Rezensierte Publikation:
Andi Gredig. 2021. Schreiben mit der Hand. Begriffe – Diskurs – Praktiken (Sprachwissenschaft 49). Berlin: Frank & Timme. 291 S.
Die Digitalisierung unseres täglichen Schreibwerkzeugs durch PC, Tablet und Smartphone hat das Schreiben mit der Hand so wenig zum Verschwinden gebracht, wie es die Mechanisierung des Schreibens mit der Schreibmaschine zuvor getan hatte. Selbstredend wird immer noch viel und vieles mit Stift und Papier geschrieben. Mit dem Rieplschen Gesetz gesprochen verdrängen und ersetzen neue Mittel der Information und Kommunikation ältere Medien nicht (siehe Riepl 1913). Sie ergänzen diese, formen sie technisch um und weisen ihnen andere Funktionen zu. Gerade für den Bereich der Handschrift lässt sich das gut beobachten und an Beispielen wie dem Schreiben mit digitalen Stiften auf Tablets studieren, das mancherorts Einzug in den Schulunterricht gehalten hat. Und selbst für die neuesten Entwicklungen und Anwendungen der Digitaltechnik im Feld Künstlicher Intelligenz (KI) spielt Handschrift eine bedeutende Rolle. Zum einen wurden die in der KI heute so erfolgreichen Methoden des maschinellen Lernens mit künstlichen neuronalen Netzen gerade an der Klassifizierung von Handgeschriebenem wirkmächtig erprobt und demonstriert (siehe Lecun u. a. 1998). Zum anderen stellt KI ein verbessertes automatisiertes ‚Lesen‘ und Erkennen von Handschriften in Aussicht, womit beispielsweise Archivbestände handschriftlicher Dokumente einfacher für die Forschung erschlossen werden könnten. Handschrift hat sich im sogenannten digitalen Zeitalter also keineswegs erledigt. Im Gegenteil: Sie ist als Gegenstand der Wissenschaft eher noch interessanter geworden.
Umso bemerkenswerter ist es daher, wie wenig Handschrift als eigener medialer Bereich von Schriftlichkeit in der Linguistik bislang zur Kenntnis genommen worden ist. Tatsächlich will es dem Autor dieser Rezension nicht gelingen, auch nur ein Überblicks- oder Einführungswerk zum Thema in allgemeiner Absicht zu nennen, weder aus dem deutschsprachigen noch aus dem internationalen Raum. Jenseits der Paläographie und Graphetik (siehe jüngst etwa Meletis 2020) sowie spezialisierter, etwa sprachdidaktischer, psycholinguistischer oder forensischer Arbeiten in der Sprachwissenschaft hat Handschriftlichkeit zuletzt eher in angrenzenden Disziplinen wie der Literaturwissenschaft oder der Medienwissenschaft Aufmerksamkeit erfahren (siehe beispielhaft Büttner u. a. 2014; Neef 2008). Linguistische Überlegungen bleiben dort aber selbstredend marginal. Es ist daher äußerst erfreulich, dass mit dem hier besprochenen Buch von Andi Gredig nun eine erste breit angelegte sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Handschriftlichkeit vorliegt.
Das Buch stellt die Dissertation des Autors dar, mit der dieser 2020 an der Universität Zürich promoviert wurde. Wiewohl klar als akademische Qualifikationsschrift zu erkennen, präsentiert sich das Buch für die Textsorte ungewöhnlich einladend. Dazu tragen neben der zugänglichen Sprache und einer lesefreundlichen typografischen Gestaltung des Bandes die starke, aber nicht übertriebene Gliederung des Textes, zahlreiche Abbildungen in hoher Druckqualität (viele auch in Farbe), ein kurzes Glossar (das gewissermaßen das Kondensat der vom Autor geleisteten Begriffsarbeit darstellt) und zwei übersichtliche Aufstellungen des untersuchten Korpus und der im Text genannten Internet‑Adressen bei. Ein Abbildungsverzeichnis wäre hilfreich gewesen, ebenso ein etwas umfangreicheres Glossar. Ein Schlagwortregister ist wahrscheinlich zu viel verlangt, hätte das Buch aber noch nützlicher gemacht. Der Text wurde insgesamt sauber redigiert, allerdings finden sich im letzten Drittel vereinzelt Satzfehler.
Der Inhalt des Buches und die Zielsetzung des Autors werden durch den Titel und Untertitel des Bandes klar angezeigt. Es geht um Handschriftlichkeit im Allgemeinen. Gredig will sie erst begrifflich, dann auf der Ebene des öffentlichen Sprechens über sie und schließlich anhand ausgewählter handschriftlicher Gebrauchsweisen untersuchen, um den Stellenwert des Schreibens mit der Hand im medialen Gefüge von Schriftlichkeit deutlich zu machen. Im Resultat soll eine Gesamtdarstellung der heutigen gesellschaftlichen und kommunikativen Bedeutung von Handschrift vor dem Hintergrund der digitalen Transformation des Alltags gegeben werden. Der Autor nimmt sich also zunächst einmal vor, Handschriftlichkeit überhaupt als Gegenstand der Linguistik zu plausibilisieren. Wohl ist die Art der medialen Produktion von Geschriebenem (wie von Gesprochenem) für sprachsystematische und auch für viele sprachpragmatische Fragen einerlei. Als spezifische Realisierung von Sprache wird Handschrift aber linguistisch interessant, wo sie eine soziale Praxis oder ein musterhaftes kommunikatives Handeln ist – auch und gerade in Abgrenzung zum Tippen auf den mittlerweile massenhaft verfügbaren digitalen Geräten. Angesichts der genannten sprachwissenschaftlichen Forschungslücke darf das Buch damit als Versuch einer generellen Einführung ins Thema und der Grundlegung eines soziolinguistischen Forschungsprogrammes dazu verstanden werden.
Im Einklang mit dem Untertitel gliedert sich Gredigs Buch neben der Einleitung und dem Fazit in drei größere Teile: einen zu Begriffen (Teil II), einen zum Diskurs (Teil III) und einen zu Praktiken (Teil IV) der Handschrift. Die Arbeit führt so von einer theoretischen Bestimmung ihres Gegenstands über dessen öffentliche Wahrnehmung und Bewertung hin zu einzelnen, jedoch typischen Äußerungs- und Erscheinungsformen. Nach den begrifflichen Ausführungen in Teil II, die auf Erkenntnissen und Konzepten der Schriftlinguistik, Semiotik, Medientheorie und Sprachphilosophie beruhen, wechselt der Autor für die vornehmlich empirisch ausgerichteten Teile III und IV mit der Ebene seiner Analyse auch das methodische Register. Für die Untersuchung des zusammengestellten Korpus hinsichtlich wichtiger Themenfelder und wiederkehrender Vorstellungen und Zuschreibungen von Handschriftlichkeit kommen diskurslinguistische Verfahren zum Einsatz. Für die abschließende Diskussion ausgewählter handschriftlicher Textsorten und konkreter Artefakte werden Ansätze der Kulturlinguistik und der ethnomethodologischen Textlinguistik in Anschlag gebracht.
Um seinen Gegenstand zu fassen, beginnt Gredig die Untersuchung mit einer sorgfältigen Begriffsarbeit, die in drei Kapiteln von der Schrift über das Schreiben hin zum Geschriebenen führt. Dabei bringt er die Termini so zueinander in Stellung, dass er aus ihnen ein schlüssiges Konzept von Handschrift herleiten kann. Schrift begreift der Autor als Forminventar, als einen endlichen Vorrat an abstrakten (d. h. nicht schon geschriebenen und also konkret realisierten) Graphen. Schreiben meint den Prozess des medial je so oder so gearteten Überführens der abstrakten Graphen einer Schrift in den auf Papier, Bildschirm oder einer anderen Schreibfläche geschriebenen Graphen. Und Geschriebenes bedeutet eben diese Realisation von Schrift, das lesbare Artefakt als fertiges Produkt des Schreibens. So kommt Gredig dazu, Handschrift als diejenige Art von Schrift, Schreiben und Geschriebenem zu bestimmen, bei welcher die Graphen nicht (wie im Druck mit Bleilettern oder bei digitalen Fonts) aus einem statischen Forminventar, von Mal zu Mal identisch, reproduziert werden, sondern umgekehrt das Forminventar der Schrift dynamisch aus den, von Mal zu Mal variierten, konkret handgeschriebenen Graphen abstrahiert wird.
Nach der theoretischen Erörterung von Handschriftlichkeit ist der zweite große Abschnitt des Buches (Teil III) dem Diskurs zum Schreiben mit der Hand gewidmet. Welche Vorstellungen von Handschrift herrschen in der Öffentlichkeit vor, welche Funktionen und Werte werden ihr von der Gesellschaft zugesprochen? In einer quantitativen und qualitativen Diskursanalyse soll ein Korpus von knapp dreihundert Presse- und Rundfunkbeiträgen aus dem deutschsprachigen Raum von 1998 bis 2018, das Gredig zusammengestellt und um einige Kurznachrichten auf Twitter ergänzt hat, Aufschluss darüber geben. Im ersten Schritt werden auf der Makroebene des Diskurses intra- und transtextuell vier große Themenbereiche der Berichterstattung untersucht: das Handschreiben mit digitalen Geräten, das Schreiben in der Schule, der ‚Wert‘ des Handschreibens und Handgeschriebenes als Identitätsnachweis. Im zweiten Schritt geht der Verfasser auf der diskursiven Mikroebene transtextuell wiederkehrenden Zuschreibungen nach, wie der vom Aussterben bedrohten Handschrift, dem flüssigen Schreiben oder dem Handgeschriebenen als Spur der Gefühle der Schreibenden. Gredigs Analyse zeigt auf beiden Ebenen, dass Handschrift heute fast durchgängig positiv besetzt und diskursiv mit Qualitäten aufgeladen wird, die sie als besonders wertvolle Form von Schriftlichkeit erscheinen lassen (wenn Handschrift etwa als authentischer Ausdruck des Charakters einer Person angesehen wird).
Im dritten und letzten großen Abschnitt des Buches folgt eine detaillierte Diskussion vier ausgewählter Textsorten, die Gredig im zuvor untersuchten Korpus als besonders beispielhaft oder illustrativ für das Schreiben mit Stift ausgemacht hatte: Karte, Testament, Skizze und Haftnotiz. Diese werden nun mit Verfahren der kulturanalytischen Linguistik und der ethnomethodologischen Textlinguistik einerseits auf die Kontexte ihrer Entstehung und Verwendung hin befragt, andererseits auf ihre Musterhaftigkeit und materielle Gestalt. Damit stellt der Abschluss der Arbeit nicht zuletzt eine Entzauberung der diskursiv überhöhten Vorstellungen von Handschriftlichkeit dar, die in den vorangehenden Kapiteln aufgezeigt wurden. Denn Gredigs Analyse macht klar, dass oft durchaus profane Gründe für das Schreiben mit der Hand (und gegen den Einsatz von im Vergleich aufwendigeren digitalen Mitteln) sprechen. Gerade bei kurzen, schnell hingeworfenen Texten ist Handschrift ungleich praktikabler, ökonomischer und flexibler als die Alternativen. Mit einem herkömmlichen Stift lässt sich, wie im Falle diagrammatischer Skizzen, auf Papier unter anderem sehr bequem nicht-linear schreiben oder auch zeichnen. Manche materielle Textträger lassen sich überhaupt fast nur von Hand beschriften – zumal, wenn sie, wie etwa Postkarten und Haftnotizzettel, stark ortsgebunden sind. Das Beispiel Testament und die Praktik des eigenhändigen Unterschreibens offenbaren darüber hinaus, dass Handschrift in bestimmten Kontexten auch eine juristische Dimension und Definition besitzt, weshalb sie von weitreichender rechtlicher Bedeutung sein kann.
Gredigs Buch stellt im Gesamturteil einen wichtigen und wertvollen linguistischen Beitrag zum Thema Handschriftlichkeit dar. In mancherlei Hinsicht, was etwa die Theorie- und Begriffsarbeit oder die Ausführungen zum Unterschreiben und zur Unterschrift betrifft, kann es gar als grundlegend für weitere Untersuchungen bezeichnet werden. Die Leserin erhält zugleich einen guten Überblick über das mediale Feld der Handschrift aus linguistischer Perspektive und tiefere Einblicke in einzelne typische Gebrauchsweisen und Textsorten des Schreibens mit der Hand. Dem Autor gelingt es erstens, den kulturellen Reichtum heutiger handschriftlicher Praktiken aufzufächern, und zweitens, deren kommunikative und gesellschaftliche Funktionen an Beispielen nachzuzeichnen. Dabei kommt er wiederholt zu treffenden Beschreibungen und originellen Einsichten. Überzeugend in der systematisch hergeleiteten Begrifflichkeit, interessant in der Auswahl der untersuchten Objekte, anschaulich in der Darstellung, nachvollziehbar in der Argumentation und wohltuend nüchtern in der Bewertung ist Gredigs Buch ein Gewinn für die sprachwissenschaftliche Forschung.
Formal ist an dem Buch, abgesehen von den eingangs genannten Kleinigkeiten, nichts auszusetzen. Inhaltlich gibt es allenfalls drei Punkte zu bemängeln. Zum Ersten sind die in Teil III der Arbeit analysierten Aussagen im Diskurs zur Handschrift oftmals kaum überraschend. Das ist jedoch weniger dem Autor selbst als der öffentlichen Meinung anzulasten. Zum Zweiten wären, da der Autor richtigerweise die kulturelle Eingebundenheit von Handschrift betont, ein oder zwei interkulturelle Vergleiche mit handschriftlichen Praktiken außerhalb des deutschsprachigen Raumes vielleicht aufschlussreich gewesen. Und zum Dritten hätte sich der Rezensent angesichts der fortschreitenden Digitalisierung unseres Alltags eine stärkere Auseinandersetzung mit Phänomenen gewünscht, bei denen sich Handschriftlichkeit mit digitalen Medientechniken überkreuzt (wie Gredig es in seinem Exkurs zur digitalen Unterschrift tut). Bedenkt man, dass es sich bei dem Buch um eine Dissertationsschrift handelt, die eine klare Eingrenzung des Gegenstands erfordert, sind diese Auslassungen aber ohne weiteres zu verzeihen und sollen die Leistung Gredigs insgesamt keineswegs schmälern.
Literatur
Büttner, Urs, Mario Gotterbarm, Frederik Schneeweiss, Stefanie Seidel & Marc Seiffarth (Hg.). 2015. Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink.10.30965/9783846757949Search in Google Scholar
Lecun, Yan, Léon Bottou, Yoshua Bengio & Patrick Haffner. 1998. Gradient-based learning applied to document recognition. In: Proceedings of the IEEE 86/11, 2278–2324.Search in Google Scholar
Meletis, Dimitrios. 2020. The Nature of Writing: A Theory of Grapholinguistics. Brest: Fluxus Editions.10.36824/2020-meletisSearch in Google Scholar
Neef, Sonja. 2008. Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Berlin: Kadmos.Search in Google Scholar
Riepl, Wolfgang. 1913. Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Leipzig: Teubner.Search in Google Scholar
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