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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 1, 2022

Wolfgang Imo & Jens P. Lanwer (Hg.). 2020. Prosodie und Konstruktions-grammatik (Empirische Linguistik/Empirical Linguistics 12). Berlin, Boston: De Gruyter. 281 S.

  • Rita Finkbeiner EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Wolfgang Imo & Jens P. Lanwer (Hg.). 2020. Prosodie und Konstruktionsgrammatik (Empirische Linguistik/Empirical Linguistics 12). Berlin, Boston: De Gruyter. 281 S.


Konstruktionen werden in der Konstruktionsgrammatik als vom Sprachgebrauch abstrahierte Schemata aufgefasst, „die potenziell sämtliche Facetten des Sprachgebrauchs als formale und/oder funktionale Spezifikation integrieren können“, so die Herausgeber des vorliegenden Bandes in ihrer Einleitung (S. 3). Zu den Facetten des mündlichen Sprachgebrauchs gehört auch die Prosodie. Dieser Bereich wird jedoch bisher in konstruktionsgrammatischen Beschreibungsansätzen eher vernachlässigt. Der Band setzt an dieser Forschungslücke an, indem er sich der Frage widmet,

„ob – und wenn ja, inwieweit – prosodische Charakteristika als mehr oder weniger stabile Merkmale sprachlicher Konstruktionen im Sinne der Konstruktionsgrammatik aufgefasst werden können.“ (S. 4)

Prinzipiell gibt es verschiedene Möglichkeiten, prosodische Aspekte theoretisch zu modellieren. In der bisherigen Forschung – und auch im vorliegenden Band – stehen sich insbesondere zwei Ansätze gegenüber: ein in vielen Arbeiten der Interaktionalen Linguistik vertretener Ansatz, wonach prosodische Aspekte als Kontextualisierungshinweise (vgl. Gumperz 1982) zu verstehen sind, und ein stärker (konstruktions-)grammatisch orientierter Ansatz, wonach prosodische Aspekte konstitutiver Teil der Formseite von Konstruktionen (bzw. eigene, hochschematische Konstruktionen) sind. Interaktionale Ansätze betonen dabei die Emergenz, lokale Situiertheit und Kontextvariabilität prosodischer Aspekte, während konstruktionsgrammatische Ansätze stärker Verfestigung, Routinisierung und Schematizität in den Vordergrund rücken.

Ziel des Bandes ist es vor diesem Hintergrund, anhand detaillierter empirischer Untersuchungen prosodischer Phänomene genauer zu ergründen, in welchen Fällen sich prosodische Realisierungen „obligatorisch mit bestimmten lexikalischen und/oder syntaktischen Einheiten verbinden“ (S. 14). Dieses Ziel lösen die insgesamt sieben Einzelbeiträge ein, wobei sie zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich des Status der untersuchten prosodischen Aspekte gelangen.

Dagmar Barth-Weingarten, Elizabeth Couper-Kuhlen und Arnulf Deppermann („Konstruktionsgrammatik und Prosodie: Oh in englischer Alltagsinteraktion“, S. 35–73) untersuchen responsives oh in zwei US-amerikanischen Korpora privater Telefonkonversationen mit Blick auf die Frage, ob detailliertere prosodisch-phonetische Parameter mit bestimmten Funktionen (sequenzielle Implikationen; dargestellte innere Beteiligung der Sprecher:innen) in Verbindung gebracht werden können. Die genaue Analyse ausgewählter Korpusbeispiele zeigt, dass weder einzelne prosodische Parameter noch Parameterbündel eindeutig mit bestimmten Funktionen von oh korrelieren. Die Autor:innen stehen daher einer konstruktionsgrammatischen Modellierung der Befunde skeptisch gegenüber, wobei sie als besondere Hindernisse die hohe Komplexität bzw. Granularität der prosodischen Beschreibung, die Gradualität und Nicht-Binarität der prosodisch-phonetischen Eigenschaften, deren Kontextrelativität sowie die Kontextrelativität der Form-Funktions-Zusammenhänge insgesamt ansehen. In diesem Zusammenhang kritisieren sie – völlig zu Recht – die unklare Rolle, die bislang dem Kontext in der Konstruktionsgrammatik zukommt. Ein Verweis auf die aktuelle konstruktionsgrammatische Debatte hierzu (z. B. Constructions & Frames 11 [2], 2019) fehlt allerdings.

Pepe Droste und Susanne Günthner („‚das mAchst du bestimmt AUCH du‘: Zum Zusammenspiel grammatischer, prosodischer und sequenzieller Aspekte syntaktisch desintegrierter du-Formate“, S. 75–109) beschäftigen sich mit prosodischen Aspekten von syntaktisch desintegriertem du in Alltagsgesprächen. Grundlage der Untersuchung bilden 136 Korpusbelege aus Face-to-Face-Interaktionen und Telefongesprächen. Die Ergebnisse der formalen und funktionalen Analyse werden hinsichtlich der Fragestellung diskutiert, welcher Status der Prosodie bei der Kontextualisierung der verschiedenen Funktionen zukommt und ob es sich bei den „du-Formaten“ um Konstruktionen handelt. Die Autor:innen unterscheiden vorangestellte und nachgestellte Verwendung, wobei sich weitere Unterscheidungen aus der jeweiligen prosodischen Anbindung des du an die Bezugsäußerung ergeben. Sie argumentieren, dass mit syntaktisch desintegriertem du eine basale Funktion als „Beziehungszeichen“ verbunden ist, wobei weitere, miteinander vernetzte interaktionssteuernde Funktionen zu unterscheiden sind, die durch prosodische Merkmale kontextualisiert werden. In Bezug auf die Frage, ob hier eine Konstruktion vorliegt, fällt die Antwort unentschieden aus. Einerseits sei eine Beschreibung mit hoher analytischer Granularität zu erwägen, um die systematische Partikularisierung der Verwendungsweisen entlang syntaktischer, prosodischer und sequenzieller Parameter zu erfassen, andererseits könne dies zur Konsequenz haben, „dass nahezu jedes Konstrukt erforderlich macht, eine eigene Konstruktion zu postulieren“ (S. 104). Der ebenfalls angesprochene Vorschlag, eine Konstruktion mit geringerer Granularität und hohem Grad an struktureller Unterspezifiziertheit anzusetzen, wobei prosodische Gestaltung und der sequenzielle Kontext „im Bereich der sprachlichen Praktiken [verbleiben]“, lässt die Frage offen, aufgrund welcher Kriterien bestimmte Formaspekte (nicht) zu einer Konstruktion gezählt werden sollten.

Der Beitrag von Heiner Apel, Ines Bose, Sven Grawunder und Anna Schwenke („Der ‚Kaiser‘ in einer Autobahnbaustelle – Prosodische Markierung von modalisierenden Anführungszeichen in Radionachrichten“, S. 111–134) geht anhand der Untersuchung eines Korpus von 26 verschiedenen Sprechversionen eines Nachrichtentextes der Frage nach, ob modalisierende Anführungszeichen eine spezifische lautliche Realisierung haben, wie diese zu beschreiben ist und ob die solchermaßen identifizierten „gesprochenen Anführungszeichen“ als Modalisierungsmarkierung eine Konstruktion darstellen. Die Sprechversionen wurden von einer Expertengruppe hinsichtlich der prosodischen Merkmale des in Anführungszeichen gesetzten Wortes („Kaiser“ für Franz Beckenbauer) beschrieben, anschließend wurde ein Hörexperiment mit Studierenden durchgeführt, bei dem diese angeben sollten, „ob der Sprecher bzw. die Sprecherin die Anführungszeichen [in der Radiomeldung] mitspricht oder nicht“ (S. 122). Methodologisch stellt sich hier die Frage, ob die durch diese Instruktion generierte Erwartung der Teilnehmenden, Anführungszeichen zu „hören“, ihre Einschätzung dahingehend beeinflusst haben könnte. Es zeigt sich, dass die Anführungszeichen im Nachrichtentext systematisch mit bestimmten prosodischen Eigenschaften beim Vorlesen korrelieren, insbesondere mit prosodischen Einschnitten vor und nach dem jeweiligen Wort in Verbindung mit einem Akzent. Die Frage, ob man von einer Konstruktion ausgehen kann, die auf der Formseite durch die genannten prosodischen Mittel und auf der Funktionsseite durch die Modalisierung charakterisiert ist, beantworten die Autor:innen insgesamt befürwortend, sie weisen aber auch auf bestimmte Probleme hin, insbesondere, dass unterschiedliche Funktionen von Anführungszeichen (bei einzelnen Wörtern) – neben Modalisierung u. a. die Markierung von mixed quotation – mit denselben prosodischen Merkmalen einhergehen können.

Elisabeth Reber („Zur Rolle von Phonetik und Prosodie in CAN I X‑, LeɁ ME X‑ und LEMME X‑Konstruktionen“, S. 135–165) verfolgt das Ziel, musterhafte Assoziationen zwischen verschiedenen prosodischen Realisierungen der metapragmatischen Konstruktionen can I X und let me X und ihren Funktionen in der Interaktion herauszuarbeiten „und damit Hinweise auf kognitiven [sic] Repräsentationen von gesprochen-sprachlichen Einheiten zu gewinnen“ (S. 136). Sie erhebt Verwendungen der Konstruktion in ca. fünf Stunden Videomaterial einer britischen politischen Interviewsendung und differenziert auf dieser Grundlage vier verschiedene Gebrauchsweisen: CAN I X1 zur Einleitung von Fragen, bei deren Antwort alignment gezeigt wird; CAN I X2 zur Sicherung des Rederechts in Antwortturns, die alignment zeigen; LEɁ ME X zur Turneinleitung von Fragen, deren Antwort als schwierig oder unzureichend behandelt wird, sowie LEMME X zur Sicherung des Rederechts in von Dissens geprägten Kontexten. Dabei unterscheiden sich die beiden CAN I X‑Varianten prosodisch durch unterschiedliche Akzentuierung von can, die beiden let me X‑Varianten durch Aspekte der phonetischen Realisierung (Glottalisierung und Klitisierung). Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass es sich bei den untersuchten Phänomenen um Merkmalsbündel aus Phonetik/Prosodie, Syntax, Lexik, metapragmatischen Funktionen und Sprecherrolle handelt und damit um „teilweise verfestigte Konstruktionen [...], bei denen die Lautgestalt [...] bedeutungsunterscheidend wirkt“ (S. 160). Auf einen Grammatikalisierungsprozess deute u. a. die klitisierte Form bei LEMME X hin.

Im Beitrag von Katharina König („Prosodie und die Kontextualisierung von epistemic stance: Konstruktionen mit finalem oder“, S. 167–199) geht es um Gebrauchsmuster mit finalem oder als question tag. Der Beitrag geht der Frage nach, ob im Zusammenspiel von Bezugsäußerung und oder spezifische prosodische Verfestigungen feststellbar sind, die zur Differenzierung verschiedener Konstruktionen – mit verschiedenen ausgedrückten epistemischen Haltungen – beitragen. Untersucht wurde eine Sammlung von 99 Fällen aus Korpora verschiedener Interaktionstypen. Die Analyse der Daten zeigt, dass sich drei prosodische Varianten von finalem oder unterscheiden lassen, die je eigenständige Intonationsphrasen bilden: die Variante Oder, mit steigendem Grenzton, die Variante Oder– mit schwebendem Grenzton und die Variante !O!der, mit stark akzentuierter erster Silbe und leicht steigendem Grenzton, die insbesondere für kommunikative Aufgaben im Bereich von Unterrichts- und Prüfungsgesprächen genutzt wird. Die verschiedenen Varianten treten mit je unterschiedlichen (syntaktisch, lexikalisch und sequenziell zu bestimmenden) Typen von Bezugsäußerungen auf, wobei sich für die verschiedenen Kombinationen aus Bezugsäußerung und prosodischer oder-Variante je verschiedene epistemische Bedeutungspotenziale ermitteln lassen. Dies spricht nach König dafür, von unterschiedlichen teilschematischen Konstruktionen auszugehen.

Heike Baldauf-Quilliâtre und Wolfgang Imo („pff“, S. 201–232) betrachten „das phonetisch-prosodische Phänomen“ (S. 202) pff unter der Perspektive der Interaktionalen Konstruktionsgrammatik, um die Frage zu klären, ob es möglich ist, pff „nicht lediglich als Lautphänomen [...], sondern als Konstruktion mit relativ stabiler Form-Funktions-Korrelation zu klassifizieren“ (S. 202). Die Untersuchung basiert auf 326 Fällen von pff aus dem Forschungs- und Lehrkorpus des IDS. In der Analyse werden drei Kollektionen genauer betrachtet: pff vor Bewertungen und Kommentaren, pff im Kontext von Zögerungssignalen und Vagheitsausdrücken und pff am Turnende nach einem Konnektor. Es zeigt sich, dass die phonetische und prosodische Form von pff mit bestimmten interaktionalen Funktionen und einer eingeschränkten Menge an sequenziellen Positionen einhergeht. Ein gewisses Problem stellt das Faktum dar, dass sich bei pff kaum prosodische, sondern nur eine begrenzte Zahl von phonetischen Parametern untersuchen lassen (insbesondere Wahrnehmbarkeit des Plosivs bzw. Frikativs und Länge von pff). Während es nach Ansicht der Autor:innen unbestreitbar ist, dass „jede Instanziierung eines pff in der Interaktion in gewisser Weise einzigartig in Form und Funktion ist“, zeige die Untersuchung, „dass die Bandbreite von formalen und funktionalen Möglichkeiten andererseits so umfassend auch wieder nicht ist“ (S. 227), so dass die Annahme von drei Unterkonstruktionen, die einer gemeinsamen abstrakteren Konstruktion zugeordnet sind, plausibel erscheint.

Der Beitrag von Jens P. Lanwer („Appositive Syntax oder appositive Prosodie?“, S. 233–281) verfolgt das Ziel, empirische Evidenz für pro­sodische Unterschiede zwischen engen und weiten Appositionen zu liefern und aufzuzeigen, wie sich solche syntaktisch-prosodischen Muster im Rahmen der Interaktionalen Konstruktionsgrammatik modellieren lassen. Methodologisch problematisiert der Beitrag die Frage, wie sich das Maß der Ähnlichkeit zwischen Einzelfällen auf Tokenebene datengeleitet und transparent ermitteln lässt, und wählt dafür das Verfahren der statistischen Netzwerkanalyse, das Ähnlichkeiten zwischen Fällen einer Kollektion quantitativ bemisst und visualisiert. Es wurden 149 „appositionsverdächtige“ Fälle aus Tischgesprächen im Hinblick auf ihre syntaktische und prosodische Form sowie ihre Funktionen analysiert. Die Netzwerkanalyse ergibt drei Cluster, die sich durch prosodische Unterschiede auszeichnen und mit Unterschieden in Bezug auf Funktionsaspekte einhergehen: Vorname+Nachname-Apposition (eng), Rolle+Name-Apposition (eng) und Reparatur-Apposition (weit). Diese lassen sich nach Lanwer als Konstruktionen auffassen, wobei die Begründung dafür etwas knapp ausfällt.

Insgesamt liegt hier ein sehr ertragreicher und anschaulicher Band vor, der sich durch eine hohe Kohärenz auszeichnet. Dazu trägt auch die ausführliche Einleitung bei, die eine klare übergreifende Fragestellung formuliert, an der sich alle Beiträge orientieren. Der Band verdeutlicht die Relevanz detaillierter prosodischer Analysen für die Beschreibung sprachlicher Konstruktionen und deutet zugleich das Spektrum theoretischer Lösungsmöglichkeiten an. Die Endredaktion war leider nicht ganz sorgfältig, es finden sich einige Tippfehler.

Online erschienen: 2022-11-01
Erschienen im Druck: 2022-11-23

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2022-2094/html
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