Rezensierte Publikation:
Thomas Niehr, Jörg Kilian & Jürgen Schiewe (Hg). 2020. Handbuch Sprachkritik. Berlin: J. B. Metzler. 439 S.
Das Handbuch Sprachkritik versammelt auf über 400 Seiten in sechs Abschnitten einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der linguistischen Sprachkritik im deutschsprachigen Raum.
Im ersten Teil werden grob chronologisch erkenntnistheoretische Grundlagen diskutiert. Elisabeth Leiss geht der Frage nach, ob Sprache das Erkennen von Wirklichkeit ermöglicht, und führt die Fäden von Platon über das Mittelalter und den Buchdruck bis zur aktuellen Sprachkritik zusammen. Thomas Bein zeigt parallel dazu, dass auch außerhalb der Universitäten im Mittelalter ein metasprachlicher Diskurs in der Volkssprache sowohl zu religiösen und wissenschaftlichen als auch zu fiktionalen Texten stattfindet. Tobias Heinz zeichnet die Verbindungslinien zwischen der Sprachphilosophie Herders und Humboldts und der Sprachkrise um 1900 nach. Abschließend geht Martin Thiering dem Konzept der sprachlichen Relativität sowohl aus philosophischer als auch aus kognitiv-linguistischer bzw. kognitiv-anthropologischer Perspektive nach.
Nach diesen Grundlagen nähern sich die nächsten Teile der Sprachkritik auf verschiedenen (aszendent geordneten) sprachlichen Ebenen: „Wortkritik“, „Text-/Stilkritik“, „Diskurskritik“ und schließlich „Kritik am kommunikativen Handeln“. Da Sprachkritik immer Kritik am Sprachgebrauch und somit in größere Zusammenhänge eingebunden ist, unterscheiden sich diese Teile des Handbuchs jedoch eher durch verschiedene methodische Herangehensweisen als durch eine jeweils konsequente Beschränkung auf eine Sprachebene.
Mit 100 Seiten nimmt die „Wortkritik“ den größten Raum ein. In zwölf Kapiteln werden historische und aktuelle Debatten beleuchtet. Zum tieferen Verständnis für die Geschichte der Sprachkritik tragen Markus Hundts Darstellung der Fremdwortkritik in Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts, Jürgen Schiewes Text zur aufklärerischen Sprachkritik und Anja Stukenbrocks Darstellung der nationalistischen Fremdwortkritik bis 1945 bei. Alexander Horn rückt bei der Beschreibung der Kritik am journalistischen Sprachgebrauch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Kraus, Alfred Kerr und Kurt Tucholsky in den Mittelpunkt. Heidrun Kämper bringt mit der Lingua Tertii Imperii (LTI) und dem Wörterbuch des Unmenschen (WdU) zwei frühe Beispiele für Kritik am Sprachgebrauch des Nationalsozialismus, die im Text von Ruth M. Mell über den „Streit über die Sprachkritik“ in der Linguistik der 1960er-Jahre wieder aufgenommen werden. Aktuelle Debatten werden in Martin Wengelers Text zu wortkritischen Aktionen und Christian D. Kreuz’ Darstellung des laienlinguistischen Diskurses der Kritik an Fremd- und Fachwörtern thematisiert. Dass die Grenzen zwischen den linguistischen Beschreibungsebenen nicht leicht zu ziehen sind, zeigen hier auch die Beiträge von Magnus P. Ängsal zur feministischen Sprachkritik und Nina-Maria Klug zur antidiskriminierenden Sprachkritik, in denen die enge Verbindung zwischen Wort- und Gesellschaftskritik deutlich wird. Thomas Niehr gibt einen Überblick über linguistisch begründete Ansätze einer politisch-soziologischen Wortkritik und Jochen A. Bär schließt diesen Abschnitt mit einer Systematisierung möglicher Wortkritik unter dem Aspekt der funktionalen Angemessenheit ab.
Mit sechs Kapiteln ist der Abschnitt zur „Text-/Stilkritik“ wesentlich kürzer. William J. Dodd und Philipp Dreesen beschreiben die Möglichkeiten verdeckter Sprachkritik als Regimekritik unter dem Nationalsozialismus und in der DDR. Steffen Pappert und Joachim Scharloth zeigen mit den Schwerpunkten 1968 und 1989 auf, wie revolutionäre gesellschaftliche Bewegungen mit Kritik an bestehenden sprachlichen Praktiken einhergehen. Jürgen Schiewe nimmt eine Engführung von Sprach- und Kulturkritik vor und thematisiert dadurch auch die Frage nach der Verortung der Linguistik als Kulturwissenschaft. Maren Lickhardt geht der Frage nach, wie sich Sprachkritik in der Literatur und in literarisch-sprachkritischen Diskursen äußert. Explizit mit der Ebene des Stils beschäftigen sich die letzten beiden Beiträge: Hans-Werner Eroms untersucht die Charakteristiken populärer Stillehren, während Pavla Schäfer eine pragmalinguistische Herangehensweise an den „guten Stil“ über das Konzept der Angemessenheit diskutiert.
Der Abschnitt zur „Diskurskritik“ wird mit drei theoretischen Beiträgen eingeleitet, die einen Überblick über die Kritische Diskursanalyse/CDA (Martin Reisigl/Friedemann Vogel), die Historische Diskurssemantik und ihr kritisches Potenzial (Dietrich Busse) und die Kontrastive Diskurslinguistik (Waldemar Czachur) geben. Die weiteren Beiträge widmen sich ausgewählten Diskursen. Petra Ewald untersucht orthographische Reformen und die sie begleitenden Pressediskurse. Jürgen Spitzmüller beschreibt die Grundlagen und Funktionsweisen metapragmatischer Diskurse anhand des Fremdwortdiskurses. Thomas Niehr beleuchtet die sprach- und sachkritischen Aspekte des bundesdeutschen Migrationsdiskurses. David Römer untersucht Krisendiskurse in einer historisch-vergleichenden Perspektive. Carolin Krüger schlüsselt Teildiskurse des Altersdiskurses mit dem Hinweis auf, dass es den einen Altersdiskurs nicht gibt. Auch Nina Kalwa stellt die Vorstellung eines homogenen Diskurses infrage und betrachtet verschiedene unter dem Begriff Islamdiskurs versammelte Diskurse aus drei ausgewählten Perspektiven. Einen korpuslinguistischen Zugang zum Phänomen der Globalisierung zeigt schließlich Petra Storjohann auf.
Die „Kritik am kommunikativen Handeln“ versammelt Beiträge zum sprachkritischen Potenzial unterschiedlicher Lebens- und Kommunikationsbereiche. Olaf Kramer beschreibt sprachkritische Zugänge innerhalb der Rhetorik, die in ihrer Aufteilung – erkenntnistheoretisch, text- und stilkritisch sowie gesellschaftsbezogen – wiederum Anknüpfungspunkte an andere Beiträge aufweisen, so z. B. explizit zu Nina Janichs Konzept der Sprachkultur im darauffolgenden Beitrag, in dem über die Frage der Normsetzung und der Bewertung kommunikativen Handelns Sprachkritik mit Sprachkultur und -kultivierung verbunden wird. Christian Efing zeigt die unterschiedlichen Ebenen von und Ansprüche an Verwaltungssprache und damit die Schwierigkeiten ihrer Optimierung auf. Ähnlich spannen sich auch die sprachkritischen Debatten zu Wissenschaftssprache und Wissenskommunikation zwischen fachlicher Präzision und allgemeiner Verständlichkeit auf, wie Jürg Niederhauser in seinem Beitrag beschreibt. Constanze Spieß nimmt den öffentlich-politischen Kommunikationsbereich in den Blick und zieht Verbindungen zwischen Politolinguistik und Sprachkritik, während Bettina M. Bock über die kritische Reflexion über Normen eine Linie von Sprachkritik zur aktuellen Forschung zu kommunikativem Handeln in Bildungsinstitutionen zeichnet. Birte Arendt legt den vielschichtigen Begriff der Sprach(en)politik frei und weist auf den Bedarf einer stärkeren Interaktion zwischen Sprachkritik und Sprach(en)politik hin. Christa Dürscheid beschreibt eine Internet-Sprachkritik, zu der das Schreiben und das Kommunikationsverhalten im Internet sowie die Folgen der Internetnutzung für die nicht-digitale Kommunikation gehören. Benjamin Könning setzt der oft geäußerten Annahme eines Sprachverfalls bei Jugendlichen ein differenziertes Bild der aktuellen Forschung entgegen. Nina Janich und Dominic Schüler betrachten Werbekommunikation und ‑sprache zunächst als rhetorisches System und koppeln dieses dann an den Begriff der Sprachkultur zurück.
Der letzte Abschnitt des Handbuchs behandelt „Sprachkritik in linguistischen Arbeitsfeldern“ und bietet so nach den erkenntnistheoretischen Grundlagen und dem Zugriff auf das Thema über linguistische Beschreibungsebenen einen neuen Blickwinkel auf Sprachkritik. Im Zentrum steht hier in den meisten Beiträgen die Normierung sprachlicher Teilbereiche. Patrick Beuge zeigt die grundsätzliche Abhängigkeit sprachlicher Normierungsprozesse von sprachkritischen Handlungen auf. Jan Seiferts Beitrag folgt zunächst einer historischen Perspektive auf die Kodifikation der Aussprache und thematisiert dann den Paradigmenwechsel – das verstärkte Interesse an Variation – in der Linguistik. Wenig Interesse an Variation gibt es in Bezug auf die Kodifikation der Schreibung: Dieter Nerius beschreibt die Grundlagen und Regelwerke der Orthographie und die damit einhergehende sprachkritische Bewertung. Jan Georg Schneider zeigt anhand der Arbeitsweise zum Duden-Band 9 (Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle), dass empirische Fundierung dem Bedürfnis nach Orientierung in Normfragen nicht widerspricht und thematisiert damit die Unterschiede zwischen linguistischem und populär-sprachkritischem Grammatikverständnis. Sabine Elsners Beitrag beschäftigt sich mit der Bildung und Beeinflussung lexikalisch-semantischer Normen und ihrem Status in der Sprachwissenschaft. Ulla Fix setzt sich in ihrer Betrachtung von Stilnormen mit dem Zusammenspiel von Regeln, Normen, Mustern und Maximen auseinander. Jana Kiesendahl beschreibt die Ermittlung pragmatischer Normen und wie diese letztlich die Grundlage für die sprachkritische Bewertung eines Kommunikats im Sinne der funktionalen Angemessenheit bilden. Die letzten beiden Beiträge verschieben den Fokus etwas: Kersten Sven Roth geht dem Verhältnis von Sprachkritik und Sprachberatung nach und Jörg Kilian differenziert verschiedene Ausprägungen didaktischer Sprachkritik und beschreibt die aus den Differenzen resultierenden Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung von Sprachkritik im Deutschunterricht.
Das Handbuch zeigt eine große Bandbreite an Zugängen zum Thema Sprachkritik und damit auch die Komplexität dieses Themas auf. Das macht bereits die Gliederung deutlich: Sie beginnt mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen grob chronologisch, geht dann zu Sprachbeschreibungsebenen über und endet schließlich mit der Systematik der Arbeitsfelder. Zwangsläufig kommt es dabei zu Überschneidungen, wie z. B. in den Darstellungen vergangener sprachkritischer Diskurse, wodurch immer wieder neue Einordnungen historischer Begebenheiten und Positionen aus einer anderen Sicht erfolgen. Das Handbuch spiegelt also selbst durch seinen Aufbau die Prämisse wider, dass Kritik an Sprachverwendungen immer nur aus dem Kontext ihres Gebrauchs erfolgen kann, indem Untersuchungsgegenstände und relevante Ereignisse in unterschiedliche Kontexte gesetzt werden und so differenziert betrachtet werden können. Thematische Überschneidungen führen bei einer durchgehenden Lektüre zu einer vertieften Auseinandersetzung nicht nur mit Geschichte, Methoden und Themen der Sprachkritik, sondern auch mit den Möglichkeiten der Kontextualisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Es ist kaum möglich, eine klare Trennlinie zwischen Sprachkritik, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie zu ziehen, und es wäre auch nicht zielführend, es zu versuchen. Sprachkritik wird hier – unterschiedlich weit gefasst – in mehr als 50 Beiträgen aus verschiedenen Blickwinkeln historisch, methodisch und anhand ausgewählter Themen und Diskurse betrachtet. Es ist das erste Handbuch dieser Art – das mehrsprachige Handbuch Europäische Sprachkritik (Felder et al. 2017) ist anders aufgebaut – und es nähert sich durch die Vielfalt der Perspektiven der Sprachkritik beinahe wie über eine Familienähnlichkeit im Sinne Wittgensteins (1967: 48). Zwar werden die in der Einleitung zitierte Definition von Sprachkritik als „positive wie negative Würdigung der menschlichen Sprache und ihrer Leistungen sowie des Gebrauchs, der von ihr gemacht wird“ (Kilian, Niehr & Schiewe 2016: 1), und das Kriterium der funktionalen Angemessenheit in vielen Beiträgen aufgenommen, die Multiperspektivität und Intertextualität der Beiträge lässt Sprachkritik jedoch als komplexes und vielschichtiges Phänomen in Erscheinung treten.
Genau diese Multiperspektivität durch das Zusammenspiel theoretisch ausgerichteter und thematischer Beiträge ist die große Stärke dieses Handbuchs. Die theoretischen Kapitel beschreiben kritische Zugänge in vielen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen, wodurch dieses Handbuch auch einen Überblick aktueller Strömungen und Positionen mit kritischem Potenzial in der Linguistik leistet. Die thematisch ausgerichteten Kapitel greifen eine Fülle aktuell in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierter Themen und gesellschaftlich wichtiger Kommunikationsdomänen auf und zeigen somit das gesellschaftsrelevante Potenzial einer angewandten und kritischen Linguistik. Mit der Rückkoppelung sprachkritischer Themen an linguistische Arbeitsfelder im letzten Teil findet eine letzte Verdichtung und Rekontextualisierung statt.
Mit dem Handbuch Sprachkritik liegt nun ein umfassender Überblick über die Entwicklung der Sprachkritik, ihre Anknüpfungspunkte in aktuellen, kritisch ausgerichteten linguistischen Forschungsfeldern und gesellschaftlichen Diskursen vor, der gleichzeitig die Polydimensionalität von Sprachkritik in Bezug auf linguistische Ebenen und Arbeitsfelder deutlich macht. Letztlich ist die Vielstimmigkeit eines Handbuchs die ideale Form, um sich Sprachkritik zu nähern, sie immer wieder neu auszuleuchten und in all ihrer Komplexität greifbar zu machen.
Literatur
Felder, Ekkehard et al. (Hg.). 2017. Handbuch Europäische Sprachkritik Online (HESO). Bd. 1: Sprachnormierung und Sprachkritik. Heidelberg: Heidelberg University Publishing. Search in Google Scholar
Kilian, Jörg, Thomas Niehr & Jürgen Schiewe. 2016. Sprachkritik. Ansätze und Methoden der kritischen Sprachbetrachtung (Germanistische Arbeitshefte 43). 2. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110409666Search in Google Scholar
Wittgenstein, Ludwig. 1967. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Search in Google Scholar
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