im Westfriesischen sowie in der nordfriesischen Mundart von Föhr und Amrum auf höchst verschiedene Weise reanalysiert wurden, nachdem der Genitiv als syntaktischer Fall verlorengegangen war. So wurden die Endungen -s und -e bzw. -en der starken bzw. schwachen Substantive in einigen Personennamen aufgrund von deren phonologischer Struktur komplementär neu verteilt, so dass u. a. -s bei Namen mit trochäischer Struktur erscheint (wie etwa Jirin-s) und ‑en bei anderen, um einen Trochäus zu bilden (wie etwa Jan-en). Interessanterweise folgt die Verteilung der Pluralallomorphe -s und -en im Niederländischen dem gleichen phonologischen Prinzip. Aus typologischer Sicht hochinteressant ist auch die Reanalyse des ererbten Genitivsuffixes -s im Nordfriesischen zur Kennzeichnung von unzählbaren Substantiven gegenüber zählbaren, z. B. aapel ‚(einzelner) Apfel‘ und aapels ‚Äpfel (allgemein, als Obst)‘, eventuell mit einem Genusunterschied, wonach die unzählbaren Substantive immer Neutra sind, auch wenn das Grundwort ein Maskulinum ist.

In den drei Beiträgen des zweiten Abschnitts geht es um „Genitive markers and their destinies“. Im ersten Beitrag „On the motivation of genitive -s omission in Contemporary German“ behandelt Christian Zimmer die Unterlassung der Flexion im Genitiv Singular von maskulinen und neutralen Substantiven im gegenwärtigen Deutsch. Auf der Basis eines großen webbasierten Korpus kommt Zimmer wie schon Appel (1941) zu dem Schluss, dass sich der Verlust des Flexivs nicht durch die allgemeine diachrone Tendenz zur Deflexion der Substantive im Deutschen erklären lässt, sondern durch ein Prinzip, das er als „morphological schema consistency“ bezeichnet. Nach diesem Prinzip wird das Flexiv -s nicht gesetzt, wenn dadurch die Gestalt eines Lexems weniger leicht erkennbar ist. Dies trifft vor allem für im System der deutschen Sprache „periphere“ Substantive wie etwa Abkürzungen und Fremdwörter zu. Zimmer berichtet über ein psycholinguistisches Experiment mit Muttersprachlern, das diese Erkenntnis bestätigt, und führt als weiteren Beweis die Geschichte des Wortes Klima auf. Dieses wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts immer geläufiger und erschien weniger fremdartig, und dementsprechend kam es auch immer häufiger mit dem Genitivflexiv vor.

Im zweiten Beitrag in diesem Abschnitt, „From genitive suffix to linking element“, geht es Kristin Kopf um die diachrone Reanalyse des Genitivsuffixes -(e)s als Fugenelement in Substantivkomposita, und in der Tat, wie sie klarmacht, ist die Entwicklung des Genitivsuffixes von Flexiv zu Fugenelement bisher nicht eingehend erforscht worden. Der Beitrag basiert auf drei großen historischen Korpora mit Material aus der Zeit von 1500 bis 1900, aus dem geschlossen werden kann, dass in dieser Zeit pränominale Genitivattribute als erster Teil von Komposita reanalysiert wurden. Diese Entwicklung lässt sich an der Anzahl von Komposita erkennen, bei deren erstem Teil das Flexiv -(e)s bei solchen Substantiven erscheint, die im Genitiv Singular keine Flexionsendung haben (wie z. B. Feminina). Mitte des 16. Jhd. sind keine solchen Formen belegt, aber schon um 1650 machen sie 26 % der Belege aus und bis 1900 sogar 43 %. Interessant ist dabei die im 17. Jhd. aufkommende Tendenz, diese Komposita mit einem Bindestrich zu schreiben, was nach Kopf nicht als Zeichen dafür angesehen werden kann, dass der Status dieser Komposita zwischen Syntax und Morphologie unklar wäre. Allerdings lässt sich eine Erklärung für diese orthographische Variation schwer erbringen.

Der letzte Beitrag dieses Abschnitts, „The development of non-paradigmatic linking elements in Faroese and the decline of the genitive case“ von Hjalmar P. Petersen und Renata Szczepaniak, behandelt den Genitiv und seine ererbten Flexionsformanten im Färöischen. Im ersten Teil des Beitrags zeigen sie, wie der Genitiv als syntaktischer Fall in fast allen Kontexten durch analytische Konstruktionen ersetzt worden ist, obwohl präskriptive Grammatiker bis heute vergeblich versuchen, ihn am Leben zu halten. Im zweiten Teil geht es um eine ähnliche Frage wie im vorhergehenden Beitrag von Kopf, und zwar um die Distribution der ererbten Flexionselemente des Genitivs in Nominalkomposita. Diese ist in der Gegenwartssprache infolge einer grundsätzlichen Umstrukturierung der Formanten durch Wortbildungsregeln bedingt. Wie im Deutschen besteht kein semantischer Zusammenhang mehr zwischen den neuen Fugenelementen und den Flexionsendungen des Genitivs, aus denen sie entstanden sind, aber anders als im Deutschen hat man mit mehreren solcher Fugenelemente zu tun, deren Verteilung durch neue, noch nicht ausführlich beschriebene Regelmäßigkeiten bedingt ist (u. a. phonologische). Ihre Existenz in der Grammatik von Muttersprachlern konnte durch psycholinguistische Tests bestätigt werden.

In den drei Beiträgen des dritten Abschnitts mit dem Titel „‘Genitives’ in nominal configurations“ geht es um den adnominalen Genitiv, der natürlich die Hauptverwendungsart des Genitivs im heutigen Deutsch bildet, vor allem in formellen schriftlichen Registern – denn anders als in der informellen Umgangssprache und entgegen geläufiger Meinung ist der Genitiv hier sehr vital (vgl. Scott 2014). Der erste Beitrag, „The Genitive Rule and its background“ von Peter Gallmann, thematisiert die Kontexte in der geschriebenen Standardsprache, in denen flektierte Nominalphrasen im Genitiv obligatorisch bzw. fakultativ sind. Gallmann fasst diese Regelmäßigkeiten, wie auch in dem von ihm verfassten Kapitel der Duden-Grammatik (Duden 2016: 978), in der von ihm so benannten „Genitive Rule“ knapp zusammen. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, müssen andere Ausdrucksmöglichkeiten gefunden werden:

A DP/NP can bear genitive case only if (i) and (ii):

  1. The DP/NP contains at least one non-nominal feature bearer.

  2. The DP/NP contains at least one item with the ending –es/-s or ‑er. (S. 158)

Die Gültigkeit dieser Regel wird durch eine Fülle von Beispielen illustriert. Jedoch gibt es einige Kontexte, in denen die Regel oft nicht eingehalten wird, z. B. nach einigen „prestigeträchtigen“ Präpositionen, wie etwa wegen Todesfalls. Daneben gibt es Fälle, in denen der Ersatz des Genitivs auch in der Standardsprache akzeptiert ist (wie in vielen partitiven Kontexten, z. B. welches von diesen Büchern). Zum Schluss behandelt Gallmann die steigende Tendenz zur Unterlassung von Flexionsformen in Kontexten, in denen diese redundant wären, z. B. am Ersten diesen Monats.

Im Beitrag von Tanja Ackermann, „From genitive inflection to possessive marker?“, geht es um den possessiven Genitiv mit Personennamen, der sich in mancher Hinsicht anders verhält als der Genitiv in Kombination mit anderen Substantiven. Wie sie deutlich macht, wurde die Flexion von Personennamen im Deutschen noch wenig untersucht. In einer ausführlichen Analyse der diachronen Entwicklung zeigt sie, wie sich die Personennamenflexion von den Flexionsformen anderer Substantive im Genitiv grundsätzlich losgelöst hat. So stimmt sie der Meinung von Scott (2014: 278–294) zu, dass es sich bei dem -s- der Fugenelemente sowie dem -s- in Personennamen um „exaptierte“ Reste des ererbten Genitivsuffixes handelt. Wenn diese Analyse richtig ist, kann das possessive -s- bei Personennamen im Deutschen nicht mehr als echter Genitiv angesehen werden, was die Frage aufwirft, ob es sich auch im Deutschen, wie beim Englischen ’s, um ein possessives Klitikon handeln könnte. Doch die Entwicklung im Deutschen ist noch nicht so weit fortgeschritten, und der kategoriale Status des possessiven -s bleibt letztendlich unklar auf dem Gefälle zwischen Affix und Klitikon.

Im letzten Beitrag dieses Abschnitts, „Yiddish possessives as a case for genitive case“, geht es Kerstin Hoge um ein ähnliches Problem, und zwar um den Status des Flexivs -s im Jiddischen. Für diese Sprache wird meistens angenommen, dass der Genitiv vollständig verloren gegangen ist. Jedoch kommt das Suffix -s als Possessivmarker vor, wenn es, anders als im Deutschen, mit Nominalphrasen im Dativ erscheint, z. B. dem gutn lerers bukh (S. 238). Somit könnte es als Klitikon aufgefasst werden, doch Hoge zeigt, dass es Kontexte gibt, in denen es eher als Affix gewertet werden könnte, so dass wir es auch hier, wie im vorhergehenden Beitrag, mit einem Element zu tun haben, dessen Status sich schwer zwischen Klitikon und Flexionsaffix bestimmen lässt. Nach einer ausführlichen Darstellung der Diachronie des Genitivs im Jiddischen zeigt Hoge aber, dass Reste der alten Flexionsklassen des Substantivs noch vorhanden sind, was ihrer Meinung nach den Schluss rechtfertigt, dass man immer noch vom Vorhandensein des Genitivs als syntaktischem Kasus ausgehen darf. Jedoch gibt es Einschränkungen im Gebrauch dieses Falles, und die Zahl der relevanten Substantive ist letztendlich sehr gering, so dass Zweifel an diesen Schlussfolgerungen berechtigt erscheinen.

Der letzte Abschnitt hat den Titel „Genitives and their functional competitors“. Dieser trifft eigentlich nicht ganz zu, denn der Abschnitt enthält nur zwei verhältnismäßig kurze Beiträge, die thematisch verschiedene Gegenstände behandeln. In ihrem Artikel über „Genitives and proper name compounds in German“ geht es Barbara Schlücker um die Konkurrenz zwischen adnominalen Possessivkonstruktionen und Komposita mit einem Personennamen im Deutschen, z. B. Merkels Besuch und der Merkel-Besuch, wobei sie Ackermanns Ansicht teilt, dass es sich bei diesen Possessivkonstruktionen nicht um einen echten Genitiv handelt. Für die Komposita scheint die Schreibung mit Bindestrich üblich geworden zu sein, vermutlich, weil die Elemente dann besser zu erkennen sind. Im Hauptteil des Beitrags bringt Schlücker eine ausführliche Analyse der Komposita, die verschiedenen Typen zugeordnet werden können. Bei diesen zeigen Daten aus dem DECOW-Korpus, dass diejenigen am häufigsten gebildet werden, denen eine „HAVE-relation“ zugrunde liegt, wie z. B. Merkel-Pläne. Am interessantesten ist aber wohl der Befund, dass sich einige Typen von Possessivkonstruktionen und Komposita semantisch überlappen und unter gewissen Bedingungen austauschbar sind, was auf ein Kontinuum zwischen den morphologischen und den syntaktischen Konstruktionen hinweist.

Der letzte Beitrag von Kurt Braunmüller, „On the role of cases and possession in Germanic. A typological approach“, ist der einzige in diesem Band, der unterschiedliche Entwicklungen des ererbten Genitivs in verschiedenen germanischen Sprachen vergleichend thematisiert. Der Genitiv war von Anfang an, anders als die anderen Kasus des Urgermanischen, kein Strukturkasus, der vor allem syntaktische Relationen zum Ausdruck bringt, sondern ein hochgradig polyfunktional semantischer Kasus. Im Laufe der Entwicklung führte diese Vieldeutigkeit zu einem Ersatz durch analytische Konstruktionen, insbesondere durch Präpositionalgefüge, die semantisch eindeutiger waren. Um Besitzverhältnisse und dergleichen zum Ausdruck zu bringen, erfolgte der Ersatz in den westgermanischen Sprachen durch eine einzelne Präposition, wie z. B. deutsch von. Im Nordgermanischen dagegen waren es mehrere, und Braunmüller beschreibt die ganze Komplexität der diachronen Vorgänge in diesen Sprachen, die in einigen Fällen durch Entlehnungen aus dem Niederdeutschen kompliziert wurden. Im Großen und Ganzen ist seines Erachtens der Trend von synthetischen zu analytischen Strukturen klar, doch haben wir es weniger mit Fortschritt zu tun (wie Jespersen gemeint hat), als mit dem „Spirallauf der Sprachgeschichte“ nach Gabelentz (1891: 250).

Zusammenfassend lässt sich dieser Band sehr empfehlen, und dies vor allem, weil sich die aufgenommenen Beiträge durch eine hohe wissenschaftliche Qualität auszeichnen und neue Ergebnisse bringen, in vielen Fällen aufgrund von erst in letzter Zeit verfügbaren großen Korpora. Zu begrüßen ist auch der Einbezug von Beiträgen über einige weniger bekannte und weniger erforschte germanische Sprachen, wie das Friesische oder das Jiddische. Dagegen erscheint es bedauerlich, dass in einem Sammelband mit dem Titel Germanic Genitives Beiträge fehlen, in denen die oft andersartigen und typologisch nicht weniger interessanten Entwicklungen im Englischen, dem Niederländischen oder den festlandskandinavischen Sprachen genauso gründlich behandelt werden, was breitere Vergleichsmöglichkeiten geboten hätte.

Literatur

Appel, Elsbeth. 1941. Vom Fehlen des Genitiv-s. München: Beck.Search in Google Scholar

DUDEN. 2016. Duden Band 4. Die Grammatik. Herausgegeben von Angelika Wöllstein und der Dudenredaktion. 9., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin: Dudenverlag.Search in Google Scholar

Gabelentz, Georg von der. 1891. Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig: T. O. Weigel Nachfolger.Search in Google Scholar

Lass, Roger. 1990. How to do things with junk: exaptation in linguistic evolution. Journal of Linguistics 26, 79–102.Search in Google Scholar

Scott, Alan K. 2014. The genitive case in Dutch and German. A study of morphosyntactic change in codified languages. Leiden: Brill.10.1163/9789004183285Search in Google Scholar

Online erschienen: 2020-03-04
Erschienen im Druck: 2020-12-01

© 2020 Martin Durrell, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 2.4.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2020-2030/html
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