Rezensierte Publikation:
Christian Braun (Hrsg.). 2021. Sprache des Sterbens – Sprache des Todes. Linguistische und interdisziplinäre Perspektivierungen eines zentralen Aspekts menschlichen Daseins (Reihe Germanistische Linguistik 323). Berlin, Boston: De Gruyter. 449 S.
Das von Christian Braun herausgegebene Buch stellt das Produkt einer internationalen Tagung dar, die 2019 unter dem Titel „Sprache des Sterbens – Sprache des Todes“ in Graz stattfand. Denselben Titel trägt nun auch der daraus hervorgegangene Sammelband, und obwohl der Titel durch den Parallelismus zwar durchaus eingängig klingt, erweist er sich letzten Endes als wenig treffend – können sich Tod und Sterben doch immer nur als Sprechen bzw. Schreiben über oder von Sterben und Tod manifestieren; beispielsweise in Form von konventionellen oder elektronischen Kondolenzen (vgl. dazu die Beiträge von Bachmann-Stein, Stein und Tuchen), als Trostpraktiken (vgl. den Beitrag von Marx & Tienken), digitale Narrationen in Blogs (vgl. den Beitrag von Meier-Vieracker), als sprachlich entworfene Bilder in Raptexten (vgl. den Beitrag von Szczepaniak) oder als sprachliche Bewältigungsstrategie im Angesicht der drohenden Vernichtung im nationalsozialistischen Deutschland (vgl. den Beitrag von Markewitz). Und selbst wenn dem personifizierten Tod selbst Worte in den Mund gelegt werden (vgl. den Beitrag von Resch), kann es sich dabei nicht um die ‚Sprache des Todes‘ handeln, sondern höchstens um einen Sprachgebrauch, der einem „absoluten Abstraktum, das in seiner Verwendung keinen Wahrheitswert erhalten kann“ und stets referenzlos bleiben muss (Schwarz‑Friesel 2013: 253), als imaginiert zugeschrieben wird. Auch der Untertitel „Linguistische und interdisziplinäre Perspektivierungen eines zentralen Aspekts menschlichen Daseins“ bleibt vage. Diese bereits in der Titelei anklingenden Schwierigkeiten widerspiegeln sich letztlich in der Gesamtkonstitution des Bandes, weshalb ich diese hier auch direkt als Hauptkritikpunkt anführen möchte: der zum Teil sehr lose Zusammenhang zwischen den Beiträgen (vgl. den nächsten Abschnitt), die ihrerseits in sehr unterschiedlicher Weise (und Qualität!) überhaupt auf das Thema Tod und Sterben eingehen und die sich auch rein formal, z. B. in der Länge, maßgeblich unterscheiden. Dass es sich dabei um eine Herausforderung handelt, mit der Sammelbände generell und interdisziplinäre Sammelbände im Spezifischen konfrontiert sind (was der Herausgeber in der Einleitung übrigens auch selbst thematisiert, vgl. S. 2), darf m. E. nicht dazu führen, den Versuch einer Kohärenz- oder Konsistenzstiftung bei einer losen Themenbindung sowie einer groben, nicht weiter explizierten Gliederung zu belassen. Zwar wird versucht, einige Querverbindungen zwischen den Beiträgen herauszuarbeiten (S. 8f.), wobei der Aspekt der Trauerbewältigung doppelt genannt wird (S. 8 und S. 9). Dass das im vorliegenden Fall aber kein einfaches Unterfangen ist, wird auch in der Einleitung manifest, wenn der Herausgeber schreibt:
„Hinsichtlich des theoretischen Unterbaus bzw. der Art und Weise der Methodik kann man vorab einmal grob synchrone, diachrone oder kontrastive Herangehensweisen beobachten, prinzipiell erweisen sich soziolinguistische Zugriffe als geeignetes Mittel der Wahl, wenngleich die konkrete Sprachmaterialanalyse wie üblich auf systemlinguistischen Erkenntnissen beruht und Semantik und Pragmatik in der einen oder anderen Form immer inkludiert sind.“ (S. 3).
Abgesehen davon, dass diese Beschreibung sehr vage und insgesamt wenig aussagekräftig bleibt (und überdies unklar ist, worauf sich die Annahme eines „üblich[en]“ oder „immer“ angewandten Vorgehens beziehen soll), trifft es schlicht auch nicht auf alle Beiträge zu (vgl. etwa die Beiträge im interdisziplinären Teil). Insofern würde ich es auch nicht so sehen, dass – wie Braun später in der Einleitung schreibt – „die meisten der hier versammelten Studien in ähnlicher Weise vorgehen“ (S. 4). Zwar gibt es einige Texte, die in der Tat sehr ähnlich vorgehen und sich dafür auch auf die gleichen theoretischen Grundlagen stützen, was mitunter zu beträchtlichen Redundanzen führt; andere jedoch haben bis auf einen – in der Intensität allerdings sehr stark variierenden – Fokus auf die Themen Tod und Sterben kaum etwas gemeinsam. Bevor ich aber auf diesen Punkt zurückkomme, soll zunächst auf den Inhalt der insgesamt 19 Beiträge eingegangen werden. Diese werden aufgrund der recht hohen Anzahl nicht einzeln zusammengefasst, zumal das in der Einleitung vom Herausgeber selbst geleistet wird; stattdessen werden die Beiträge der drei Teile kombiniert besprochen und dabei auf verschiedene, zentral erscheinende (Kritik-)Punkte eingegangen.
Inhalt der drei Teile
Der erste Teil des Buches widmet sich gegenwartssprachlichen Zugängen, umfasst 11 der insgesamt 19 Beiträge und ist somit (auch im Hinblick auf die Seitenzahlen) der umfangreichste der drei Teile. Warum die beiden Beiträge von Markewitz zum „Getto Litzmannstadt“ und von Schuster & Wilk zur Wortfamilie „Blut im Nationalsozialismus“ diesem Teil und nicht den sprachgeschichtlichen Zugängen zugeordnet sind, hätte m. E. zumindest reflektiert werden müssen.
Die ersten drei Beiträge (Bachmann-Stein, Stein, Tuchen) gehen alle auf Kondolenzpraktiken ein, jedoch mit jeweils unterschiedlichem Fokus. Wie bereits angedeutet, gibt es hier einen recht großen theoretischen Überschneidungsbereich (wobei die vielen Wiederholungen bei linearer Lektüre, die ja aber nicht den Regelfall darstellt, besonders auffallen), der sich allerdings vorwiegend auf textlinguistische Überlegungen bezieht. Demgegenüber wäre eine (insbesondere linguistische) Reflexion der in den Beiträgen argumentativ relevant gesetzten Frage nach der Bedeutung von Emotionen bzw. Trauer wünschenswert gewesen. Das trifft indes auch auf andere Beiträge in diesem ersten Teil zu.
Die methodische Bandbreite (und deren (Nicht-)Reflexion) der Beiträge in diesem ersten Teil ist enorm: von der Beschreibung einer einzelnen Textgrundlage (Greule), über kleinere Sammlungen privater Texte (Bachmann-Stein, Walther) bis hin zu korpuslinguistischen Auswertungen großer Datenmengen (Meier-Vieracker, Schuster & Wilk); von einer detaillierten Beschreibung des Vorgehens bei der Kategorienbildung und deren Auswertungen (Walther) bis hin zur bloßen Auflistung von Beispielen (Szczepaniak) oder nicht weiter explizierten Kategorien (Tuchen); von empirischen Analysen authentischer Daten (Stein, Marx & Tienken, Walther) und mehr oder weniger stark stilisierter bzw. normierter Texte (Szczepaniak, Meier-Vieracker, Marx & Tienken, Markewitz, Tuchen) bis hin zu grundlegenden theoretischen und terminologischen Überlegungen zur linguistischen Auseinandersetzung mit den Themen Tod und Sterben (Schütte). Das zeigt zwar einerseits die Breite der möglichen Herangehensweisen im Fach, aber andererseits auch, dass der einleitend vom Herausgeber formulierte Anspruch einer ähnlichen Vorgehensweise aller Beiträge in diesem ersten Teil nicht zutreffend ist (siehe oben).
Sehr unterschiedlich gestaltet sich auch der Umgang mit den zugrunde liegenden, in den meisten Fällen sensiblen Daten. Während Meier-Vieracker sowie Marx & Tienken, die diesen Umgang auch kritisch reflektieren, ihre öffentlich zugänglichen Daten anonymisieren resp. pseudonymisieren, präsentiert Stein die von ihm gesammelten Screenshots unbearbeitet und gibt zu den Abschriften jeweils Personenangaben an (wobei nicht immer klar ist, ob es sich um ein Pseudonym oder einen Klarnamen handelt). Freilich zeigt sich hierin auch ein grundlegendes Problem im Umgang mit insbesondere digitalen Daten, weil verbindliche Standards noch immer fehlen bzw. nur bedingt um- oder durchgesetzt werden. Teilweise wäre es zudem hilfreich gewesen, die Querverbindungen zwischen den Beiträgen explizit(er) zu machen. So geht der Beitrag von Bachmann-Stein bspw. auf die Frage nach der Bedeutung von Trost ein, es findet aber kein Verweis auf den Beitrag von Marx & Tienken statt, der sich ja seinerseits genau mit dieser Thematik auseinandersetzt.
Der sprachgeschichtlich ausgerichtete zweite Teil ist mit fünf Beiträgen der kürzeste; darin werden unter anderem Leichenpredigten (Janus, Schneider-Mizony), Totenzettel (Meier) und literarische Schriften (Moshövel, Resch) im Hinblick auf Sterbensdarstellungen (Janus), Semantiken des Lebens (Moshövel), Muster in der Figurenrede (Resch) oder Entpersonalisierungsstrategien (Schneider-Mizony) untersucht. Auch in diesem Teil sind einerseits Überlappungen (so untersuchen sowohl Moshövel wie auch Resch den Ackermann von Tepl) und andererseits eine große methodische Varianz zu beobachten, wobei wiederum eine sehr unterschiedlich intensive (kritische) Auseinandersetzung mit Daten, Methoden und zum Teil auch mit der Theorie stattfindet. Nach der Lektüre der Beiträge bleibt jedenfalls der Eindruck, dass an mancher Stelle insbesondere die linguistischen Überlegungen bzw. Analysen hätten vertieft (Janus, Moshövel) und dafür andere, m. E. unverhältnismäßig ausführliche Beschreibungen, die der Analyse argumentativ wenig zuträglich sind, kürzer ausfallen dürfen. Letzteres trifft z. B. auf die sehr ausführlich dargestellte Quellenlage zu den Totenzetteln bei Meier zu, der dann aber andererseits seine 36 Analysekriterien nicht offenlegt. Störend sind in diesem Beitrag übrigens auch die zahllosen Links, die direkt im Fließtext angegeben worden sind und den Lesefluss erheblich stören.
Der letzte der drei Teile ist schließlich interdisziplinären Zugängen gewidmet. Zunächst stellt sich aus Leserinnensicht die Frage, aus welchem Grund Beiträge aus der anglistischen und indogermanischen Linguistik als interdisziplinär kategorisiert werden. Sollten dieser Zuteilung einzelsprachliche Überlegungen zugrunde liegen, müssten diese zumindest auch im Beitrag von Tuchen reflektiert werden, die neben deutschen auch englische Tweets untersucht und mögliche einzelsprachbedingte (oder auch kulturkreisspezifische) Unterschiede überhaupt nicht thematisiert. Auch an dieser Stelle wäre deshalb die Offenlegung oder Reflexion der Gliederungskriterien hilfreich gewesen. Die restlichen vier Beiträge dieses letzten Teils sind musikwissenschaftlicher, historischer und literaturwissenschaftlicher Provenienz und entsprechend inhaltlich für mich als Linguistin nur schwer zu beurteilen. Interessant ist aber die Feststellung, dass die Varianz zwischen diesen Beiträgen ebenso groß wie diejenige bei den als linguistisch klassifizierten ist.
Fazit
Tod und Sterben sind zweifellos permanent aktuelle und relevante, vor allem aber auch nur interdisziplinär vollständig fass- und begreifbare Themen; in diesem Sinne ist Brauns Plädoyer für ein über die Fachgrenzen hinweg reichendes Nachdenken über diese Thematik unbedingt beizupflichten. Aller obengenannter Kritik zum Trotz ist der Band daher sicherlich auch als wichtiger Versuch einer Umsetzung dieses Plädoyers zu werten, auch wenn diese Umsetzung insbesondere in formaler Hinsicht noch Optimierungspotential aufweist. Der z. T. schwache inhaltliche Zusammenhang zwischen den Beiträgen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im vorliegenden Sammelband einige durchaus wichtige methodische, theoretische, terminologische und analytische Impulse gegeben werden.
Literatur
Schwarz-Friesel, Monika. 2013. Sprache und Emotion. 2. Aufl. Tübingen, Basel: Francke.10.36198/9783838540399Search in Google Scholar
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