Rezensierte Publikation:
Jürgen Erfurt & Sabine De Knop (Hg.). 2019. Konstruktionsgrammatik und Mehrsprachigkeit (OBST 94). Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr. 204 S.
In jüngster Zeit gibt es eine verstärkte Tendenz dazu, sich den Themenfeldern Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit aus gebrauchsbasierter, kognitiv-linguistischer bzw. konstruktionsgrammatischer Sicht anzunähern, wie etwa die Sammelbände bzw. Themenhefte von Boas (2010), Reif & Robinson (2016), Hilpert & Östman (2016) sowie Quick und Verschik (2019) zeigen. Der vorliegende Sammelband, der thematisch an den vorherigen OBST-Band zum Thema „Phänomen Mehrsprachigkeit“ anknüpft, führt diese Forschungsperspektive weiter und stellt dabei vor allem das Potential der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik Goldberg’scher Prägung (vgl. Goldberg 1995, 2006, 2019) in den Mittelpunkt. In sieben Aufsätzen sowie einem einleitenden Beitrag des Herausgeberteams wird die Verbindung von Konstruktionsgrammatik und Mehrsprachigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert, wobei unter anderem fremdsprachendidaktische, spracheinstellungsbezogene und übersetzungswissenschaftliche Aspekte zum Tragen kommen.
In ihrem einleitenden Beitrag stellen Jürgen Erfurt & Sabine De Knop zunächst die Grundannahmen vor, die die unterschiedlichen Spielarten der Konstruktionsgrammatik miteinander verbinden, und geben dann einen Überblick über die Beziehung von Konstruktionsgrammatik und Mehrsprachigkeit in der bisherigen Forschung. Sie zeigen, dass sich das Gros der konstruktionsgrammatischen Forschung bisher „auf einzelsprachliche Phänomene und einen monolingualen/monolektalen Beschreibungsmodus“ (S. 15) bezieht und auch in der Sprachkontaktforschung die alltäglichen Praktiken des Codeswitching und Codemixing häufig „in einem monolingualen Beschreibungsmodus verharren“ (S. 16), indem sie sie als „Einbruch“ von Elementen eines monolingual gedachten homogenen Sprachsystems in ein anderes modellieren. Zugleich sehen Erfurt und De Knop in beiden Feldern Tendenzen zur Überwindung dieser Konzeptualisierung von Mehrsprachigkeit als Koexistenz mehrerer weitgehend voneinander unabhängiger, in sich geschlossener Sprachsysteme: So sei etwa das zunächst nur für Lernstrategien mehrsprachiger Personen verwendete Konzept des „Translanguaging“ ausgeweitet worden auf die konkrete Praxis der Verwendung des vollen sprachlichen Potentials, das einer Sprecherin zur Verfügung steht, ohne Rücksicht auf Sprachengrenzen (vgl. Otheguy et al. 2015: 283). Dies habe in der Mehrsprachigkeitsforschung zu der Sichtweise geführt, „dass das Sprachwissen Mehrsprachiger ein sprachenübergreifendes Repertoire darstellt“ (S. 19). Im Bereich der Konstruktionsgrammatik werde die Idee eines solchen sprachübergreifenden Repertoires unter anderem in Höders Diasystematischer Konstruktionsgrammatik aufgegriffen (z. B. Höder 2014). Das Potential der Konstruktionsgrammatik für die Mehrsprachigkeitsforschung sehen Erfurt & De Knop vor allem darin, dass sie „einen theoretisch konsistenten begrifflichen Apparat [bietet], um sowohl das Konstruktikon der Individuen in seinen Elementen als auch die Prozesse zu beschreiben, die für das sprachliche Lernen von zentraler Bedeutung sind“ (S. 20).
Die Beiträge von Steffen Höder und Philipp Wasserscheidt stellen zwei unterschiedliche, aber doch in vielerlei Hinsicht miteinander kompatible theoretische Zugänge vor, die sich dem Phänomen der Mehrsprachigkeit aus konstruktionsgrammatischer Perspektive nähern: zum einen die Diasystematische Konstruktionsgrammatik (DCxG), zum anderen die Bilinguale Konstruktionsgrammatik (BCxG). Höders Beitrag konzentriert sich dabei auf die Analyse nichtkanonischer mehrsprachiger Formen in innerskandinavischen, deutsch-skandinavischen sowie hochdeutsch-niederdeutschen Sprachkontaktsituationen. Im Sinne einer ökonomischen Modellierung des sprachlichen Wissens Mehrsprachiger unterscheidet er zwischen sprachübergreifenden Diakonstruktionen und sprachspezifischen Idiokonstruktionen, wobei „sprachspezifisch“ meint, dass sich „kontextuelle Indikatoren dafür finden, dass die Konstruktion auf bestimmte kommunikative Kontexte beschränkt ist, die mit einer bestimmten Sprache assoziiert sind“ (S. 33). So lassen sich Lehnübersetzungen wie niederdeutsch Muuswieser ‚Mauszeiger‘ mit diasystematischen Wortbildungskonstruktionen modellieren und lautlich hybride Formen wie niederdeutsch Ruum ‚Raum‘ (statt des entsprechenden niederdeutschen Lexems Stuuv) mit einer Kombination aus teilschematischer Diakonstruktion und phonologischem Sprachmarker. Zugleich weist Höder auf einige offene Fragen hin, die sein Modell mit sich bringt, etwa, inwiefern im Sprachwissen Mehrsprachiger stark schematische Dia- und Idiokonstruktionen einsprachige Konstruktionen ersetzen oder diese nur ergänzen. Im Vergleich mit anderen Ansätzen in der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik ist hier vor allem die Annahme von Konstruktionen auf submorphemischer Ebenen interessant, die in Höder (2014) ausführlicher diskutiert wird und im Gegensatz zum „Mainstream“ der Konstruktionsgrammatik steht, der davon ausgeht, dass von Konstruktionen erst ab der Wortebene (z. B. Croft 2001: 17, Booij 2010: 15) oder sogar erst oberhalb der Wortebene (Stefanowitsch 2009: 569; Diessel 2019: 11) gesprochen werden kann, während laut Höder auch die genannten phonologischen Sprachmarker als „straightforward constructions“ (Höder 2014: 227) angesehen werden können, weil ihnen im Sprachkontakt eine (sozio-)pragmatische Bedeutung zukommt.
Wasserscheidts Bilinguale Konstruktionsgrammatik (BCxG) ist demgegenüber stärker in „klassischen“ gebrauchsbasierten Ansätzen verwurzelt und nimmt keine sprachübergreifenden Konstruktionen an. Im Gegensatz zur DCxG liegt der BCxG zumindest implizit die Annahme unterschiedlicher „Konstruktika“ für unterschiedliche Sprachen zugrunde. Da gebrauchsbasierte Ansätze generell von einem sehr hohen Maß an Redundanz bei der Repräsentation von Konstruktionen ausgehen (vgl. z. B. Langacker 1988: 131), ist diese gerade im direkten Vergleich zur DCxG zunächst vielleicht recht unökonomisch anmutende Annahme keinesfalls abwegig (wenngleich psycholinguistische Studien die Annahme sprachübergreifend geteilter Strukturen, also Diakonstruktionen im Sinne Höders, durchaus plausibel erscheinen lassen, wie z. B. zahlreiche structural priming-Studien zeigen, die Van Gompel & Arai 2017 überblicksartig darstellen). Wasserscheidt stellt v. a. die Anwendung der BCxG in sog. verdeckten Sprachkontaktphänomenen in den Mittelpunkt, wobei er sich auf Beispiele aus dem deutsch-slawischen Sprachkontakt stützt und unter Einbezug von Erkenntnissen aus der Lernforschung die Mechanismen der Analogie und der Imitation besonders hervorhebt. Analogie liegt etwa vor, wenn Bedeutungsaspekte einer Konstruktion aus der Quellsprache (hier: der Muttersprache) auf eine teilweise äquivalente Konstruktion in der Zielsprache übertragen werden, z. B. im Falle des Kompositums Familienschätze, in dem die Sprecherin den Begriff Schätze in Analogie zu russ. cennosti im Sinne von ‚Werte, Wertvorstellungen‘ gebraucht (S. 61). Eine Imitation dagegen liegt vor, wenn eine Struktur aus der Quellsprache in der Zielsprache quasi nachgebildet wird, ohne dass die Struktur in der Zielsprache – ggf. mit anderer Bedeutung – bereits existiert, etwa wenn eine polnische Muttersprachlerin die Struktur ganze Tage analog zu poln. caƚymi dniami ‚ganz-INSTR-PL Tag-INSTR-PL‘ im Sinne von ‚tagelang‘ verwendet (S. 66). Wasserscheidt diskutiert eine Reihe konstruktionaler Faktoren, die den Transfer via Analogie oder Imitation begünstigen können, darunter wahrgenommene Ähnlichkeit, Salienz und Entrenchment.
Der Beitrag von Wolfgang Imo & Evelyn Ziegler analysiert den Gebrauch des Pronomens man aus der Perspektive der Interaktionalen Konstruktionsgrammatik auf Grundlage narrativer Interviews zu Spracheinstellungen mit Personen mit v. a. türkischem und arabischem Migrationshintergrund. Sie argumentieren, dass man in den Gesprächen nicht nur als „neutrales“ Indefinitpronomen verwendet wird, sondern in vielen Fällen eine Positionierungsfunktion erfüllt. So wird man zur Herstellung zeitlicher oder epistemischer Distanz verwendet, insbesondere jedoch auch zur Herstellung von „affektiver oder Verantwortungsdistanz“ (S. 88), wobei man eine „das eigene Verhalten exkulpierende Wirkung“ hat (S. 89), wenn die SprecherInnen auf eigene Handlungen Bezug nehmen, die potentiell negativ bewertet werden könnten. Die Kombination von interaktionaler Linguistik und Konstruktionsgrammatik werten sie vor allem deshalb als vielversprechend, weil Erstere den Fokus auf „lokale Aushandlungen und Flexibilität von Form und Funktion“ legt (S. 79), während Letztere v. a. feste Muster in den Blick nimmt. Im konkreten Fall von man entfaltet sich das Funktionsspektrum der Konstruktionen, in denen es vorkommt, erst „im Zusammenspiel mit den kommunikativen Aufgaben, die gerade erledigt werden, dem Einsatz von prosodischen oder lexikalischen Kontextualisierungshinweisen etc.“ (S. 101). Die Kombination der beiden Paradigmen erlaube es, die Pole von „Musterhaftigkeit“ und „Emergenz“, zwischen denen sich Sprache bewege, gleichzeitig in den Blick zu nehmen.
Während Spracheinstellungen im Beitrag von Imo & Ziegler nur mittelbar diskutiert werden, bilden sie den Ausgangspunkt der Studie von Evelyn Wiesinger, die sich mit der z. T. stigmatisierten Verwendung der Konstruktion [V para atrás] ‚V (nach) hinten, rückwärts‘ bei bilingualen hispanics in den USA im Vergleich zum europäischen Standardspanisch beschäftigt. Entgegen der verbreiteten Erklärung, dass es sich bei Verwendungen wie llamar para atrás ‚zurückrufen‘ anstelle standardsprachlicher Varianten wie llamar nuevamente/de vuelta um Calques aus dem Englischen (z. B. call back) handle, zeigt sie, dass die Konstruktion [V para atrás] insbesondere in Kombination mit Bewegungsverben auch in einem Referenzkorpus des europäischen Spanisch durchaus zahlreich belegt ist. Für bilinguale SprecherInnen in den USA zeigt sie auf Grundlage von vier Online-Korpora, dass die Konstruktion dort allerdings deutlich produktiver ist und ein breiteres Verwendungsspektrum aufweist: So wird z. T. das Ziel der Bewegung explizit benannt, was fürs europäische Spanisch nicht belegt ist, und es können reziproke Aktivitäten enkodiert werden. Sie zeigt, dass keineswegs alle Verwendungsweisen der Konstruktion im engl. [V back] eine Parallele haben. Ihre Ergebnisse interpretiert Wiesinger als Evidenz für eine komplexe Interaktion zwischen spanischen und englischen Konstruktionen (S. 121). Den Mehrwert eines konstruktionsgrammatischen Zugangs sieht Wiesinger insbesondere im differenzierten Blick auf alle sprachlichen Strukturierungsebenen durch inter-linguale und intra-linguale Verknüpfungen, die über „die pauschale Zuschreibung von Labels wie ‚Calque‘, ‚Grammatikalisierung‘ oder ‚konzeptuelle Konvergenz‘“ (S. 120) hinausgehen.
Im Beitrag von Sabine De Knop & Fabio Mollica werden verblose Direktiva des Typs Ab ins Bett! im Deutschen, Französischen und Italienischen untersucht. Zunächst werden fürs Deutsche unterschiedliche Typen verbloser Direktiva herausgearbeitet, die mit Daten aus dem Webkorpus deTenTen (Jakubíček et al. 2013) illustriert werden (das jedoch durchweg als „deTenTe“ zitiert wird; zudem wird bei der Einführung des Korpus auf S. 130 das Korpus selbst gar nicht genannt, sondern vielmehr das Suchabfragesystem SketchEngine). Anschließend vergleichen De Knop & Mollica zwei im Original französischsprachige Comichefte und ihre jeweiligen deutschen und italienischen Übersetzungen hinsichtlich der Verwendung verbloser Direktiva. Sie können zeigen, dass in den romanischen Sprachen zumeist Imperativsätze die Äquivalente zu deutschen verblosen Direktiva bilden. Dies wird mit der auf Talmy (u. a. 2000) zurückgehenden Typologie von verb-framed und satellite-framed languages in Verbindung gebracht, wonach germanische Sprachen den Pfad einer Bewegung eher in Satelliten ausdrücken und romanische Sprachen eher im Vollverb. In der konzeptualistischen Semantik, die für die gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik wie für andere kognitiv-linguistische Ansätze charakteristisch ist, sehen De Knop & Mollica denn auch den Mehrwert eines konstruktionsgrammatischen Zugangs: „Sprachen können ein und dieselbe Realität unterschiedlich versprachlichen und einige Konstruktionen eher privilegieren als andere“ (S. 144).
Im Beitrag von Thomas Herbst geht es um die Frage, wie konstruktionsgrammatische Konzepte im Fremdsprachenunterricht, konkret v. a. im schulischen Englischunterricht, gewinnbringend angewandt werden können. Er gibt zunächst zu bedenken, dass „weite Teile des modernen Fremdsprachenunterrichts durchaus mit einem gebrauchsorientierten und konstruktionistischen Sprachverständnis vereinbar“ seien (S. 152). So enthielten heutige Lehrwerke einen deutlich höheren Anteil an kommunikativ nützlichen Versatzstücken als frühere. Dennoch wiesen noch immer viele Lehrwerke durch die Untergliederung in einen Vokabel- und einen Grammatikteil eine strikte Trennung zwischen „Lexikon“ und „Grammatik“ auf. Herbst plädiert dafür, Wörter in Lehrwerken korpusgestützt in den Konstruktionen zu präsentieren, in denen sie vorkommen, und Vokabellisten durch Kollokationen, größere Versatzstücke sowie lexikogrammatische Erläuterungen zu ergänzen. Zudem plädiert er dafür, Funktionen und Charakter von Sprache im Englischunterricht explizit zu diskutieren.
Eine übersetzungswissenschaftliche Perspektive bietet schließlich der Beitrag von Alice Delorme Benites, die sich auf Grundlage einer explorativen Studie mit der Übertragung von N+N-Komposita aus dem Deutschen ins Französische befasst. Sie analysiert die Strategien von vier französischen und vier deutschen Studierenden der Übersetzungswissenschaft, deren Bildschirm beim Anfertigen der Übersetzung eines Beispieltextes aufgezeichnet wurde. Benites zeigt, dass die Studierenden unabhängig von ihrer Muttersprache für die Übersetzung der beiden im Text vorkommenden Komposita (Luxus-Golfresorts und Weltkulturerbe-Stätte) deutlich mehr Zeit benötigen als für alle anderen Einheiten und dass deutsche und französische MuttersprachlerInnen auf ähnliche Strategien zurückgreifen (Suche in zweisprachigen Online-Wörterbüchern, in der Textdatenbank Linguee und bei Google). Die Vielzahl der Übersetzungsvarianten, die gerade für das Kompositum Weltkulturerbe-Stätte vorgeschlagen werden, erklärt Benites damit, dass die Versuchspersonen das Kompositum streng formorientiert segmentieren und in der Zielsprache eher bedeutungsorientiert wieder zusammenfügen. Komposita im Sinne der Konstruktionsgrammatik als komplexe Einheiten zu fassen, deren Bedeutung mehr sei als die Summe der Bedeutungen ihrer Komponenten, könne helfen, die Ursachen von Fehlübersetzungen aufzuspüren, die sich zumeist daraus ergäben, dass die Bedeutung des Kompositums auf die Summe der Bedeutungen seiner Bestandteile reduziert werde.
Neben der Einleitung und den acht Beiträgen enthält der Band noch eine Rezension von Alexandra N. Lenz zum ersten Band des „Norddeutschen Sprachatlas“, die allerdings nicht mit dem thematischen Schwerpunkt des Bandes in Verbindung steht.
Insgesamt gelingt es dem Band durch die große Bandbreite der Beiträge und den Einbezug sonst eher vernachlässigter Perspektiven (z. B. der Übersetzungswissenschaft), das Potential einer mehrsprachig orientierten Konstruktionsgrammatik sowie einer konstruktionsgrammatisch orientierten Mehrsprachigkeitsforschung aufzuzeigen. Insbesondere ist positiv hervorzuheben, dass alle Beiträge explizit den Mehrwert eines konstruktionsgrammatischen Zugangs diskutieren und dadurch den Blick immer wieder auf die Möglichkeiten, aber auch auf die Grenzen dieses Ansatzes lenken sowie auf offene Fragen, mit denen sich die Konstruktionsgrammatik teilweise schon seit ihren Anfängen beschäftigt und für die eine mehrsprachige Perspektive eine zusätzliche Herausforderung darstellt. So wirft Höders Beitrag, wie oben bereits angedeutet, zum einen die Frage auf, ab welchem Abstraktionsgrad Konstruktionen postuliert werden können, zum anderen stellt sich gerade im direkten Vergleich zu Wasserscheidts Ansatz die Frage nach dem Maß an Redundanz, das im „Konstruktikon“ angenommen werden kann (von Hilpert 2014: 65–67 unter den Schlagworten complete inheritance vs. redundant representations diskutiert). Damit geht auch die Frage nach der Konzeptualisierung von Mehrsprachigkeit einher: Bildet quasi jede Sprache ein eigenes Konstruktionsrepertoire, sodass letztlich alle Konstruktionen als „Idiokonstruktionen“ im Sinne Höders gefasst werden müssen, wobei zwischen bedeutungs- und/oder funktionsähnlichen Konstruktionen in unterschiedlichen Sprachen Assoziationsbeziehungen bestehen können? Oder bilden alle Konstruktionen ein gemeinsames Repertoire, aus dem je nach kommunikativem Kontext Konstruktionen ausgewählt werden? Interessanterweise wird diese Frage nur in der Einleitung explizit diskutiert; die meisten Beiträge scheinen implizit von sprachspezifischen Konstruktionen auszugehen. Hier hätte man sich vielleicht eine stärkere Verzahnung gewünscht – gerade bei den Beiträgen von Höder und Wasserscheidt wäre eine gegenseitige Bezugnahme interessant gewesen, da DCxG und BCxG recht unterschiedliche, aber eben doch in Teilen miteinander kompatible Herangehensweisen an die konstruktionsgrammatische Modellierung von Mehrsprachigkeit bieten.
Auffällig, aber keineswegs ein Manko, ist zudem, dass es sich bei allen empirischen Fallstudien, die in den Beiträgen diskutiert werden, um Pilotstudien zumeist auf relativ überschaubarer Datenbasis handelt. Diese zeigen, wie gesagt, deutlich das Potential einer konstruktionsgrammatischen Herangehensweise an Mehrsprachigkeit auf, machen jedoch auch deutlich, dass die methodischen Herausforderungen, die eine dezidiert gebrauchsbasierte Mehrsprachigkeitsforschung mit sich bringt, noch einmal ein eigenes Themenfeld wären, mit dem sich die zukünftige Forschung auf diesem Gebiet auseinandersetzen muss. Insbesondere die mehrfach angesprochene Frage, ob und in welchem Maße Konstruktionen sprachspezifisch sind oder sprachübergreifend sein können, lässt sich nur auf Grundlage empirischer Evidenz angemessen klären.
Alles in allem ist Jürgen Erfurt und Sabine De Knop mit diesem OBST-Band eine fruchtbare Zusammenstellung relevanter und erkenntnisreicher Beiträge gelungen, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Möglichkeiten und Grenzen eines konstruktionsgrammatischen Zugangs in der Mehrsprachigkeitsforschung ausloten und zudem zahlreiche Perspektiven für die weitere Forschung aufzeigen.
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