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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter October 11, 2022

Dimitrios Meletis. 2020. The Nature of Writing. A Theory of Grapholinguistics (Grapholinguistics and its Applications 3). Brest: Fluxus Editions. 459 S.

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Rezensierte Publikation:

Dimitrios Meletis. 2020. The Nature of Writing. A Theory of Grapholinguistics (Grapholinguistics and its Applications 3). Brest: Fluxus Editions. 459 S.


Die 459 Seiten starke Dissertation von Dimitrios Meletis präsentiert höchst aktuelle Forschungen zur Schriftlinguistik in einem natürlichkeitstheoretisch fundierten Framework. Das besondere Verdienst dieser Monographie ist jedoch vor allem die Zusammenführung unterschiedlicher, interdisziplinärer Forschungsperspektiven zu Fragen der Schrift. Meletis legt einen Grundstein für eine vergleichende Graphematik und Graphetik, die weniger an konkreten Einzelphänomenen (wie z. B. Fuhrhop 2021) interessiert ist, dafür aber einen großen Bogen spannt. Die Monographie zeigt auf, dass in unterschiedlichen linguistischen Disziplinen und in unterschiedlichen regionalen Fachkulturen höchst unterschiedliche Forschungen zu Fragen der Schrift betrieben werden. Die Ergebnisse dieser Forschungen systematisiert Meletis und bietet so Anknüpfungspunkte. Es ist also ein international und interdisziplinär ausgerichtetes Buch.

Und das ist dann eben auch ein Ziel, das Meletis verfolgt: die Möglichkeit, einzelne Schriftsysteme kriterienbasiert miteinander zu vergleichen. Dabei bleibt es jedoch nicht, er geht noch einen Schritt weiter. Aus den ersten Vergleichen, die in seinem Werk quasi nebenbei stattfinden, leitet er grundlegende Prinzipien über Schrift im Allgemeinen ab. Hier erweist sich die Natürlichkeitstheorie als gewinnbringend, denn durch die Betrachtung, was in einer Schrift natürlich ist, lässt sich schnell der gedankliche Sprung machen, was für den Menschen im Umgang mit der Schrift natürlich ist. Der Gefahr der Übergeneralisierung oder Überinterpretation begegnet der Autor dadurch, dass er regelmäßig empirisch fundierte Studien zitiert, die seine Analyse unterstützen.

Der Aufbau des Buches zeichnet sich durch eine strenge Zweiteilung aus. Nach der Einleitung folgt zunächst ein Abschnitt zur Beschreibung von Schriftsystemen (Chapter II: Description). Meletis verfolgt hier das Ziel, die verschiedenen Beschreibungen einzelner Schriftsysteme (z. B. zum Deutschen, zum Englischen, aber vor allem auch zu Schriften, die nicht auf dem lateinischen Alphabet basieren, wie dem Chinesischen, Griechischen oder Arabischen) zu einem Framework zu verbinden, mit denen möglichst viele unterschiedliche Schriftsysteme adäquat beschrieben werden können. In diesem Kapitel geschieht vor allem nötige und sinnvolle Begriffsarbeit, von der künftige Forschungen stark profitieren werden. Dass das vor dem Hintergrund des internationalen Anspruchs dieses Buchs unbedingt nötig ist, zeigt eine einfache Tatsache: Die Forschungen zu lateinischen Alphabeten basieren vor allem auf dem Begriff des Graphems. Einmal abgesehen davon, dass selbst in einer einzelnen Sprache der Graphembegriff kontrovers diskutiert wird, stellt sich die Frage, wie weit man mit diesem Graphemkonzept in morphographischen Sprachen kommt.

Der Abschnitt ist dreigeteilt. Meletis erweitert zunächst die graphetischen Beschreibungsdimensionen, die er bereits in einer Arbeit von 2015 vorgestellt hat, um Kriterien für weitere, nicht-lateinische Schriftsysteme (Chapter II.1). Er konzentriert sich hier vor allem auf die Mikrographetik, also die Beschreibung der Buchstabenformen. Es stellt sich die Frage, was eigentlich ein Buchstabe ist. In lateinischen Alphabeten scheint es zumindest auf den ersten Blick klar, doch was ist ein Buchstabe in logographischen Schriftsystemen? Die kleinste nicht-segmentierbare Einheit? Und selbst bei verbundenen Schriften im lateinischen Alphabet wird es schwierig, ‚Buchstabe‘ schriftimmanent zu definieren. Meletis argumentiert überzeugend, dass vor diesem Hintergrund ein abstrakter Begriff wie ‚Grundform‘ angemessener ist.

Das Kapitel zur Graphematik (II.2) startet mit einem ausführlichen Überblick über die Forschungsgeschichte, insbesondere zum Disput zwischen autonomer und phonographischer Sicht auf Sprache. Das wirkt etwas anachronistisch, da diese Diskussion mittlerweile als beendet gelten dürfte, denn kaum ein Graphematiker verfolgt noch eine rein autonome oder phonographische Sichtweise. Noch mehr Raum wird der Diskussion um den Graphembegriff eingeräumt. Das erscheint sinnvoller, denn diese Diskussion ist mitnichten beendet. Meletis stellt kenntnisreich die verschiedenen Konzeptionen von Graphemen heraus, bevor er zu einer eigenen Definition kommt, die sich auf drei Kriterien stützt: 1) Ein Graphem muss bedeutungsunterscheidend sein, 2) ein Graphem muss sich auf eine linguistische Einheit oder Information beziehen und 3) es muss eine minimale Einheit sein (S. 92–96). Die Idee eines mehrdimensionalen Graphembegriffs ist sehr elegant. Allerdings übersieht Meletis, dass auch kleinere Einheiten als ein Graphem mit einer linguistischen Information korrespondieren können, wenn man Primus (2004) folgt. Primus zeigt, dass bestimmte Buchstabensegmente im Deutschen mit bestimmten Lautklassen korrespondieren. Zum Beispiel korrespondieren Buchstaben mit einer großen vertikalen Ausdehnung wie <p, t, k, f> tendenziell häufiger mit Obstruenten. Ähnliche Zusammenhänge zwischen Buchstabenform und Lautklasse sind auch in anderen Schriftsystemen zu finden (vgl. Berg et al. 2016). Nichtsdestotrotz steckt einiges an Potenzial in dieser Graphemdefinition, insbesondere hinsichtlich ihrer Modularität, wie Meletis anschließend an ihrer Anwendung auf nicht-alphabetische Schriftsysteme zeigt.

Besonders wertvoll ist die Begriffsarbeit in diesem Kapitel in Hinsicht auf die Allographie (auch in Meletis 2020). Ein zentrales Problem vieler graphematischer Theorien ist es, dass manche Zeichen auf visueller Ebene unterschiedlich sind, aber dieselbe graphematische Funktion erfüllen. Das klassische Beispiel sind die verschiedenen a-Formen im lateinischen Alphabet: |a| und |ɑ|. Indem Meletis ein Graphem strukturell nicht nur als eine Einheit erfasst, sondern als eine Relation zwischen schriftlichem Zeichen und sprachlicher Einheit, kann er viele Probleme umgehen, die Allographen für die systematische Graphetik und Graphematik bedeuten. Er beschreibt verschiedene Stufen von Allographie, die zwischen einzelnen Grundformen oder zwischen Graphemen wirken können. Insbesondere bei der sogenannten ‚freien Allographie‘ stellt sich die Frage, wie frei die Variation zwischen verschiedenen Formvarianten wirklich ist oder ob nicht etwa außergraphematische Gründe wie Textsorte, Rezipientenorientierung oder einfach Diachronie eine Rolle spielen.

Im Anschluss diskutiert Meletis die Systemebenen der graphematischen Silbe, des graphematischen Worts und des graphematischen Satzes, wendet die traditionell eurozentrischen Begriffe schlaglichtartig auf nicht-alphabetische Schriftsysteme an und zeigt Grenzen auf, an denen man mit diesen Konzepten nicht weiterkommt. Das dritte Kapitel dieses Abschnitts widmet sich der Orthographie verschiedener Schriftsysteme. Hier ist es spannend zu sehen, wie unterschiedliche Schriften normiert werden können und was eigentlich normiert wird. Im Vergleich zu den beiden vorherigen Kapiteln steht die Orthographie aber zu Recht nicht im Fokus.

Der zweite große Teil des Buches (III Explanation) beinhaltet die Anwendung natürlichkeitstheoretischer Ansätze auf die zuvor gezeichnete Skizze einer interkulturellen Schriftsystemforschung. Der Verfasser nutzt die Natürlichkeitstheorie dazu, verschiedene Schriftsysteme in ihrer Passung zur mit ihnen verschrifteten Sprache zu evaluieren. Das ist ein interessanter Vergleichsaspekt, der aber einen sehr weiten Fokus hat. Dem begegnet Meletis dadurch, dass er vier Anwendungsbereiche unterscheidet: systematic fit, linguistic fit, processing fit und sociocultural fit. In allen vier Bereichen präsentiert Meletis Beispiele aus verschiedenen Schriftsystemen und untersucht, wie konsistent das jeweilige Schriftsystem in sich ist (systematic fit), wie gut es zum jeweiligen Sprachsystem passt (linguistic fit), wie gut es von Menschen kognitiv verarbeitet werden kann (processing fit) und wie gut es zur jeweiligen Kultur der Schriftnutzer:innen passt (sociocultural fit). Natürlich ist es ausgeschlossen, alle Schriftsysteme der Welt auf diese Weise in einer einzigen Dissertation zu behandeln. Meletis legt deshalb den Schwerpunkt darauf, aus ersten Vergleichen Kriterien für eine zukünftige umfangreiche Typologie abzuleiten. Er zeigt beispielsweise, dass die Cree-Schrift in sich systematisch nahezu geschlossen ist, weil sie aus Zeichen besteht, die wenig Redundanz besitzen (systematic fit, S. 219–221).

Den linguistic fit (wie später auch den processing fit) unterteilt Meletis in Anlehnung an die Natürlichkeitstheorie in unterschiedliche Dimensionen der Passung: die Repräsentationseinheiten linguistischer Informationen, Ikonizität, Indexikalität, Transparenz, Einheitlichkeit, kompositionale und positionale Eindeutigkeit und Figur-Grund-Unterscheidung. Wieder zeigt er an zahlreichen Beispielen, welche Kriterien für einen Vergleich von Schriftsystemen genutzt werden können. Beispielsweise gibt es in manchen Sprachen ikonische Zeichen, deren semantisches Äquivalent fast schon intuitiv an der Form erkannt werden kann. Die chinesischen Zeichen für die Zahlworte ‚eins‘, ‚zwei‘ und ‚drei‘ sind ein besonders eindrucksvolles Beispiel: <一>, <二>, <三> (S. 240). Auch lateinische Schriftsysteme enthalten ein oft unterschätztes Maß an Ikonizität, wie Meletis anhand von Primus’ Buchstabendekomposition zeigt (S. 241–243, s. o.).

Die detaillierten Erläuterungen zum processing fit zeichnen aus historischen und psycholinguistischen Beobachtungen ein Bild davon, welche graphetischen, graphematischen und orthographischen Eigenschaften ein ideal zu verarbeitendes Schriftsystem haben sollte. Wieder zeigt der Verfasser, wie es einzelnen exemplarischen Schriftsystemen gelingt, von diesem Ideal abzuweichen, aber dennoch gut verarbeitet werden zu können. Ein Beispiel: Phonographisch transparente Schriftsysteme können im Allgemeinen schnell erlernt werden und verursachen wenige Fehler. Von vielen Schriftsystemen kann man jedoch nicht behaupten, dass sie rein phonographisch seien. Wie etwa im Deutschen spielt oft auch morphographische Transparenz eine Rolle. Diese bietet geübten Leser:innen weitere Verarbeitungshilfestellungen, die möglicherweise die Effekte der geringen phonographischen Transparenz wett machen (S. 318–319; vgl. Bredel, Noack & Plag 2013).

Der Bereich sociocultural fit bezieht sich darauf, wie eine Gesellschaft sich mit ihrem Schriftsystem identifiziert. Darunter subsumiert Meletis eine Menge unterschiedlicher Beobachtungen, was er auch selbst anmerkt (S. 340). Diese reichen von der parallelen Existenz von Biskripturalität über Einstellungen zu orthographischen und ‚orthotypographischen‘ Fragen bis hin zu prestige-distinguierenden Schreibweisen innerhalb einer Orthographie.

Den umfangreichen Analysekapiteln der Monographie schließen sich drei knappe Kapitel an, IV Discussion, V Conclusion und VI Continuation. Hier regt der Autor vor allem zur weiteren Arbeit mit seinen Kriterien an. An dieser Stelle vermisst man allerdings ein wenig eine klarere Zusammenstellung und vielleicht auch eine Zusammenführung der Kriterien, die in den vorherigen Kapiteln detailliert erarbeitet wurden. Das Buch schließt mit dem Literaturverzeichnis und einem Index.

Ein lobendes Wort muss dem Umgang mit der Graphetik gelten, die in zahlreichen schriftlinguistischen Publikationen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, ein Schattendasein fristet. Meletis gibt der Graphetik den Raum, den sie verdient – aber ordnet sie zugleich in eine allgemeine Auffassung von Schrift und Schriftforschung ein. Seine Monographie nimmt die Graphetik ernst. Das ist auch kein Wunder, denn der Autor gehört zu denen, die die Graphetik jüngst wiederbelebt haben. Lobenswert ist auch der besonders weite Blick auf verschiedene Sprachen und Schriftsysteme. Kritisch dagegen muss der recht eingeengte Fokus auf die Druckschrift gesehen werden – alle im Buch vorgestellten Schriftsysteme werden auch mit der Hand verschriftet und es ist wahrscheinlich, dass manche sogar nur ausschließlich handschriftlich produziert werden. Vor diesem Hintergrund muss abgewartet werden, wie ergiebig sich die Begriffsarbeit in Bezug auf Grundform, Graph und Graphem in Kapitel II erweist. Nichtsdestotrotz ist dieses auch sprachlich sehr ansprechende Buch absolut lehrreich und lässt interessierte Grapholinguist:innen Zusammenhänge sehen, die vorher nicht offenbar waren.

Literatur

Berg, Kristian, Beatrice Primus & Lutz Wagner. 2016. Buchstabenmerkmal, Buchstabe, Graphem. In: Ulrike Domahs & Beatrice Primus (Hg.). Handbuch Laut, Gebärde, Buchstabe. Berlin, Boston: De Gruyter, 337–355.Search in Google Scholar

Bredel, Ursula, Christina Noack & Ingo Plag. 2013. Morphologie lesen. Stammkonstanzschreibung und Leseverstehen bei starken und schwachen Lesern. In: Martin Neef & Carmen Scheerer (Hg.). Die Schnittstelle von Morphologie und geschriebener Sprache. Berlin, Boston: De Gruyter, 211–249.Search in Google Scholar

Fuhrhop, Nanna. 2021. Vergleichende Graphematik. In: Henning Lobin, Andreas Witt & Angelika Wöllstein (Hg.). Deutsch in Europa. Sprachpolitisch – grammatisch – methodisch. Berlin, Boston: De Gruyter, 93–110.Search in Google Scholar

Meletis, Dimitrios. 2015. Graphetik. Form und Materialität von Schrift. Glückstadt: Werner Hülsbusch.Search in Google Scholar

Meletis, Dimitrios. 2020. Types of Allography. In: Open Linguistics 6 (1), 249–266. DOI: 10.1515/opli-2020–0006.10.1515/opli-2020-0006Search in Google Scholar

Primus, Beatrice. 2004. A Featural Analysis of the Modern Roman Alphabet. In: Written Language & Literacy 7 (2), 235–274.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-10-11
Erschienen im Druck: 2022-11-23

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2022-2101/html
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