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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter October 8, 2022

Eva Neuland, Benjamin Könning & Elisa Wessels (Hg.). 2020. Sprachliche Höflichkeit bei Jugendlichen. Empirische Untersuchungen von Gebrauchs- und Verständnisweisen im Schulalter. Berlin: Peter Lang. 274 S.

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Rezensierte Publikation:

Eva Neuland, Benjamin Könning & Elisa Wessels (Hg.). 2020. Sprachliche Höflichkeit bei Jugendlichen. Empirische Untersuchungen von Gebrauchs- und Verständnisweisen im Schulalter


Höflichkeits- und Jugendsprachforschung verbindet das Merkmal einer verhältnismäßig jungen Forschungsgeschichte. Die Konzepte der Höflichkeit und Jugend teilen sich zusätzlich noch eine Schnittmenge in der Öffentlichkeitswahrnehmung, die sich am ehesten als ein Glaube über den kulturellen Verfall zusammenfassen lässt. Die Erforschung der (Un‑)Höflichkeit von Jugendlichen kann daher als wichtiger Beitrag zum öffentlichen Diskurs gelten. Bei dem hier rezensierten Werk handelt es sich um die Projektpublikation zum DFG-geförderten Projekt gleichen Namens, das von Eva Neuland geleitet wurde, die sich als Jugendsprachforscherin in allen Bereichen verdient gemacht hat (siehe dazu beispielhaft 1987, 2003, 2018). Das Buch stellt „die Gesamtergebnisse des Wuppertaler DFG-Forschungsprojekts zu sprachlicher Höflichkeit bei Jugendlichen“ dar und greift dabei auf nicht weniger als 1200 Fragebögen von Jugendlichen und 170 von Lehrkräften sowie auch Tonaufzeichnungen zurück (vgl. Klappentext).

Die Studie verfolgt die Elizitierung sprachlicher Höflichkeits- und Unhöflichkeitsstrategien von Jugendlichen. Ausgehend von der Außenperspektive auf Jugendliche und ihre Höflichkeit fragen die Autor:innen initial: „Was verstehen Jugendliche eigentlich unter Höflichkeit im Unterschied zu Erwachsenen? Wie drücken sie Höflichkeit und Respekt aus? Was weiß die Forschung darüber?“ (S. 12) Diesen sowie den daraus resultierenden Detailfragen wurde methodisch mit einer Kombination aus zwei Fragebogenverfahren und drei Beobachtungsverfahren nachgegangen (vgl. S. 26). Die daraus folgenden Ergebnisse werden in der Publikation in äußerst übersichtlicher und strukturierter Weise in thematischen Abschnitten dargelegt.

Der Fragestellung folgt in Abschnitt II zur Schnittstelle linguistischer Jugendsprach- und Höflichkeitsforschung ein theoretischer Abriss dieser beiden Themen, wobei das Gewicht auf der Höflichkeitsforschung liegt, deren Werdegang mit kurzen Passagen zu ihren einzelnen Stationen dargeboten wird. Daran schließen mit Abschnitt III die notwendigen Hintergrundinformationen zum Projekt und – viel wichtiger noch – zur Datengrundlage an. Letzteres sollten sich die Leser:innen gut einprägen, da die Datenbeschaffenheit und ihre Analyse zentraler Bestandteil des restlichen Buchs sind, wobei sich Abschnitt IV mit der Höflichkeit und Unhöflichkeit, Abschnitt V mit kritischen Kommunikationssituationen (critical incidents, vgl. Flanagan 1954) und Abschnitt VI mit einem Transfer der Ergebnisse auf den Schulunterricht beschäftigt. Dem resümierenden Abschnitt VII folgen ein gut sortiertes Literaturverzeichnis und ein umfangreicher Anhang, der u. a. die verwendeten Fragebögen aufführt.

Zur sprachlichen Höflichkeit bei Jugendlichen

Die in Abschnitt II durchgeführte Aufarbeitung der theoretischen Grundlage bietet einen guten Überblick. Ebenso wird auch in den später folgenden Analysen die eingeführte Grundlage stets an der jungen Generation der Schüler:innen abgeglichen. Gemessen an der sonstigen Expertise der Autor:innen mag überraschen, dass der Jugendsprachforschung wesentlich weniger Aufmerksamkeit (eine Druckseite) zukommt als der Höflichkeitsforschung. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass es sich nicht um ein Buch zur Jugendsprache handelt, sondern um eines zur Höflichkeit in der sozialen Gruppe der Schüler:innen. Dieser Aspekt wird über einen historischen Abriss zur Höflichkeitsforschung von ihren Anfängen (Lakoff 1973) über wegweisende Arbeiten (Brown/Levinson [1978] 1987) bis zu den neuesten Tendenzen (bspw. Held 2017) dargeboten. Die Themen Schüler-Sein sowie auch Schülersprache (vgl. Hee 2018, Neuland 2016) als besondere Ausprägung der Jugendsprachlichkeit könnten zwar durchaus mehr Beachtung erfahren. Indem die Publikation aber einen Abstraktionsgrad höher ansetzt und die Altersklasse der jungen Generation an sich fokussiert, löst sie sich auch von den ansonsten zwingenden Fragen des Einflusses der Institution Schule sowie der gelebten Schüleridentität hinter ihren Daten.

In Abschnitt III werden die Korpusdaten ausführlich beschrieben, was der weiteren Lektüre sehr zuträglich ist. Den Schwerpunkt in den Daten bildet die Fragebogenerhebung, die Antworten von ca. 1200 Jugendlichen und 170–180 Lehrkräften umfasst.[1] Darin werden die Proband:innen nach zentralen Punkten der Höflichkeit im intra- wie auch intergenerationellen Gebrauch gefragt. Die daraus resultierenden Einschätzungs- und Einstellungsbekundungen werden im Datenmaterial durch einen zweiten Datentyp der gesprochensprachlichen Spontandaten ergänzt, die in Form von Freundesgesprächen (Pausengespräche), Unterrichtsgesprächen und Reflexionsgesprächen vorliegen. Den Autor:innen ist zuzustimmen, wenn sie sagen, „[z]wischen beiden Datentypen sind jedoch keine trennscharfen Unterschiede auszumachen“ (S. 31), dem Rezensenten nach beruht das jedoch insbesondere auf den Rahmenbedingungen der Gespräche, die eher Einstellungs- als Gebrauchsergebnisse zulassen. Mitunter ist auch nur im Freundesgespräch der ‚Freiheitsgrad‘ in Bezug auf Wortmeldungen absolut ausgeprägt, in den anderen beiden Gesprächstypen jedoch durch den institutionellen Rahmen der Schule (und dem Schüler-Sein) gehemmt. Was aber die differenzierte Darstellung der Ergebnisse hinsichtlich der Spracheinstellung und des Sprachgebrauchs betrifft, führen dies die Autor:innen stets klar aus. Am Ende ergibt sich daraus eine Ergebnisvalidierung über mehrere Datenklassen hinweg, wobei die Ergebnisse aus den Fragebogendaten an spontansprachlichen Daten abgeglichen und an manchen Stellen auch einzelne Einstellungsbekundungen aus den Reflexionsgesprächen zur Unterstützung hinzugezogen werden.

Mit der Ergebnisdarstellung bilden die Abschnitte IV-VI das Herzstück der Publikation. In strukturell klarer Weise werden hier die Themen der jugendtypischen Höflichkeit, Unhöflichkeit, Beleidigungs- und Schimpfwörter, Begrüßungs- und Verabschiedungsroutinen sowie ferner auch noch critical incidents diskutiert und die Erkenntnisse daraus final auf das Schulwesen übertragen. In beiden Punkten, der Höflichkeit und Unhöflichkeit von Jugendlichen, weisen die im Buch dargebotenen Ergebnisse auf ein hohes Bewusstsein der Jugendlichen bzgl. dieser Themen hin. Gerade in der intergenerationellen Kommunikation erscheint hier die Idee über das angemessene Verhalten inkl. einer passenden Wortwahl äußerst präsent – und das „selbst wenn man Wünschbarkeitseffekte in den Fragebögen mitbedenkt“ (S. 61). Intragenerationell stellen die systematische Unhöflichkeit zu Vergemeinschaftungszwecken wie auch ein erhöhtes Bewusstsein für tatsächliche Konfliktsituationen und deren FTAs (face threatening acts) (vgl. Kapitel IV.3) einen wichtigen Beleg für das Verhalten in Jugendgruppen dar. Daneben bleibt bei den vielen interessanten Einzelergebnissen häufig eine Neugierde zurück, was die Restkategorie Sonstiges in den Ergebnistabellen unter sich vereint hat, ist sie in manchen Fällen doch die bei weitem größte Kategorie, weshalb die Frage gestellt werden muss, wieso hier keine weiteren Kategorien gebildet werden konnten.[2]

Das eigentlich Problematische innerhalb der Analysen stellen aber die kritischen Kommunikationssituationen dar. Hier werden Situationsbeschreibungen mit vorformulierten Antwortmöglichkeiten sowie einer offenen Antwortkategorie gegeben, die auf einer fünfstufigen Skala (+2 bis –2) zu bewerten sind. Zu den critical incidents merken die Autor:innen an einer Stelle selbst an, dass diese mit einer gewissen Einschränkung verbunden seien; jener stellen sie aber die Zielgerichtetheit und Auswertbarkeit größerer Datenmengen gegenüber (S. 158). Das kann letztlich aber nicht die geringere Auswahlmöglichkeit in den Antworten abfedern, weshalb auch die Ergebnisse unter dem Licht der gegebenen Möglichkeiten gesehen werden müssen. Die zu einem fiktiven Kontext vorformulierten objektsprachlichen Äußerungen der kritischen Kommunikationssituationen können eine Fülle an weiteren Faktoren nicht berücksichtigen, weshalb auch die Entscheidungen eines/einer Proband:in für eine dieser Äußerungen immer nur als ‚am ehesten bevorzugte/abgelehnte Antwort‘ gelten kann.

Dennoch können die Analysen dieses Abschnitts die vorangegangenen unterstützen und es zeigen sich über die Kapitel hinweg markante Geschlechter- und Altersdifferenzen (innerhalb der Jugendlichen). Beispielsweise fallen Höflichkeitsstrategien bei den Sprecherinnen stärker aus als bei ihren männlichen Pendants, während sie Unhöflichkeiten deutlicher ablehnen. Die Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund fallen weniger stark aus, werden aber doch an manchen Stellen deutlich. So wird die – vermeintliche – soziale Erwünschtheit von Höflichkeit stärker in den Antworten der Personen mit Deutsch als Zweitsprache hervorgestrichen. Muttersprachler:innen bewegen sich hier eher zwischen dieser Erwünschtheit und einer neutralen Haltung.

Der Transfer der Einsichten auf das Schulwesen mitsamt einer Diskussion der fehlenden Berücksichtigung der Höflichkeitsebene in den Lehrplänen und -unterlagen bildet schließlich einen passenden Abschluss des Buchs. Die Akzente, die hier gesetzt werden – auch wenn sie zu Teilen auf einer früheren Publikation beruhen –, können zusammen mit einem Rückblick auf die Analysen eine Anleitung zum Unterrichtsthema Höflichkeit in und außerhalb des Klassenzimmers bieten. Das resümierende Fazit gibt die wichtigsten Ergebnisse des Projekts noch einmal wieder, wobei hier auf Kürze und Stringenz geachtet wurde, sodass die Leser: innen einen letzten Überblick über die markantesten Erkenntnisse bekommen.

Fazit

Es ist nicht einfach, die Projektarbeit mehrerer Jahre in einem Buch zu verarbeiten, und das ist es noch weniger, wenn die erhobenen Daten so vielfältig sind. Zur Auswertung der Fragebogenantworten kommt hierbei auch noch die Transkription der Gespräche, was für sich schon eine enorme Arbeit bedeutet. Vor dem Hintergrund des großen Nutzens für die Forschungsgemeinschaft, einen Zugriff auf aufgearbeitete Korpora zu erhalten, erscheint es umso wichtiger, dass sich die gesprochensprachlichen Daten der Erhebung nun im Leibniz-Institut für deutsche Sprache unter dem Namen Pausen- und Unterrichtskommunikation an Schulen in NRW (PAUK) befinden.

Ihrem Projekt als Ganzes tragen die Autor:innen ausreichend Rechnung, indem sie das Thema in gut strukturierter Art darbieten. Zur Theoriebildung in der Höflichkeitsforschung wird nicht allzu viel beigetragen, aber es wird zumindest ein kurzer Überblick gegeben, der sich für eine Erstinformation gut anbietet. Die Detailergebnisse zur sprachlichen Höflichkeit bei Jugendlichen mitsamt ihrem intra- und intergenerationellen Unterschied liefern wichtige Einblicke in einen Aspekt der Jugendlichkeit, der bisher kaum diskutiert wurde. Zu kleineren Datenfragmenten wünscht sich der eine oder die andere Leser:in vielleicht noch eine genauere Erläuterung. Deren Fehlen resultiert aber sicherlich auch aus der Fülle an unterschiedlichen Punkten, die es zu diskutieren galt. Für Jugendsprach-Interessierte, Fachdidaktiker:innen und Lehrer:innen, aber auch die interessierte Öffentlichkeit – Letztere evtl. im Besonderen – stellt dieses Buch über Jugendliche und deren Blick auf (Un‑)Höflichkeit sicherlich eine gewinnbringende Lektüre dar.

Literatur

Brown, Penelope & Stephen Levinson. [1978] 1987. Politeness. Some universals in language use. Reissued with corrections, new introduction and new bibliography (Studies in interactional sociolinguistics 4). Cambridge: CUP. 10.1017/CBO9780511813085Search in Google Scholar

Flanagan, John C. (1954): The critical incident technique. In: Psychological Bulletin 51/4, 327–358.10.1037/h0061470Search in Google Scholar

Hee, Kathrin (2018): Kommunikation von SchülerInnen in der Gruppenarbeit. In: Eva Neuland, Benjamin Könning & Elisa Wessels (Hg.): Jugendliche im Gespräch. Forschungskonzepte, Methoden und Anwendungsfelder aus der Werkstatt der empirischen Sprachforschung (Sprache – Kommunikation – Kultur 22). Frankfurt a. M. u. a.: Lang, 39–61. Search in Google Scholar

Held, Gudrun. 2017. Der face-Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und face-work – paradigmatische Überlegungen. In: Claus Ehrhard & Eva Neuland (Hg.). Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven. Tübingen: Narr, 57–76. Search in Google Scholar

Lakoff, Robin. 1973. The logic of politeness; or, minding your P’s and Q’s. In: Claudia Corum, T. Cedric Smith-Stark & Ann Weiser (Hg.). Papers from the ninth regional meeting of the Chicago linguistic society. Chicago, 292–305. Search in Google Scholar

Neuland, Eva. 1987. Spiegelungen und Gegenspiegelungen. Anregungen für eine zukünftige Jugendsprachforschung. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 15/1, 58–82. Search in Google Scholar

Neuland, Eva. 2003. Jugendsprachen im gesellschaftlich-historischen Wandel. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendsprache. In: Eva Neuland (Hg.). Jugendsprache – Jugendliteratur – Jugendkultur. Interdisziplinäre Beiträge zu sprachkulturellen Ausdrucksformen Jugendlicher (Sprache – Kommunikation – Kultur 1). Frankfurt a. M. u. a.: Lang, 91–112. Search in Google Scholar

Neuland, Eva. 2016. Deutsche Schülersprache. Sprachgebrauch und Spracheinstellungen Jugendlicher in Deutschland (Sprache – Kommunikation – Kultur 20). Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Search in Google Scholar

Neuland, Eva. 2018. Jugendsprache: eine Einführung. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke. 10.36198/9783838549248Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-10-08
Erschienen im Druck: 2022-11-23

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2022-2090/html
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