Rezensierte Publikationen:
Peter Rolf Lutzeier. 2007. Wörterbuch des Gegensinns im Deutschen. Band 1: A-G. Berlin, Boston: De Gruyter. xlv, 754 S.
Peter Rolf Lutzeier. 2012. Wörterbuch des Gegensinns im Deutschen. Band 2: H-Q. Berlin, Boston: De Gruyter. xii, 887 S.
Peter Rolf Lutzeier. 2018. Wörterbuch des Gegensinns im Deutschen. Band 3: R-Z. Berlin, Boston: De Gruyter. xii, 317 S.
1 Problemhintergrund
Wörter natürlicher Sprache sind oftmals mehrdeutig bzw. polysem – das heißt, sie werden unter verschiedenen Bedeutungen verwendet, die auseinander entstanden und somit miteinander verwandt sind (im Gegensatz hierzu stehen gleichnamige bzw. homonyme Wörter, die weder etymologisch noch semantisch miteinander in Verbindung stehen). Daher gehört es zu den zentralen Aufgaben der Lexikologie und der Lexikographie, diese Polysemie zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Zentrale Ansätze hierfür bestehen in der Rhetorik und in der Logik, um den Zusammenhang einzelner Bedeutungen im Hinblick auf Figuren wie Metapher oder Metonymie oder Relationen wie Äquivalenz oder Kontradiktion zu bestimmen.
Ein Phänomen, das hierbei bislang von der lexikologischen Theorie, insbesondere aber von der lexikographischen Praxis weitgehend vernachlässigt wurde, stellen mehrere Bedeutungen von einzelnen Wörtern dar, die jeweils in einem Gegensatz stehen. Im Deutschen hat sich dafür das Beispiel Untiefe eingebürgert (altus im Lateinischen), das in ein und demselben Wort zwei gegensätzliche Bedeutungen vereinigt (wobei zu diskutieren ist, ob es sich hierbei nicht weniger um zwei gegensätzlich‑konkrete, sondern vielmehr um eine übergeordnet‑abstrakte Bedeutung – etwa im Sinne von ‚(vertikaler) Abstand‘ – handelt, die angesichts der semantischen Vorprägung des Deutschen interpretativ überlagert wird).
Diese exhaustiv und systematisch für den Wortschatz des jüngeren Neuhochdeutschen (vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwartssprache) zu erschließen, ist nun das erklärte Ziel eines Wörterbuches von Peter Rolf Lutzeier, das im Vorwort gleichermaßen als „Nachschlagewerk“ und „als zukünftiges Forschungsinstrument in der Linguistik“ ausgewiesen wird.
2 Anspruch
Das ausweislich seit 1993 entstandene Wörterbuch des Gegensinns ist nun in einer durchaus angemessenen Aufmachung bei De Gruyter in drei Bänden komplettiert worden: Der erste Band (A-G) erschien 2007, der zweite Band (H-Q) 2012 und der dritte Band (R-Z) im Jahre 2018. Der Anspruch dieses Lebenswerks eines der bekanntesten Lexikologen deutscher Zunge, der in Hull (England) eine Professur für Deutsche Sprachwissenschaft innehat, wird bereits im ersten Satz des Vorworts deutlich: „Das Wörterbuch betritt Neuland in Form seines Gegenstandsbereichs als auch in Form seines Aufbaus“ (Bd. I, S. IX). Im Klappentext wird dazu ergänzend ausgeführt:
„im Unterschied zu Synonymen- bzw. Antonymenwörterbüchern gibt es in keiner Sprache Wörterbücher des Gegensinns. Insofern ist das vorgelegte Wörterbuch eine Weltneuheit und wegweisend für Lexikologie und Lexikographie. Die ungefähr 5500 Lemmata werden mit ihren gegensätzlichen Lesarten erfasst, durch Originalbeiträge illustriert und über die jeweilige Art des Gegensinns und das zu Grunde liegende Prinzip des Gegensatzes charakterisiert.“
3 Gegensinn: Definition und Operationalisierung
„Unter Gegensinn verstehen wir die Eigenschaft eines polysemen Wortes/einer polysemen lexikalischen Einheit gegensätzliche/oppositionelle Lesarten aufzuweisen“ (Bd. I, S. XV). Lutzeier setzt dabei aus Perspektive der Logik fünf Relationen an, die einen „Gegensinn“ von Bedeutungen polysemer Wörter konstituieren: Wenn A, dann non‑B, und wenn B, dann non‑A. Dabei bildet der „Gegensinn inkompatibler Art“ (Bd. I, S. XVII) den allgemeinen Typ, der im Kern an Heterosemie im Sinne verschiedener Bedeutungen (in verschiedenen sprachlichen Systemen) erinnert, während diejenigen „antonymischer Art“, „komplementärer Art“, „konverser Art“ und „reversibler Art“ (Bd. I, S. XVIII) als Untertypen aufgefasst werden (vgl. die folgende Tabelle mit Beispielen Lutzeiers; vgl. Bd. I, S. XVIIf.). Während die ersten drei Untertypen logisch formalisiert und voneinander abgegrenzt werden können (was Lutzeier durchaus auch andeutet, allerdings nicht hinreichend ausarbeitet), ist dies im Falle des vierten Untertyps nicht in derselben Weise möglich. Dies beeinträchtigt zum einen die Systematik der Einteilung, mit der im Wörterbuch gearbeitet wird. Zum anderen erweisen sich zahlreiche Einträge lediglich von inkompatibler Art, entsprechen also nur dem übergeordneten Typ, sodass sich Gegensinn letztlich als ein ausgesprochen offenes Konzept erweist.
Art | Typ | Beispiel |
inkompatibel | einstellen ‚aufhören‘ vs. ‚beginnen‘ | |
antonymisch | graduierbar | elend ‚armselig‘ vs. ‚(besonders) stark‘ |
komplementär | kontradiktorisch | um ‚innerhalb‘ vs. ‚außerhalb‘ |
konvers | perspektivisch | leihen ‚an jemanden geben‘ vs. ‚von jemandem übernehmen‘ |
reversibel | prozessoral | aufrollen ‚zusammenfassen‘ vs. ‚auflösen‘ |
Als Primärquellen des vorliegenden Wörterbuchs dienen diverse lexikographische Werke zur deutschen Gegenwartssprache, insbesondere das zehnbändige Große Wörterbuch der deutschen Sprache des Duden-Verlags in der dritten Auflage aus dem Jahre 1999. Die Mikrostruktur der einzelnen Artikel des Wörterbuchs, die in der Einführung sorgfältig beschrieben und erläutert wird (vgl. Bd. I, S. XXII-XXVI), umfasst neben dem Lemma insbesondere Angaben zu Wortart, Art und Aspekt des Gegensinns, gegensinnige Lesarten sowie Eigenbeispiele des Autors und entsprechende Belege. Die Makrostruktur der drei Bände bietet jeweils neben Vorwort, Einführung (nur in Band I) und Hauptteil im Weiteren Listen der Lemmata (mit Wortartangabe), der ermittelten Gegensatzprinzipien und der gewählten Markierungen, einige numerische und grafische Aufarbeitungen sowie Quellenverzeichnisse.
4 „Benutzerhinweise“
Die Struktur der Artikel wird für die Benutzerinnen und Benutzer des Wörterbuchs in insgesamt 13 Positionen standardisiert und am Beispiel „abdecken“ illustriert: Zentral scheinen dabei die Instanziierungen der gegensätzlichen Lesarten:
das dach / der tisch wird abgedeckt (P 7)
das blumenbeet wird (mit einer plane) abgedeckt (P 8)
Das dabei ausgewiesene „Prinzip des Gegensatzes“ (P 11) lautet: (offen-legende) Wegnahme vs. (schützende) Hinzugabe. Als „Typ“ des Gegensinns (P 12) wird eine „reversible Art“ angegeben und in P 13 die „Frage der Ambiguität“ wie folgt angegeben: „die Anwendungsbereiche sind nicht klar getrennt, insofern ist potenzielle Ambiguität gegeben, z. B. der tisch wird abgedeckt“ (Bd. I, S. XXVI und XXVII).
Ein weiterer ergänzender Einblick in den Gegensinn der betreffenden Wörter wird im dritten Band (nach‑)geliefert. Hier wird einerseits zu interessierter Lektüre wie andererseits zu linguistischer Analyse eingeladen. Letzterem leistet Lutzeier insofern Vorschub, als er selbst die „Prinzipien des Gegensatzes“, die er in seinem Wörterbuch semasiologisch ausmacht, abschließend in alphabetischer Reihenfolge zusammenfasst und diesen die betreffenden Wörter onomasiologisch zuordnet – so zum Beispiel (vgl. Bd. III, S. 255):
Aktivität vs. Bereich (forschung, postdienst, vegetation, werbung)
Aktivität vs. Disziplin (dramatik, dramatisch, dramatisieren, dressur, emblematik, feminismus, geburtshilfe, gruppendynamik, hammerwurf, hermeneutik, hermeneutisch, hydrometrie, journalistik, kameralistik, kinematographie, kombinationsspiel, kontrapunktik, kür, kulturbolschewismus, kunsterziehung, laufspiel, lehre, lomberspiel, maschinenbau, meinungsforschung, moral, morphometrie, netzspiel, pathognomik, phonometrie, planimetrie, publizistik, rechentechnik, ringkampf, schmierenkomödie, schulmusik, speerwurf, sprint, stabhochsprung, symbolik, trapschießen, weitsprung, wertung, wurftaubenschießen)
5 Diskussion von drei Lemmata bzw. deren Angaben
Im Folgenden soll an drei Beispielen gezeigt werden, in welchem Sinn der Autor den „Gegensinn“ von Wörtern versteht. Im ersten Beispiel geht es um das Nomen berber, dem der Autor einen gleich dreifachen „interdomänenhaften Gegensinn“ zuschreibt. Dass man mit diesem Nomen gleichermaßen auf eine „Person aus Nordafrika“ (1.1), auf einen „Teppich“ (1.2) und schließlich auch auf ein „Reitpferd“ referieren kann, würde in traditionellen Lexika dazu führen, die „Verwandtschaft“ bzw. die (vermeintliche) Gebrauchs‑Kontiguität hervorzuheben.[1] Schließlich waren (früher) Berber für ihre Reitpferde ebenso berühmt wie für ihre Teppiche. Dass bei Lutzeier stattdessen verschiedene Lesarten des Gegensinns herausgestellt werden (L1 vs. L2: komplementär; L1 vs. L3: inkompatibel; L2 vs. L3: inkompatibel), wird mit Blick auf die „Frage der Ambiguität“ gleichsam wieder relativiert, denn: „die Anwendungsbereiche sind nicht klar getrennt, insofern ist potenzielle Ambiguität gegeben“ (Bd. I, S. 127–128).
Dies scheint beim Adjektiv massig anders: Hier haben wir es mit einem sozusagen prototypischen Gegensinn, nämlich „viel vs. wenig“ zu tun: Denn „L1 = ‚sehr viel‘“ wird im Gegensatzzu einer schwäbischen Lesart „L2 = ‚mager‘; ‚klein‘“ angegeben, wenngleich auch hier die Anwendungsbereiche wie folgt charakterisiert werden: „nicht klar getrennt, insofern ist potenzielle Ambiguität gegeben“ (Bd. II, S. 652).
Ein „intradomänenhafter Gegensinn“ wird auch dem Verb stolpern zugesprochen: „L1 = ‚zu fallen drohen‘“ und „L2 = ‚gedanklich steckenbleiben‘“ (Bd. III, S. 115).
Bereits diese Vorstellung bzw. ansatzweise Kommentierung der drei Lemmata wirft z. T. sehr grundsätzliche Fragen auf: Für wen, d. h. für welchen Benutzer ist dieses Wörterbuch gedacht? Und natürlich: Wofür? Ist es, um nochmals auf das erste Lemma zurückzukommen, zum Beispiel einem jugendlichen Nutzer oder einem Nutzer ohne historische Kenntnisse wichtig, über die gegensinnigen Feinheiten der Differenz von Berber, Teppich oder Reitpferd Näheres zu erfahren? Wenn er mit Blick auf sein soziales Umfeld etwas über die abwertende Konnotation von Berber erfahren will, mag es nicht falsch sein zu erfahren, dass unsere Vorfahren mit dieser „nordafrikanischen Völkergruppe“ (Duden) zwei hoch geschätzte Konsumartikel verbunden haben.
Das zweite Beispiel erinnert daran, dass hochsprachliche Lesarten mitunter im Gegensatz zu dialektalen Bedeutungen stehen können. Diese für Nutzer nicht nebensächliche Einsicht müsste allerdings mit Blick auch auf andere Dialekte verallgemeinert werden. Die Pointe: Nicht der eher zufällig erscheinende Gegensinn zwischen verschiedenen sprachlichen Varietäten allein scheint für Nutzer des Wörterbuchs einschlägig, sondern die räumliche und eventuelle soziale Verbreitung lexikalisch homophoner Varianten?
Das dritte Beispiel reflektiert ein uraltes rhetorisches Verfahren, nämlich die Metaphorisierung von Konzepten wie etwa stolpern. Die Übertragung einer sichtbaren Handlung auf kognitive Prozesse und damit ihre Metaphorisierung in abstrakte Räume schafft zwar Differenzierungspotenziale, sie aber als eine Form von „Gegensinn“ verstehen (und in Wörterbüchern notieren) zu wollen, scheint überzogen. Damit kommen wir zu weiteren offenen Fragen dieses Wörterbuch-Unternehmens.
6 Offene Fragen
Nach der logisch nicht systematisch er- bzw. geschlossenen Liste an fünf Arten von Gegensinn erscheint auch die Aufstellung von zahlreichen Prinzipien des Gegensatzes offen: Sie ist nicht systematisch bzw. deduktiv, sondern vielmehr empirisch bzw. induktiv erstellt. Aus diesem Grunde wäre hier eine methodologische Diskussion denkbar, wie diese Prinzipien letztlich ermittelt wurden und wie diese unter Umständen zu systematisieren sind. Unter den gegebenen Umständen erscheint eine weitere quantitative Analyse und qualitative Interpretation als nicht unproblematisch.
Ansätze hierzu bietet Lutzeier indessen selbst, indem er das Aufkommen der Wortarten innerhalb einzelner Buchstabenstrecken ermittelt (vgl. etwa Bd. I, S. 741–748). Inwieweit solche Erhebungen wirklich sinnvoll sind, mögen die Leserinnen und Leser des Wörterbuches selbst beurteilen. Zu wünschen wären darüber hinaus zum einen quantitative Analysen, die sich an den Wortarten selbst (und nicht an den Buchstaben) oder – trotz der eben formulierten Skepsis – an den Arten bzw. Prinzipien von Gegensinn orientieren. Zum anderen sind hier qualitative Studien denkbar, welche die bestehenden lexikographischen Befunde aus sozial- oder kognitionswissenschaftlicher Sicht interpretieren. Aber dieser letzte Schritt würde wohl den Rahmen des vorliegenden Wörterbuchprojektes sprengen.
Angesichts der Offenheit der fünf Arten und insbesondere der zahlreichen Prinzipien von Gegensinn erweist sich der volle Gegensinn des Gegensinn-Wörterbuches: Das Ganze weist eher verschiedene Aspekte von Bedeutungen aus, die sich zwar in der Tat ausschließen, jedoch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede offenbaren.
Ein anderer Aspekt, der bei der Benutzung auffällt: Ab und an häufen sich Lemmata, die mit Blick auf die Thesaurus-Problematik lexikologisch oder lexikographisch interessant erscheinende Fragen aufwerfen. Warum gibt es eine bestimmte Häufung von Lemmata? In welchem Zusammenhang stehen sie? Haben wir es hier mit semantischen Netzen zu tun? Betrachten wir eine eher zufällig ausgewählte Lemmata‑Häufung um gold (Bd. I, S. 663–668). Dazu finden sich folgende als „gegensinnig“ ausgewiesene Lemmata:
gold, goldfasan, goldfisch, goldfuchs, goldhaar, goldkäfer, goldkrone, goldparität, goldregen, goldschatz, goldschmiedearbeiten [...].
Dass Gold offenbar etwas perzeptuell, kulturell und lebensweltlich Salientes, Kostbares und Umkämpftes ist, kann gar nicht bestritten werden. Warum sich aber in den aufgeführten Lemmata so viele gegensinnige Lesarten ballen, mag etwa im Vergleich zu den beiden konzeptionell nicht ganz unverwandten Lemmata geldausgabe und geldsack zumindest die Frage nach möglichen Prinzipien aufwerfen, die womöglich der „Gegensinnigkeit“ zugrunde liegen könnten. Zwar ist es nicht in jedem Falle Aufgabe eines Wörterbuchs – etwa mit Blick z. B. auf die Konstruktionsgrammatik oder die Frametheorie – zu erläutern, in welchem (metaphorischen oder sonstigen Zusammenhang) bestimmte Lemmata stehen. Dennoch werfen Häufungen oder Häufungskontraste von Lemmata oder ihr denkbares Gegenteil, wie z. B. frauengestalt, frauenhaar, frauenhaus auf der einen Seite bzw. kleiner mann, mannen, mannequin, mannheit, mannschaftsspiel, mannname (Bd. I, S. 639–640) auf der anderen Seite, die Frage nach denkbaren Prinzipien der Gegensinnigkeit auf. Oder anders gefragt: Welcher Sinn oder Hintersinn verbirgt sich hinter folgenden Lemmata:
„mako. Wortart: Nomen. Analog zu kammgarn“ (Bd. II, S. 632)
Schlägt man unter kammgarn nach, findet man keinen Hinweis auf mako. Gleiches gilt für herzog (Bd. II, S. 146), wenn man unter folgendem Lemma nachschlägt:
„kammermusiker. Wortart: Nomen. Analog zu herzog“ (Bd. II, S. 320)
7 Der Gegensinn vom Gegensinn: Vom lexikographischen Randphänomen zu linguistischem „Neuland“?
Das „Wörterbuch des Gegensinns im Deutschen“ stellt ohne Zweifel nicht nur eine beeindruckende Leistung eines Lexikographen dar. Es ist ein opus magnum und wohl auch ein Vermächtnis des Lexikologen Peter Rolf Lutzeier. In seinem innovativen Anspruch ist es tatsächlich eine „Weltneuheit“, die es trotz aller Vorbehalte und Kritik zu würdigen gilt. Dass wir es hier mit „einem neuen Typ von Wörterbüchern als Politprojekt [Pilotprojekt – GA & TR] für andere natürliche Sprachen“ zu tun haben (Bd. I, S. XXVIII), kann kaum bestritten werden.
Allerdings ist dieses imposante Projekt – gerade angesichts seines Umfangs – ein Beispiel für eine interessante Erscheinung: Aus der Perspektive eines quantitativ kaum auffälligen lexikalischen Spezialfalls, nämlich dass ein und dieselbe lexikalische Erscheinung gleich zwei gegensinnige Bedeutungen in einer Sprache repräsentiert (vgl. dazu nochmals Untiefe), wird ein Wörterbuchprojekt entworfen und empirisch umgesetzt, in dem die verschiedenen Formen der Differenz als Varianten eines semantischen Gegensatzes dargestellt werden. Das ist eine spannende intellektuelle Herausforderung, die allerdings zum Teil überraschende Verzerrungen (bewusst?) in Kauf nimmt (siehe den kaum nachvollziehbaren Gegensinn von massig, der einen Gegensatz zwischen einer standardsprachlichen und einer dialektalen Bedeutung konstruiert).
Unabhängig davon: Lutzeiers Wörterbuch kann als Plädoyer für eine lexikographische Position verstanden werden, das semantische (vielleicht auch das semantisch-pragmatische) Potenzial des Gegensätzlichen als „Gegensinniges“ stärker zur Geltung zu bringen. Dass dies nur in enger Interaktion mit unterschiedlichen Kontextualisierungen zur Geltung gebracht werden kann, muss einerseits zugestanden werden. Andererseits drängt sich hier aber jene Frage auf, die sich seit den gebrauchsbasierten Ansätzen in der Linguistik etwa bei korpuslinguistischen Analysen oder darüber hinaus (zumindest latent) zu stellen scheint: Wieviel „Bedeutung“ generiert die in Wörterbüchern standardisierte Lexik eines Wortes für das Verständnis einer Äußerung (also das, was man etwas platt die Wörterbuchsemantik eines Wortes nennen könnte) und wieviel (davon) geht auf das Konto von Kontextualisierungen, also auf den diskursiv bzw. textuell erzeugten verbalen Zusammenhang?
Vor diesem Hintergrund erscheint ein „Wörterbuch des Gegensinns“ sicherlich lexikologisch als „Neuland“. Vielleicht auch diskursiv-pragmatisch als Beitrag zur Entdeckung von gegensinnigem „Nebensinn“ oder „Hintersinn“, also auf etwas, was bislang eher Kabarettistinnen und Kabarettisten, Philosophinnen und Philosophen oder Literatinnen und Literaten in ihren Texten bzw. Beiträgen sichtbar gemacht haben. Und somit entpuppt sich hier der Gegensinn vom Gegensinn: Denn was hier gegensinnig erscheint, ist doch realiter weitaus enger miteinander verknüpft als postuliert. Vielleicht sollte man das vorliegende Werk nicht als Wörterbuch des Gegensinns, sondern als Wörterbuch des Gemeinsinns im Deutschen lesen – und nutzen!
Literatur
https://www.duden.de/rechtschreibung/Berber (letzter Zugriff: 15.03.2020) Search in Google Scholar
© 2020 Gerd Antos und Thorsten Roelke, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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