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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter August 30, 2022

Rahel Beyer & Albrecht Plewnia. 2020. Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland. Tübingen: Narr Francke Attempto. 474 S.

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Rezensierte Publikation:

Rahel Beyer & Albrecht Plewnia. 2020. Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland. Tübingen: Narr Francke Attempto. 474 S.


Dieses Handbuch, herausgegeben von Rahel Beyer und Albrecht Plewnia, bildet den dritten und letzten Teil einer Reihe von Handbüchern zu „Sprachminderheitenkonstellationen unter Beteiligung des Deutschen“ (S. 7). Aufbauend auf einem Werk zu den mitteleuropäischen Sprachminderheiten (Eichinger & Hinderling 1996), in dem eine Reihe von Fallstudien (Friesisch, Dänisch, Sorbisch, Niederdeutsch) erschienen sind, die auch in dem vorliegenden Band behandelt werden – z. T. sogar von denselben Autoren (Walker, Pedersen) –, wurde die Forschungsidee als dreibändige Handbuchreihe neu konzipiert, von denen die ersten beiden Bände sich den deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa (Eichinger, Plewnia & Riehl 2008) und in Übersee (Plewnia & Riehl 2018) widmen. Der nun vorliegende Band berichtet – etwas anders perspektiviert – über zehn nicht-deutsche Sprachminderheiten und beschränkt sich auf Beispiele aus Deutschland.

Der Band vervollständigt nicht nur die oben angesprochene Handbuchreihe, sondern muss auch als eigenständiger Beitrag zu den zahlreichen Forschungsarbeiten über die kleinen, regionalen und Minderheitensprachen gesehen werden. Der besondere Mehrwert eines Handbuchs, nämlich die „Bereitstellung von geordneten Informationen“ (S. 7), die einen Überblick zu einzelnen Sprachen und Sprachgemeinschaften bietet, wird erreicht. Daneben soll dem Lesenden auch ermöglicht werden, durch „eine vergleichende Betrachtung“ „wiederkehrende Muster/Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede/Besonderheiten“ (ebd.) zu erkennen. Hierbei ist ganz besonders hervorzuheben, dass dieses Handbuch die Chance nutzt, einmal über den üblichen Kanon der Sprachenauswahl in solchen Werken hinauszugehen. Statt, wie allzu oft, nur über die traditionell autochthonen Sprachen zu schreiben, die in der Charta des Europarats wie auch in den entsprechenden offiziellen Berichten von Bundes- und Landesregierungen zu politisch geschützten Sprachen aufgeführt werden – also für Deutschland Romanes, Friesisch, Dänisch und Sorbisch als Minderheitensprachen sowie Niederdeutsch als Regionalsprache –, bietet dieses Buch auch ausführliche Beschreibungen zu ähnlich wichtigen und würdigen Sprachen, die keinen offiziellen Schutz genießen: Russisch, Türkisch, Polnisch und die Deutsche Gebärdensprache (DGS) werden in separaten Kapiteln behandelt. Dies ist eine erfreuliche Erweiterung, die hoffentlich in der staatlichen Sprachenpolitik zu einer Perspektivänderung verhelfen kann.

Eine explizite Definition des im Buchtitel genannten, zentralen Begriffs der Sprachminderheit wird nicht vorgenommen. Dies mag überraschen, da dieser Begriff doch keineswegs unkontrovers ist: Fühlen sich die Niederdeutsch Sprechenden als (ethnische) „Minderheit“, gehören die Friesen, die nicht Friesisch sprechen (ca. 90 %), nicht zur Sprachminderheit, können Dänen, die erst als Erwachsene nach Deutschland eingewandert sind, Teil der dänischen Minderheit sein? Jedoch leistet dieses Buch eine wertvolle Differenzierung verschiedener Typen von Sprachminderheiten, die sich in Deutschland in mindestens drei Gruppen einteilen lassen (vgl. S. 8–10): die traditionell autochthonen Sprachen, die von alteingesessenen Gemeinschaften gesprochen werden, die Erst- und Zweitsprachen der Aussiedler und Spätaussiedler – vor allem Russisch und Rumänisch –, die seit den 1990er Jahren Gemeinschaften in Deutschland bilden, und die Sprachen derjenigen, die durch Pull- oder Push-Migration nach Deutschland gekommen sind. Für jede dieser Gruppen werden Fallbeispiele behandelt. Bei den autochthonen Sprachen findet sich im Vergleich zum Vorgängerband von Hinderling & Eichinger (1996) nun auch ein Kapitel zu Romanes. Nordfriesisch und Saterfriesisch werden in unterschiedlichen Kapiteln behandelt, Nieder- und Obersorbisch in einem gemeinsamen Kapitel. Als Paradebeispiel der Aussiedlersprachen fungiert Russisch; „[s]tellvertretend für die durch Arbeitsmigration entstandenen Minderheiten“ (S. 12) wird Türkisch vorgestellt. Das Polnische findet Berücksichtigung, weil seine Präsenz durch historische Arbeitsmigration („Ruhrpolen“ im 19. Jh.) und Spätaussiedler (in den 1980er Jahren) sich mit rezenter Arbeitsmigration (EU-Erweiterung) kombiniert. Einen ganz besonderen Fall, der in der Minderheitenliteratur üblicherweise, aber unbegründet, unberücksichtigt bleibt, stellt die Deutsche Gebärdensprache dar; eine natürliche Sprache, die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch um Anerkennung zu kämpfen hat. Dass die Grenzen zwischen den drei Typen von Sprachminderheiten fluide sind, wird in diesem Band auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Kapitel nicht in Gruppen eingeteilt sind. Allerdings sind die ersten Kapitel den für Deutschland in der Sprachencharta des Europarats anerkannten autochthonen Beispielen gewidmet, woraus sich eine Hierarchisierung erkennen lassen könnte.

Die große Stärke dieses Bandes liegt in seiner Auswahl an Fallstudien, die alle in zufriedenstellender Ausführlichkeit erörtert werden: Selbst die kürzesten Kapitel sind über 30 Seiten lang und bieten somit Raum für eine reflektierte Beschreibung systemsprachlicher und gesellschaftlicher Aspekte. Durch die Parallelführung der Kapitelunterteilungen wird die Vergleichbarkeit einzelner Themen in verschiedenen Sprachen unterstützt. Es werden jeweils zuerst die geographische Verortung der Sprachgemeinschaft – was natürlich bei den allochthonen Sprachen sehr viel diffuser ist als bei den autochthonen – und die geschichtliche Entwicklung der Minderheit beschrieben. Es folgen Ausführungen zu Wirtschaft, Politik und rechtlicher Stellung, gefolgt von Unterkapiteln zur „soziolinguistischen Situation“. Hier geht es vor allem um Sprachkontakt, Sprachformen und Sprachverwendungsstrategien. Den Abschluss der Kapitel bilden Abschnitte zu Spracheinstellungen und -wahrnehmungen sowie zu Linguistic Landscapes. Jedes Kapitel enthält auch eine hilfreiche Zusammenstellung von Sekundärliteratur.

Trotz der formal parallelen Strukturen finden sich z. T. erhebliche Unterschiede inhaltlicher Art in den jeweiligen Kapiteln. Dies ist sicher auch den jeweiligen Forschungsinteressen der Autor!nnen geschuldet, die teilweise ausufernd ausführlich sind, wenn es um das eigene Thema geht. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass andere Themen zu oberflächlich behandelt werden, sondern nur, dass die einzelnen Kapitel sehr unterschiedlich lang sind. Ob ein 75 Seiten langer Handbuchartikel noch gut geeignet ist, einen sinnvollen Überblick über eine Sprachminderheit zu bieten, mag der/die Leser!n entscheiden. Auf der anderen Seite ist es gerade diese Ausführlichkeit, die es unbescholtenen Leser!nnen ermöglichen wird, eine gründliche Einführung zur Soziolinguistik einer zuvor weniger bekannten Sprachsituation zu erhalten.

Durch die verschiedenen Unterkapitel sind gesuchte Informationen trotzdem relativ leicht auffindbar. Der beschriebene Forschungsstand und relevante kontextuelle Informationen (z. B. sprachpolitische Gesetzgebungen) sind in der Regel aktuell. Bei Angaben zur Größe der Sprachminderheiten finden sich die Zahlen der üblichen Schätzungen, die immer wieder perpetuiert werden, ohne allerdings – gerade für die autochthonen Gemeinschaften – wirklich empirisch ermittelt worden zu sein. Aber es gibt auch keine besseren Zahlen, so dass das hier angewandte Verfahren angemessen zu sein scheint. Sehr erfreulich ist es, dass romantisierende oder biologistische Beschreibungen (Ökolinguistik, Sprachtod, Verlust von Kultur), die einem auch in wissenschaftlichen Publikationen zu Minderheitensprachen und Sprachminderheiten häufig begegnen, in diesem Band unterbleiben. Dies zeigt sich auch darin, dass sauber zwischen Sprachminderheiten und Minderheitensprachen unterschieden wird, auch durch Problematisierung von öffentlichen Diskursen, in denen dies häufig unterbleibt oder nebulös vermischt wird.

Dass das Buch sich auf Deutschland beschränkt und keine anderen mehrheitlich deutschsprachigen Staaten berücksichtigt (Luxemburg, Österreich, Schweiz), wird logistischen Gründen geschuldet sein. Ebenso verzeihlich ist es, dass in der Darstellung von Sprachminderheiten aus Arbeitsmigration und Flucht nur stellvertretend das Türkische erörtert wird. Kapitel zu den „Gastarbeitersprachen“ Italienisch, Spanisch und „Serbokroatisch“ wie auch zum Kosovo-Albanischen oder auch zum Arabischen fehlen, obwohl diese Gemeinschaften sicherlich ausreichend distinktive Aspekte aufweisen.

Insgesamt ist dies ein sehr wertvolles Buch, das als Nachschlagewerk für ein breites Spektrum an sprachlich und gesellschaftlich interessierten Wissenschaftler!nnen von großem Nutzen sein wird. Durch die Berücksichtigung von Sprachminderheiten, die sich in der sonst üblichen Liste autochthoner Sprachen nicht finden lassen, erbringt dieser Band einen besonders hohen Mehrwert; durch die Entscheidung der Herausgeberin und des Herausgebers, allen behandelten Fallstudien sehr viel Platz einzuräumen, bietet der Band dem/der Leser!n eine gute Grundlage für das Studium bislang wenig beachteter Sprachminderheiten wie auch zur Festigung oder Bestätigung von Wissen zu bekannteren Fällen.

Literatur

Beyer, Rahel & Albrecht Plewnia (Hg.). 2019. Handbuch des Deutschen in West- und Mittel-europa. Tübingen: Narr Francke Attempto.Search in Google Scholar

Eichinger, Ludwig M., Albrecht Plewnia, Claudia Maria Riehl (Hg.). 2008. Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen: Narr.Search in Google Scholar

Hinderling, Robert & Ludwig M. Eichinger (Hg.). 1996. Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen: Narr. Search in Google Scholar

Plewnia, Albrecht & Claudia Maria Riehl (Hg.). 2018. Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen: Narr Francke Attempto. Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-08-30
Erschienen im Druck: 2022-11-23

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 23.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2022-2087/html
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