Rezensierte Publikation:
Michael Rödel. 2020. Schule, Digitalität & Schreiben. Impulse für einen souveränen Deutschunterricht. Tübingen: Stauffenburg Verlag. 163 S.
Deutschunterricht und Medien sind eng aufeinander bezogen: Medien bestimmen mit, wie sprachliche Kommunikation verläuft, wie Menschen schreiben und lesen, sprechen und zuhören. Wer lernt, mit Texten produktiv und rezeptiv umzugehen, muss mediale Kompetenzen erwerben. Mediale Bildung ist der dritte Kernbereich des Deutschunterrichts – neben sprachlicher und literarischer Bildung (vgl. Frederking, Krommer & Maiwald 2018, S. 119).
Aus diesen Gründen beeinflusst Medienwandel Deutschunterricht. In den letzten 30 Jahren hat die Verbreitung digitaler Plattformen und digitaler Kommunikation zu einer kulturellen Transformation geführt. Die daraus resultierenden Konsequenzen für die Deutschdidaktik sind Gegenstand intensiver Debatten. Einen Beitrag zu dieser Debatte hat nun auch der in München lehrende Deutschdidaktiker Michael Rödel vorgelegt. Sein Buch Schule, Digitalität & Schreiben verdichtet Ergebnisse eines von der VolkswagenStiftung geförderten Projekts. Diese lassen sich in zwei Teile gliedern: In einem ersten konstatiert Rödel eine „Schieflage des Diskurses“, in dem mit „Sprachbildern“ ein „Digitalisierungsdruck“ aufgebaut werde (zitiert nach Lüber 2020), der zweite besteht aus einer Analyse von Konzeptionen des digitalen Schreibens.
Diskurs in Schieflage?
In einem ersten kurzen Kapitel zeichnet Rödel Argumente und Begriffe nach, die rund um die Frage, was Digitalität für Schulen bedeute, immer wieder auftauchen. Besonders kritisch begegnet der Autor dabei zwei Vorstellungen: einerseits der eines ‚Leitmedienwechsels‘, wie sie etwa Döbeli Honegger (2017) stark macht, andererseits der einer ‚Disruption‘, einer tiefschürfenden Veränderung, hervorgerufen durch die Verbreitung digitaler Praktiken. Rödel bezeichnet beide Konzeptionen als Frames, deren Auswirkungen didaktisch problematisch seien, weil sie Wertungen und Alternativlosigkeit suggerierten. Hier wird deutlich, dass die Studie von einer impliziten These ausgeht: Digitalität verändere Deutschunterricht deutlich weniger stark, als das in Forschungsbeiträgen behauptet werde.
Rödel bleibt in seiner Analyse stark auf der Ebene der Diskurskritik. Er nimmt in den Blick, wie Fachpersonen sprechen und argumentieren – nicht aber, welche Praktiken und Kompetenzen sie beschreiben und beurteilen. „Die Messung der Kompetenz wäre nur noch dann sinnvoll, wenn sie im digitalen Paradigma erfolgt“, folgert Rödel etwa in einem Abschnitt zum Leitmedienwechsel (S. 40), nur um dann nachzuschieben, dass es so etwas wie eine „tatsächliche Ausprägung einer Kompetenz“ geben müsse (ebd.). Im Zentrum der Kritik an Argumentationsverfahren stehen also grundsätzlich die Fragen, was Medien seien und wie sie sich auf den Aufbau und die Ausprägung von Kompetenzen auswirkten. Rödel geht davon aus, dass (Schreib-)Kompetenzen weitgehend medienunabhängig aufgebaut werden. Das zeigt sich, wenn er Döbeli Honeggers Praxis von Literaturverweisen einer Kritik unterzieht. In Mehr als 0 und 1 referenziert der Schweizer Informatikdidaktiker eine Website zum Buch, auf der Links und Literaturverweise zu finden sind. Diese können permanent aktualisiert werden, so dass die Verweise im Buch „in die Zukunft“ zeigen (Döbeli Honegger 2017, S. 9), während klassische Fuß- oder Endnoten auf die Vergangenheit referieren. Die rein praktische Frage zur Affordanz von Literaturverweisen im Kontext digitaler Medien nimmt Rödel nicht auf, sondern er reduziert sie auf Döbeli Honeggers Rede von Vergangenheit und Zukunft, einer „wirkmächtigen Antithese“ (S. 41). So verpasst Rödel, präzise zu beschreiben, was Digitalität im Hinblick auf Schreibpraktiken verändert. Stattdessen weicht er auf eine Metaebene aus, auf der er konstatiert, „digitalisierungsskeptische Positionen“ seien „unterrepräsentiert“ (S. 42). Unklar bleibt dabei, inwiefern es didaktisch sinnvoll sein könnte, einer tatsächlichen oder behaupteten Veränderung skeptisch zu begegnen.
Die Folgerungen, die Rödel aus seiner Analyse des Diskurses und seiner schreibdidaktischen Auslegeordnung zieht, geben hier Aufschluss. Rödel spricht zuerst den Ressourcenverbrauch der Digitalisierung an, fordert Gelassenheit im Umgang mit dem „Digitalisierungsdruck“ (S. 137) und regt an, Handschreiben im Deutschunterricht in den Mittelpunkt zu stellen. Kern der Skepsis in Bezug auf die Forderung, Unterricht aufgrund eines Leitmedienwechsels zu verändern, ist also eine methodisch konservative Deutschdidaktik. Etablierte und normierte (Schreib-)Verfahren sollten, so der Autor, nicht vorschnell aufgegeben und verändert werden. Dafür spricht argumentativ aus seiner Sicht, dass diese Verfahren wesentliche Kompetenzen ausbildeten, die unabhängig von der medialen Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern bedeutsam seien.
Textkompetenz und Transfer
„Lernziel ist, was einen guten Text gemeinhin ausmacht – ein Wissen, das dann auf spezifische Textsorten adaptiert werden kann.“ (S. 63) Diese Forderung bildet den Kern der schreibdidaktischen Konzeption Rödels. Sie trennt situative Erfordernisse an Schreibprozesse (wie etwa Interaktionen, Affordanzen digitaler Plattformen etc.) von einer abstrakten Textkompetenz so stark ab, dass Letztere einen universellen Charakter erhält. Rödel macht das am Kohärenzbegriff fest, dem er eine Unabhängigkeit von „Medium und Adressat“ attestiert (S. 115). Exemplarisch begründet wird das über ein Instagram-Video des öffentlich-rechtlichen Jugendangebots funk, in dem Journalistinnen und Journalisten Jugendlichen erklären, wie die deutsche Bundespolitik funktioniert. Rödels Argumentation wird an dieser Stelle nicht nur deshalb brüchig, weil sie von einem Beispiel abhängt. Nur eine scharfe Definition von Kohärenz (die bei Rödel fehlt) könnte überhaupt plausibel machen, dass diese Texteigenschaft nicht von Medialität und oder Kommunikationssituation beeinflusst wird. Viele in Memes eingesetzte Textsorten verstoßen bewusst gegen Kohärenzgebote, weil sie ihre Wirkung über an Communitys geknüpfte Implikaturen entfalten (vgl. für Beispiele die Rubrik YesYesNo des Podcasts ReplyAll auf yesyesnos.tumblr.com). Selbst wenn Kohärenz etwas wäre, was alle Textsorten in einem abstrakten Sinne verbände, müsste in einem zweiten Schritt gezeigt werden, wie im Schreibunterricht Kohärenzkompetenzen gelernt werden können. Rödel antwortet darauf konservativ, indem er den Stellenwert „gängiger Textsorten“ (als Beispiel diskutiert er den Bericht, S. 108ff.) für und im Unterricht betont. Weil Kohärenz weiterhin eine bedeutende Rolle spiele, so Rödels Argument, müsse sich Schreibdidaktik trotz Medienwandel nicht stark verändern, sondern lediglich dafür sorgen, dass abstrakte Textkompetenzen auf immer wieder neu aufkommende Textsorten angewandt werden können.
Zirkuläre Argumentation
Wer davon ausgeht, Lesen und Schreiben seien Fertigkeiten, die weitgehend unabhängig von Medialität/Digitalität und Textsorten vorliegen, kann daraus normative und konservative Forderungen für die Deutschdidaktik ableiten. Diese Ableitung ist aber keine sinnvolle Grundlage für eine kritische Prüfung der Diskussionen über die Funktion digitaler Medien im Deutschunterricht – und auch keine Basis für die Ablehnung medien- und textsortenspezifischer Kompetenzen, wie sie sowohl für die Lesedidaktik (vgl. Krommer & Wampfler 2019) als auch für die Schreibdidaktik (vgl. Wampfler 2020) vorliegen. Aus diesen Gründen kann Rödels Buch zwar als Plädoyer und Ausdruck einer Haltung mit Gewinn gelesen werden – den eigenen analytischen Ansprüchen wird es jedoch nicht gerecht, weil die Argumentation zirkulär an Annahmen gebunden ist, die der Autor voraussetzt, aber nicht prüft.
Literatur
Döbeli Honegger, Beat. 2017. Mehr als 0 und 1. Schule in einer digitalisierten Welt. Bern: HEP Verlag. Search in Google Scholar
Frederking, Volker, Axel Krommer & Klaus Maiwald. 2018. Mediendidaktik Deutsch. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Search in Google Scholar
Krommer, Axel und Phillipe Wampfler. 2019. Lesen im digitalen Zeitalter. In: Seminar, Zeitschrift des Bundesarbeitskreises der Seminar- und Fachleiter, 2019,3, 73–84.Search in Google Scholar
Lüber, Klaus. 2020. Digitale Bildung: Diskurs in Schieflage. Online: https://www.volkswagenstiftung.de/aktuelles-presse/aktuelles/digitale-bildung-diskurs-in-schieflage (21.9.2021)Search in Google Scholar
Wampfler, Philippe. 2020. Digitales Schreiben. Stuttgart: Reclam.Search in Google Scholar
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