Rezensierte Publikation:
Verena Sauer & Toke Hoffmeister. 2022. Wahrnehmungsdialektologie. Eine Einführung (Germanistische Arbeitshefte 50). Berlin, Boston: De Gruyter. 196 S.
Die vorliegende Einführung in die Wahrnehmungsdialektologie verfolgt zwei zentrale Ziele: „Zum einen möchte sie den Status quo von mittlerweile über 30 Jahren wahrnehmungsdialektologischer Forschung im deutschsprachigen Raum zusammenfassen. Zum anderen werden neue Impulse zur tiefergehenden Auseinandersetzung sowie zur Konzeption eigener wahrnehmungsdialektologischer Erhebungen gegeben“ (Vorwort). Um es vorwegzunehmen: Die Einführung kann beide Zielsetzungen einlösen.
Das Einführungsbuch, in dem deutlich die Kieler wahrnehmungsdialektologische Schule zum Tragen kommt, umfasst neben dem Vorwort, einem Abbildungsverzeichnis, einem Tabellenverzeichnis, einem Literaturverzeichnis und einem hilfreichen Index insgesamt acht Kapitel. Die Kapitel 2 bis 6 bilden den inhaltlichen Kern des Buches. Hier erfolgt eine umfassende Einführung in alle wichtigen Bereiche der Wahrnehmungsdialektologie. Jedes dieser Kapitel schließt jeweils mit Übungsaufgaben und der Angabe weiterführender Literatur. Gerahmt werden sie durch eine Einleitung (Kapitel 1) sowie ein Fazit (Kapitel 7). Kapitel 8 enthält Lösungsvorschläge für die Übungsaufgaben zu den einzelnen Kapiteln.
In Kapitel 1 wird die Wahrnehmungsdialektologie zunächst als Teildisziplin innerhalb der Dialektologie verortet. In diesem Zusammenhang erläutern die Autor*innen (leider nur) sehr kurz, warum sie sich entgegen zahlreicher Bezeichnungsalternativen wie Perzeptionsdialektologie, Hörerdialektologie oder Laiendialektologie für die Verwendung des Terminus Wahrnehmungsdialektologie entscheiden. Wie im Verlauf der Einführung herausgearbeitet wird, setzen die Autor*innen insbesondere die Unterscheidung zwischen Perzeption (psychischer Vorgang der Lautverarbeitung) und Wahrnehmung (Reflexion perzipierter Merkmale) relevant: „Da die Reflexionsvorgänge für die Wahrnehmungsdialektologie einen zentralen Untersuchungsgegenstand darstellen, soll dies auch terminologisch sichtbar gemacht werden“ (S. 1). In diesem Zusammenhang wird weiters unterstrichen, dass subjektive Daten der Sprecher*innen/Hörer*innen Gegenstand der Wahrnehmungsdialektologie sind. Kapitel 1 schließt mit einem inhaltlichen Überblick über die Folgekapitel 2 bis 6.
Kapitel 2 befasst sich mit der wissenschaftstheoretischen und -praktischen Kontextualisierung der Wahrnehmungsdialektologie. Diese wird hier nochmals ausführlich als linguistische Teildisziplin, die sich mit den subjektiven Reflexionen von Sprecher*innen/Hörer*innen bzw. Laien beschäftigt, verortet. Neben der Frage, wo Laientheorien ihren Ausgangspunkt nehmen (Kapitel 2.1) und was sie eigentlich sind (Kapitel 2.2), fokussiert dieses Kapitel auf Theorien bzw. Modelle der Spracheinstellungsforschung (Kapitel 2.3). Dabei werden insbesondere das kontextsensitive, das praxistheoretische und das integrative Modell genauer erläutert (siehe die Zusammenfassung in Tab. 2, S. 21). Abschließend werden in Kapitel 2 noch die Themen laienlinguistische Sprachnormenforschung und Sprachkritik aufgegriffen, wobei die Ausführungen zu diesen Themenbereichen vergleichsweise kurz ausfallen.
Kapitel 3 gibt einen sehr informativen und lesenswerten Überblick über die Geschichte der Wahrnehmungsdialektologie, die ihre Anfänge in den 1930/40er Jahren in den Niederlanden hat und anschließend in den 1950/60er Jahren in Japan wieder aufgegriffen wird (Kapitel 3.1). Wichtige Impulse kommen in den 1980/90er Jahren außerdem aus den USA (Kapitel 3.2) und sind „unmittelbar mit dem Namen Dennis Preston verknüpft“ (S. 32). Etwas ausführlicher wird in Kapitel 3.3 die Entstehung und Entwicklung der Wahrnehmungsdialektologie im deutschsprachigen Raum bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Dabei wird in Anlehnung an Hundt (2018) argumentiert, dass eine „Etablierung der Wahrnehmungsdialektologie als eigenständige Disziplin bzw. eigene Herangehensweise an dialektologische Fragestellungen [...] vor allem in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren des 21. Jahrhunderts“ (S. 41) erfolgte.
Das eigentliche Kernstück der Einführung wird in Kapitel 4 entfaltet, in dem es um die für die Autor*innen zentralen Theorien der Wahrnehmungsdialektologie geht. Ein wesentlicher Punkt ist die Verortung des Dialekts als kognitives Phänomen (Kapitel 4.1). Entsprechend wird die kognitionstheoretische Einbettung der Wahrnehmungsdialektologie ausführlich grundgelegt. Dialekte werden demnach „kognitiv als Konzepte repräsentiert“ und sind das „Resultat von Kategorisierungen und Schematisierungen“ (S. 48). Im Prinzip wird für eine Verknüpfung der Wahrnehmungsdialektologie mit frametheoretischen Ansätzen plädiert. An diesem Punkt verliert sich die Einführung m. E. aber ein wenig zu sehr in der Explikation von kognitions- und frametheoretischen Grundgedanken. Auch die wissenssoziologischen Grundannahmen (Kapitel 4.3), die den Konzepten der Wahrnehmung (Kapitel 4.2) nachgestellt sind, hätten m. E. nicht so viel Platz einnehmen müssen, führen diese doch zum Teil zu weit weg von den zentralen Aspekten der Wahrnehmungsdialektologie. Zielführender und fokussierter erscheinen hingegen die Ausführungen in Kapitel 4.2 und 4.4. In Kapitel 4.2 geht es insbesondere um die Differenzierung der Begriffe Perzeption und Wahrnehmung: Perzeption ist „ein individueller Vorgang – Wahrnehmung hingegen [...] ein sozialer Prozess“ (S. 63), bei dem die Salienz und die Pertinenz eine wesentliche Rolle spielen. Kapitel 4.4 befasst sich mit verschiedenen Raummodellen, insbesondere jenen, die die Dialektologie maßgeblich geprägt haben und nach wie vor prägen. Wie richtig konstatiert wird, ist der Raum die entscheidende „Bezugsgröße für die in Abschnitt 4.1 bis 4.3 dargestellten Konzepte“ (S. 74). Nachdem in Kapitel 4.4 zentrale Raumkonzepte vorgestellt und diskutiert wurden, schließt das Kapitel mit einer Synthese, in der das der „Einführung zugrundeliegende (Sprach-)Raumkonzept“ (S. 82) begründet wird. Hierin wird – wie übrigens auch in der Dissertation von Sauer (2018) – zwischen einem „Operationsraum“ und einem „Perzeptionsraum“ unterschieden: Ersterer ist insbesondere für die Dialektgeografie relevant und konstituiert sich durch linguistisch-objektive Daten, während Letzterer für die Wahrnehmungsdialektologie prägend ist und durch individuell-subjektive Daten bestimmt wird (vgl. S. 84).
Kapitel 5 widmet sich zwar schwerpunktmäßig den Methoden der Wahrnehmungsdialektologie, im Grunde werden aber der gesamte Aufbau sowie die Durchführung eines wahrnehmungsdialektologischen Forschungsprojektes skizziert. Das beginnt mit Überlegungen zum Forschungsdesign (Kapitel 5.1), bevor der Fokus auf die konkreten Methoden (Kapitel 5.2) sowie die Aufbereitung (Kapitel 5.3) und Analyse (Kapitel 5.4) der Daten gelegt wird. Abschließend wird außerdem die Bedeutung der Interpretation der Daten im Sinne der Theoriebildung unterstrichen (Kapitel 5.5). Die eigentliche Einführung in die Methoden der Wahrnehmungsdialektologie in Kapitel 5.2 lehnt sich sowohl an Prestons Unterscheidung zwischen extern/perzipierten und intern/assoziierten Produktionsdaten (Preston 2010) als auch seinen five-point-Ansatz (Preston 1999) an, bei dem fünf Erhebungstypen unterschieden werden: Draw-a-Map-Aufgaben, Degree-of-Difference-Bewertungen, Correctness/Pleasantness-Zuordnungen, Dialect-Identification-Tests und die Sammlung von qualitativen Discourse-Daten. Darüber hinaus werden auch die Pilesorting-Methode sowie Speech-Imitation-Aufgaben und die Matched-Guise-Technik erläutert. Zunehmend Beachtung erfahren in der Wahrnehmungsdialektologie zudem Mixed-Methods-Ansätze, wie sie beispielsweise in Online-Befragungen, Priming-Experimenten, Linguistic-Landscaping-Ansätzen oder der Open-Guise-Technik zur Anwendung kommen.
In Kapitel 6 werden größere überregionale wahrnehmungsdialektologische Forschungsprojekte der letzten zehn Jahre skizziert. Das umfasst etwa abgeschlossene DFG-Projekte wie das Projekt „Wahrnehmungsdialektologie. Der deutsche Sprachraum aus Sicht linguistischer Laien“ (Laufzeit 2011–2015) unter der Leitung von Markus Hundt wie auch die noch laufenden Teilprojekte „Standardvarietäten aus Perspektive der perzeptiven Variationslinguistik“ (Leitung Alexandra N. Lenz) und „Wahrnehmungen von und Einstellungen zu Varietäten und Sprachen an österreichischen Schulen“ (Leitung Stephan Elspaß) des SFB-Projekts „Deutsch in Österreich“ (Laufzeit 2016–2024, https://www.dioe.at/projekte/task-cluster-d-perzeption, letzter Zugriff: 02.09.2022).
Kapitel 7 fasst die zentralen Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zusammen. Außerdem werden die wichtigsten Desiderate aus Sicht der Autor*innen aufgeführt. So verweisen sie etwa auf Purschke & Stöckle (2019: 854), die eine „stärkere theoretische Rahmung empirischer Studien, gerade in Bezug auf die psychologischen, soziologischen und philosophischen Grundlagen von Wahrnehmung, Bewertung und Handeln“ einfordern. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass in Kapitel 4 der vorliegenden Einführung versucht wurde, eine umfangreiche „Theorie der Wahrnehmungsdialektologie zu liefern“ (S. 154). Im Hinblick auf die Empirie halten die Autor*innen zudem eine bessere „Verbindung dialektgeografischer, -soziologischer und wahrnehmungsdialektologischer Daten“ (S. 156) für wünschenswert.
In Kapitel 8 werden Lösungsvorschläge für die Übungsaufgaben zu den Kapiteln 2 bis 6 präsentiert. In den Übungsaufgaben sollen insbesondere Zusammenhänge erläutert und diskutiert werden. Eine Übungsaufgabe zu Kapitel 4 lautet beispielsweise „Diskutieren Sie, warum der kognitive Blick auf Dialekte notwendig ist“ (S. 86), eine Übungsaufgabe zu Kapitel 5 ist etwa „Erläutern Sie, welchen Einfluss die strukturelle Beschaffenheit der Grundkarte auf die Ergebnisse der Draw-a-Map-Aufgabe haben kann“ (S. 130).
Zusammenfassend ist die gute Darstellung sowohl der Traditionslinien als auch aktueller wahrnehmungsdialektologischer Forschungsprojekte hervorzuheben. Tabellarische Gegenüberstellungen verschiedener Ansätze sowie prägnante Zusammenfassungen und die Angabe weiterführender Literatur am Ende der Kapitel sind gute Orientierungshilfen. Außerdem bietet Kapitel 5 interessierten Studierenden und Doktorand*innen, die vorhaben, ein wahrnehmungsdialektologisches Forschungsprojekt durchzuführen, eine gute Anleitung zum forschenden Lernen. Leider muss die Qualität einiger Abbildung bemängelt werden, die in der abgedruckten Qualität nur schwer zu lesen sind. Es ist allerdings fraglich, inwiefern dieser kleinere Mangel tatsächlich den Autor*innen angelastet werden kann.
Die Einführung hinterlässt insgesamt einen positiven Gesamteindruck und ist in jeglicher Hinsicht eine Anregung, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sie kann allen Studierenden und Wissenschaftler*innen empfohlen werden, die kurz- oder mittelfristig vorhaben, sich mit wahrnehmungsdialektologischer Forschung zu befassen. Zudem eignet sich das Buch sicherlich sehr gut zum Einsatz in der Lehre.
Literatur
Hundt, Markus. 2018. Wahrnehmungsdialektologie – quo vadis? In: Alexandra Lenz & Albrecht Plewnia (Hg.). Variation – Norm(en) – Identität(en). Berlin, Boston: De Gruyter, 99–126.Search in Google Scholar
Preston, Dennis R. 1999. Introduction. In: Dennis R. Preston (Hg.). Handbook of Perceptual Dialectology: Volume 1. Philadelphia: John Benjamins, XXIII-XL.10.1075/z.hpd1.05preSearch in Google Scholar
Preston, Dennis R. 2010. Perceptual dialectology in the 21st century. In: Christina Ada Anders, Markus Hundt & Alexander Lasch (Hg.). Perceptual dialectology. Neue Wege der Dialektologie. Berlin, New York: De Gruyter, 1–29.Search in Google Scholar
Purschke, Christoph & Philipp Stöckle. 2019. Perzeptionslinguistik arealer Sprachvariation im Deutschen. In: Joachim Herrgen & Jürgen Erich Schmidt (Hg.), Sprache und Raum – Deutsch. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Berlin: De Gruyter, 844–860.Search in Google Scholar
Sauer, Verena. 2018. Dialektgrenzen – Grenzdialekte. Die Struktur der itzgründischen Dialektlandschaft an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110558104Search in Google Scholar
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.