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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter April 29, 2022

Jannis Androutsopoulos & Florian Busch (Hg.). 2020. Register des Graphischen. Variation, Interaktion und Reflexion in der digitalen Schriftlichkeit (Linguistik – Impulse & Tendenzen 87). Berlin: De Gruyter. 288 S.

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Rezensierte Publikation:

Jannis Androutsopoulos & Florian Busch (Hg.). 2020. Register des Graphischen. Variation, Interaktion und Reflexion in der digitalen Schriftlichkeit (Linguistik – Impulse & Tendenzen 87). Berlin: De Gruyter. 288 S.


Varianz digitaler Alltagsschriftlichkeit

Die Aufsatzsammlung thematisiert Prozesse und Phänomene des informellen, interaktionsorientierten digitalen Schreibens. Der markante Titel hebt die beiden Hauptaspekte hervor, denen die korpuslinguistischen und diskurs-/konversationsanalytischen Arbeiten folgen: Register steht dabei allgemein für die noch ungenügend untersuchte soziale Variabilität des Schreibens in/mit digitalen Medien. Graphisches wird – abweichend vom breiteren Alltagsverständnis – als „vielschichtiger Materialbestand von visuell realisierten Sprachformen“ (S. 23) gefasst. So gelangt im semiotischen Sinn die Materialität von Zeichen als Grundlage ihrer kontextdeterminierten und metapragmatisch reflektierten Semantisierung in den Blick. Zu den in den Beiträgen untersuchten graphischen Phänomenen gehören Verschriftungsvarianten (Phonographie), Graphostilistik, Interpunktion, Bildzeichen, Typographie und die intensivierende Iteration von graphischen Formen (z. B. Grapheme, Interpunktion, Emojis).

Einen profunden und umfassenden theoretischen Rahmen für die einzelnen Studien zur „Ausdifferenzierung digitaler Schriftlichkeit“ (S. 1) präsentieren Androutsopoulos und Busch, indem sie kenntnisreich den relevanten Forschungsstand in Schrift-, Sozio- und Medienlinguistik referieren. Daraus entwickeln sie einen eigenen Ansatz zur Erforschung der „sozio-situativen Varianz digitaler Sprache“, der pragmalinguistische Zugänge und soziolinguistische Registertheorie elegant synthetisiert. Drei „Beschreibungsdimensionen“ (S. 21–23) werden dabei hervorgehoben: Variation, verstanden als Verteilungsmuster graphischer Mittel in einem soziosituativen Kontext, Interaktion als kommunikative Praxis des Aushandelns von graphischen Mitteln zur Kontextualisierung von Äußerungen und metakommunikative Reflexion der Schreibpraktiken in ihren identitäts- und zugehörigkeitsstiftenden Funktionen. Die zentrale These des Buches, die durch die Empirie der einzelnen Kapitel illustriert und bewiesen wird, ist, dass neben medialen Aspekten die „soziopragmatische Register-Konstellation“ (S. 3) einen entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise des digitalen Schreibens hat.

Korpusbasierte Studien

Nach einer grundlegenden Reflexion der unterschiedlichen Affordanzen des digitalen und chirographischen Schreibens befasst sich Dürscheid mit dem Verhältnis von Interpunktionszeichen und Emojis in einem großen Schweizer WhatsApp-Korpus. Die Ergebnisse zeigen, dass am Ende der Nachrichten mit großer Häufigkeit keine Punkte, sondern Emojis stehen. Selbst beitragsfinale Frage- und Ausrufezeichen sind häufiger als der Punkt. Wenn Emojis und Interpunktionszeichen kombiniert werden, stehen Emojis zuletzt. Interaktionale Beobachtungen legen nahe, dass die Punktsetzung einen zusätzlichen Interpretationsrahmen eröffnet. Generell hebt das Kapitel die Bedeutsamkeit einer textsorten- und kontextsensiblen Interpretation quantitativer Korpusbefunde hervor und wendet sich gegen die statische Auffassung von der Existenz eines ‚Digilects‘ (vgl. Veszelski 2016).

An einem mikrodiachronen Korpus (2005–2018) von Spiegel-Online-Kommentaren illustriert Berg seine aus der Evolutionsbiologie hergeleitete These zum Wandel digitaler Orthographie. Sie besagt, dass orthographische Variation beim Medienwechsel zunächst zunimmt, in der weiteren Nutzung des digitalen Schreibens dann aber kontinuierlich abnimmt. Diese Art von systemimmanenter Standardisierung wird in der Studie konkret an der Angleichung der Verwendungshäufigkeit der Varianten ich’s und ichs (ich es) gezeigt und mit ‚entrenchment‘ begründet, d. h. der kognitiven Gewöhnung an nicht normgerechte Schreibweisen aufgrund ihrer wahrgenommenen Häufigkeit. Neben der Verfestigung hochfrequenter Varianten gibt es aber auch ‚acts of identity‘ (vgl. Le Page/Tabouret-Keller 1985), also bewusste individuelle Gebrauchsentscheidungen. Beides kann als Prozess der Demokratisierung von Orthographie beschrieben werden.

Ein kontrastives WhatsApp-Korpus (D/CH) nutzt Siebenhaar dazu, die Gebrauchshäufigkeit verschiedener Informalitätsmarker zu untersuchen. Generell geht er davon aus, dass solche Marker einzel- oder übereinzelsprachlich sein können und Informalität eine rollen- und situationsbezogene Angemessenheitsdimension des Schreibens ist, die der laufenden Reflexion und Akkommodation bedarf. Konkret werden folgende Kriterien untersucht: Versalschreibung ganzer Wörter, Buchstaben- und Interpunktionszeicheniteration, Emoji- und ASCII-Smiley-Gebrauch. Es ergeben sich für vier dieser fünf Kriterien signifikant höhere Frequenzen im Deutschschweizer Korpus, was damit erklärt wird, dass im Unterschied zu den bundesdeutschen Chats Dialektschreibung die Norm ist und daher nicht für die Informalitätsmarkierung zur Verfügung steht. Die mehrheitliche Nutzung der Autokorrektur erschwert bundesdeutschen Schreibern zudem die Erzeugung orthographieabweichender Informalität.

Mit Hilfe eines Deutschschweizer WhatsApp-Korpus geht Felder der Verschriftungsvariation von Dialekt und ihrer soziolinguistischen Erklärung nach. Dabei gelangt neben der interindividuellen auch die intraindividuelle Variation in den Blick, die mit mehr oder weniger bewusster Variantenwahl und mit Kurz- oder Langzeitakkommodation an die Interaktionspartner erklärt wird (vgl. Coupland 2007). Anhand der Verschriftung von [ks] und [ʃ] zeigt die Studie eine klare interindividuelle Präferenz von standarddeutsch-nahen Varianten und solchen, die Morphemgrenzen erhalten, während Fremd-/Lehnwörter sich klar an den Schreibweisen der Ursprungssprache orientieren (z. B. cool vs. kuhl). Unter Rückgriff auf das Konzept des ‚indexical field’ (vgl. Eckert 2008) werden für die intraindividuellen Varianten <gs> vs. <x> ([ks]) unterschiedliche soziale Bedeutungsaspekte (z. B. erwachsen/konform vs. jugendlich/non-konform) nachgewiesen, mit Hilfe derer sich Schreiber positionieren.

Ausgehend von der These, „dass Interpunktionszeichen eine wichtige Ressource für die schriftbasierte Interaktion darstellen“ (S. 134), untersucht Androutsopoulos die Verwendungsmuster des Auslassungspunkts (AP) in einem neugriechischen Korpus von Facebook-Kommentaren jugendlicher Schreiber. Die sequentiell-topologische Analyse weist beitragsmediale AP als am häufigsten aus, beitragsinitiale und -finale AP als sehr selten, während beitragswertige AP als innovativ gelten können. Als „Teil einer graphisch-visuellen Ökologie“ (S. 154) haben AP diverse interaktionale Funktionen, wie z. B. Andeutung, Markierung thematischer Spannung, Zustimmung, Wiederaufnahme und Entlastung von differenzierter Interpunktion. Die breite topologische Distribution des AP legt seine Funktion als satz- und äußerungssyntaktischer „Allzweck-Segmentierer“ (S. 155) nahe, was als Umfunktionierung eines textuellen Interpunktionszeichens in ein syntaktisches Zeichen gedeutet wird.

Vor dem Hintergrund einer reichhaltigen Theoretisierung von Gender als „makrosoziale Ordnungskategorie“ (S. 247) untersucht Busch, wie Schüler im Alter von 12 bis 18 Jahren Geschlechterrollen beim digitalen Alltagsschreiben auf WhatsApp in kollaborativer Weise herstellen. Seine Empirie kombiniert die Analyse der Distribution von Schreibformen im Korpus mit der Konversationsanalyse und der ethnographischen Rekonstruktion von Schreibpraktiken durch Interviews. Busch nutzt Silversteins (2013) indexikalische Ordnungen, um die Ergebnisse zu interpretieren. Dabei zeigt sich primäre Indexikalität durch graphische Formen, die einer Genderidentität zugeordnet werden können, wie z. B. das typisch ‚weibliche‘ Herz-Emoji. Die interaktionale Sicht interpretiert graphische Formen als metakommunikativ reflektierte sekundäre Indizes der flexiblen sozialen Positionierung. Tertiäre Indexikalität entsteht, wenn Nutzer stereotype Schreibformen und graphische Klischees ironisieren oder parodieren.

Beispielanalysen

Frick geht mittels einer themenorientierten Tweet-Sammlung den graphischen Emotionalisierungsstrategien nach, die Freude und Trauer skriptural zum Ausdruck bringen. Dazu zählen vor allem die Iteration von Buchstaben, Emojis und Versalien, aber auch visuelle Symbole. Die Methoden der digitalen Ethnographie und eine ‚thick description‘ der Beispiele zeigen, dass alle semiotischen Mittel der Emotionalisierung diskursiv ausgehandelt werden und dabei situative Angemessenheit der Maßstab ist. Freude hat eine größere Varianz der Ausdrucksressourcen, die mit Spontaneität und Expressivität korrelieren, während Trauer durch bestehende Normen semiotisch eingeschränkt ist.

Albert thematisiert Emojis als markierte „sozial-indexikalische Zeichen“ (S. 184) der digitalen Schriftlichkeit, deren ambivalenter semiotischer Status und schillernde Funktionalität ein breites Spektrum an sozialen Positionierungen und Identitätsinszenierungen ermöglichen. Auf der Basis der ‚Enregisterment‘-Theorie Aghas (2007) untersucht das Kapitel den Emoji-Gebrauch und dessen metakommunikative Reflexion in psychosozialer Online-Beratung. Die Emoji-Verwendung wird nach den beteiligten Rollen der jugendlichen Ratsuchenden, der Eltern und der Fachkräfte auf Varianz hin betrachtet. Die Fallstudien zeigen neben unterschiedlichen Emoji-Häufigkeiten in den beteiligten Gruppen vor allem verschiedene Funktionen der Stilisierung. Sind Emojis für Klienten ein Mittel zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, so nutzen Fachkräfte sie zur Regulierung von sozialer Nähe und Distanz im Spannungsfeld von Professionalität und Solidarität gegenüber den Ratsuchenden.

Am Beispiel der Schriftart Comic Sans illustriert Meletis die These, „dass die Materialität von Schriftarten als graphischen Varianten ihre mögliche Verwendung einschränkt“ (S. 254). Dies tut er durch die qualitative Inhaltsanalyse von Kontra- und Pro-Argumenten verschiedener Diskursakteure (Experten vs. Laien) in diversen Online-/Offline-Textsorten. Dabei zeigt sich, dass die verspielten und kindlichen Assoziationen von Comic Sans und ihr mangelhaftes Design – zu große Strichstärke und Zeichenabstände – zu einer breiten Ablehnung geführt haben, die mit einem Mangel passender Verwendungskontexte begründet wird. Dem steht das Argument gegenüber, dass die Schrift Legasthenikern eine sehr gute Lesbarkeit bietet und sich sehr wohl Verwendungskontexte finden, in denen die Materialität zu den intendierten Funktionen passt. Meletis sieht in den konträren und emotional vorgetragenen Argumenten den Beleg für eine Notwendigkeit, typographisches Wissen über Schriftfunktion und -ästhetik stärker zu vermitteln.

Empirie und interpretative Theoretisierung

‚Register des Graphischen‘ ist ein Sammelband par excellence: In vorbildlicher Weise verfügt das Buch über einen transparenten, einheitlichen und innovativen theoretischen Rahmen, zahlreiche interessante Bezugspunkte zwischen den Beiträgen sowie substanzielle Studien, die allesamt äußerst klar geschrieben und stringent aufgebaut sind. Die oben eingeführte Trennung in korpus- und fallbasierte Studien soll keine Wertung bedeuten; vielmehr bezeugen alle Texte des Bandes eine sehr konsequente empirische Ausrichtung – freilich in unterschiedlicher Breite und Tiefe. Dabei verbinden sich in den meisten Beiträgen quantitative und qualitative Zugänge in einem gewinnbringenden Wechselspiel: Der Blick auf die Distribution im Korpus ergibt ein Repertoire von graphischen Formen; die konversations-/interaktionsanalytische Untersuchung erlaubt Rückschlüsse auf situative Verwendungsmuster und ihre Reflexion durch die Schreiber selbst. Interessant machen den Band nicht nur die auf Register, ‚Enregisterment‘, Indexikalität, Variation und sprachreflexive Prozesse aufgebaute Theoretisierung, sondern auch die Breite und Vielfalt der behandelten Schreibkontexte und -konstellationen.

Der Band als Ganzes zeigt die rasant gestiegene Bedeutsamkeit des informellen, interaktionsorientierten Schreibens in mobilen digitalen Medien und leistet einen gewichtigen Beitrag zu dessen Erforschung. In diesem Sinne setzt er die Tradition einer ‚sociolinguistics of writing‘ (vgl. Lillis 2013) in innovativer Weise fort, vor allem indem die Autoren und Herausgeber zu Recht die graphische Materialität von Schrift und die inhärente Multimodalität des Schreibens in den Vordergrund rücken. Für die Zukunft gilt meines Erachtens, was Heng Hartse (2016: 176) in einem Review von Lillis (2013) und Coulmas (2013) feststellt: „It is time (...) that writing scholars look more closely at sociolinguistic approaches. (...) writing (...) is worth studying in a way analogous to speech“. Insofern füllt ‚Register des Graphischen‘ die beschriebene Lücke und bearbeitet einige zentrale Fragestellungen der Soziolinguistik des (digitalen) Schreibens.

Zwei kleinere Gedanken haben mich bei der Lektüre beschäftigt: 1. Auch wenn der Band die soziopragmatischen Aspekte der Variabilität des Schreibens mit Erfolg hervorhebt, erscheinen dessen mediale Faktoren immer noch zentral. Gerne sähe man eine stärkere Orientierung auf unterschiedliche Textsorten, die nicht nur mit informellen Schreiberkonstellationen, sondern vordergründig auch mit Diskursthemen und Kommunikationsfunktionen zu tun haben. Zweifel daran, dass diese Art von Variation der Untersuchung leicht zugänglich ist, sind angebracht – die Schwierigkeiten liegen in der Kompilierung entsprechender Korpora und deren Binnendifferenzierung nach Themen und Funktionen. Insofern muss man befürchten, dass das, was traditionelle Registertheorien als ‚field‘ bezeichnen, ein unscharfer Fleck der Erforschung des informellen interaktionalen Schreibens bleibt. 2. Die Zusammenstellung des Personenverzeichnisses hat mir Rätsel aufgegeben. Es leuchtet sicher ein, dass hier nicht alle referierten Autoren Eingang finden. Nach welchem Prinzip dann diese eher kurze Liste entstanden ist, erschließt sich dem Leser aber nicht. Aber das sind gewiss Kleinigkeiten bei einem Buch, das in jeder Hinsicht bietet, was es verspricht.

Literatur

Agha, Asif. 2007. Language and Social Relations. Cambridge: Cambridge University Press.Search in Google Scholar

Coulmas, Florian. 2013. Writing and Society. Cambridge: Cambridge University Press.10.1017/CBO9781139061063Search in Google Scholar

Coupland, Nikolas. 2007. Style. Language Variation and Identity. Cambridge: Cambridge University Press.10.1017/CBO9780511755064Search in Google Scholar

Eckert, Penelope. 2008. Variation and the Indexical Field. In: Journal of Sociolinguistics 12(4), 453–476.Search in Google Scholar

Heng Hartse, Joel. 2016. Writing as Language in Use: On the Growing Engagement between Sociolinguistics and Writing Studies. In: Composition Studies 44(1), 169–176.Search in Google Scholar

Le Page, Robert Brock & Andrée Tabouret-Keller. 1985. Acts of Identity. Creole-based Approaches to Language and Ethnicity. Cambridge: Cambridge University Press.Search in Google Scholar

Lillis, Theresa. 2013. The Sociolinguistics of Writing. Edinburgh: Edinburgh University Press.10.1515/9780748637492Search in Google Scholar

Silverstein, Michael. 2003. Indexical Order and the Dialectics of Sociolinguistic Life. In: Language & Communication 23, 193–229.Search in Google Scholar

Veszelski, Ágnes. 2016. Digilect. The Impact of Infocommunication Technology on Language. Berlin/Boston: de Gruyter.10.1515/9783110499117Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-04-29
Erschienen im Druck: 2022-11-23

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 4.6.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2022-2082/html
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