Rezensierte Publikation:
Florian Busch. 2021. Digitale Schreibregister. Kontexte, Formen und metapragmatische Reflexionen (Linguistik – Impulse und Tendenzen 92). Berlin, Boston: De Gruyte r. 607 S.
Mit seiner Dissertationsschrift zu digitalen Schreibregistern legt Florian Busch eine theoretisch außerordentlich fundierte wie auch empirisch ausgezeichnet umgesetzte Arbeit vor. Angesichts ihrer theoretischen Dichte und vielschichtigen Verortung in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Diskursen ist Busch ein niederschwelliger Einstieg gelungen: Die Einleitung beginnt mit dem Allgemeinplatz, dass sich die „gesellschaftliche Rolle von Schriftlichkeit [...] im Zuge der Digitalisierung des kommunikativen Alltags nicht nur für individuelle SchreiberInnen gewandelt“ (S. 1) habe und dass sich in diesem Zuge auch „neue linguistische Perspektiven auf geschriebene Sprache und ihre kommunikative und soziale Relevanz“ (ebd.) ergäben. Mit Blick auf die „alltägliche Omnipräsenz digitaler Kommunikation“ (ebd.) und der – ebenfalls nicht neuen – Feststellung, dass Schriftlichkeit „in neue, häufig informelle Handlungsbereiche [diffundiert], die traditionell mit gesprochener Sprache assoziiert wurden“ (ebd.), leitet Busch zu seinem Forschungsinteresse über, das in folgender neuerer Entwicklung begründet ist: „Die Bewusstheit der SchreiberInnen über ihren varianten Schriftgebrauch und der daraus abgeleitete stilistische Wille, sozial und kommunikativ kontextsensitiv zu schreiben, ist im digitalen Zeitalter ungleich höher“ (S. 2), als dies früher der Fall war. Damit ist der Rahmen gesteckt: Den Kern der Arbeit bildet die Analyse jugendlicher Alltagsschriftlichkeit und ihrer Variabilität aus einer interaktional-soziolinguistischen Perspektive. Grundlegend für die theoretische Verortung, das methodische Vorgehen und die empirische Analyse ist die Dreigliederung in (1) Kontexte, (2) Formen und (3) Reflexionen, die sich als roter Faden durch alle Kapitel der Arbeit zieht und zu den folgenden Forschungsfragen führt (vgl. S. 162): (1) Welche wiederkehrenden sozio-situativen Kontexte evozieren die digitalen Schreibregister von Jugendlichen? (2) Welche graphisch-segmentalen Formen materialisieren die digitalen Schreibregister von Jugendlichen? (3) Welche metapragmatischen Reflexionen liegen digitalen Schreibregistern von Jugendlichen zugrunde?
Der Aufbau folgt erwartungsgemäß dem einer Qualifikationsschrift. Teil I bildet die theoretische Grundlegung, es folgen in Teil II Ausführungen zum Forschungsfeld, den Methoden und Daten, bevor im ausführlichen Teil III die Ergebnisse der umfangreichen und vielschichtigen Analyse dargestellt werden. Zusammenfassung und Ausblick (Teil IV) runden die Arbeit ab.
Zur theoretischen Grundlegung
Im ersten Abschnitt von Teil I (Kap. 2) wird nach einer kurzen terminologischen Klärung gängiger Begriffe der Schriftlichkeitsforschung ein Überblick darüber gegeben, wie Schreibvarianz Gegenstand der jüngeren Sprachwissenschaft war und ist. Eingegangen wird auf die Schriftlinguistik, die Medienlinguistik (bzw. nach Busch: die linguistische Onlineforschung) sowie die Soziolinguistik. Letztere, die Soziolinguistik der Schriftlichkeit, bildet den maßgeblichen theoretischen und methodologischen Bezugspunkt der Arbeit, womit einhergeht, dass Busch das Konzept sprachlicher Register als zentral für seine Arbeit setzt.
Im folgenden Kap. 3 liefert Busch eine sehr dichte, beeindruckend fundierte Auseinandersetzung mit Registertheorien in der Linguistischen Anthropologie sowie insbesondere mit dem Konzept der indexical orders von Silverstein. Dabei gelingt es ihm außerordentlich gut, die komplexen Theorien und Konzepte nicht nur forschungsgeschichtlich zueinander in Bezug zu setzen, sondern sie auch nachvollziehbar darzustellen und für seinen Forschungsansatz sowie die spätere Analyse fruchtbar zu machen.
In Kap. 4 entwickelt Busch ausgehend von Sprach- und Medienideologien seinen eigenen Forschungsansatz, der sich dann in der Ergebnisdarstellung in Teil III wiederfindet, wenn er die sozio-situativen Kontexte und graphisch-segmentalen Formen des digitalen Schreibens sowie metapragmatische Ideologien und Reflexionen analysiert. Die Abgrenzung von Fehlschreibung und stilistischer Variation kann im Einzelfall heikel sein; das ist jedoch nicht Busch anzulasten, sondern liegt in der Natur der Sache, da eine nachgelagerte Analyse von Produktdaten notwendigerweise mit einer Interpretationsleistung des Analysierenden verbunden ist. Insgesamt zeichnet sich das Vorgehen von Busch durch ein hohes Maß an Reflektiertheit und Transparenz aus. Insbesondere die Ausführungen zu Sprach- und Medienideologien in Kap. 4.3 sind nicht nur zentral für seinen Forschungsansatz, sondern von weiterführender Relevanz, weil die dort angesprochenen Aspekte in den meisten medienlinguistischen Arbeiten kaum reflektiert bzw. systematisch in die Analyse miteinbezogen werden.
Die gesamte theoretische Grundlegung ist äußerst gründlich und stark von sprachanthropologischen Ansätzen geprägt. Fast entsteht der Eindruck einer kleinen Einführung – auf jeden Fall aber der eines Plädoyers, solche Ansätze stärker auch in der deutschsprachigen medienlinguistischen Forschung zu verankern.
Zu Forschungsfeld, Methoden und Daten
Um mögliche Schreibregister von Jugendlichen zu analysieren, zieht Busch umfangreiche und unterschiedliche Datensätze heran, die er in mehreren Schritten an vier Schulen erhoben hat. Hierbei war die Frage leitend, „wie jugendliche SchreiberInnen ihren literalen Alltag zwischen formeller schulischer Schriftlichkeit einerseits und den verschiedenen Anlässen informeller digitaler Schriftlichkeit andererseits metapragmatisch organisieren“ (S. 161). An dieser Stelle ist einzuwenden, dass diese angenommene Zweiteilung von jugendlicher Schriftlichkeit suggeriert, dass die informelle digitale Schriftlichkeit (nur) außerhalb der Schule ihren Platz hat, was heute nur noch bedingt den schriftlichen Alltag widerspiegelt. Denn aufgrund der zunehmenden Digitalisierung des Schulalltags – auch in Folge der COVID-19-Pandemie – wird mittlerweile auch in schulischen Kontexten immer häufiger digital geschrieben und es werden bspw. Chatkonversationen im Unterricht oder unterrichtsbegleitend eingesetzt. Ob dieses schulische Schreiben in einem formellen oder informellen Duktus geschieht und ob Ausdrucksweisen, die bislang der Domäne des Freizeitschreibens zugeordnet wurden, auch Einzug in das schulische Schreiben halten, wird sich zeigen (erste Überlegungen zu dieser Entwicklung finden sich in Dürscheid & Brommer 2022). Zumindest im Ausblick der Arbeit hätten diese absehbare Entwicklung (die COVID-19-Pandemie diente nur als Beschleunigung) und mögliche Konsequenzen mitbedacht werden können.
Zur Methode: Mit Bezug auf die drei Analysedimensionen seines Forschungsansatzes und die daraus abgeleiteten Forschungsfragen (s. o.) erhob Busch erstens Fragebögen zur Analyse von sozio-situativen Kontexten des Schreibens (191 ProbandInnen), zweitens Textportfolios bestehend aus einerseits schulischen Texten und andererseits WhatsApp-Chatverläufen zur Analyse von graphisch-segmentaler Varianz (23 ProbandInnen) und drittens Gruppeninterviews zur Analyse von metapragmatischen Reflexionen (16 ProbandInnen). Mittels Daten- und Methodentriangulation wertet er das Material aus und zeigt in der folgenden Ergebnisdarstellung auf, wie die Befunde in wechselseitigen Abhängigkeiten stehen. Einmal mehr wird deutlich, mit wieviel administrativem und datenschutzrechtlichem Aufwand eine solche Erhebung verbunden ist, wieviel Mühe eine solch umfangreiche quantitative und qualitative Datenanalyse erfordert und wie reflektiert und sorgfältig Busch in allen Schritten seiner Studie vorgeht.
Zu den Ergebnissen
Teil III bildet das Herzstück der Arbeit; auf rund 250 Seiten präsentiert Busch die Befunde seiner Analyse. Die Ausführungen zu den sozio-situativen Kontexten des digitalen Schreibens (Kap. 8) fallen recht kurz aus (18 S.), was aber plausibel ist. Busch legt dar, dass Jugendliche ihr Schreiben als zwei gegensätzliche Schreibpraxen konzeptualisieren: das institutionelle, analoge Schreiben mit Stift und Papier in der Schule, das durch die asymmetrische, formelle LehrerIn-SchülerIn-Konstellation geprägt ist, vs. das freizeitliche, digitale Schreiben, das durch symmetrische, informelle Beziehungskonstellationen gekennzeichnet ist. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, sondern eine Folge des Erhebungszeitraums.[1] Möglicherweise haben sich die sozio-situativen Kontexte im Zuge der Digitalisierung des Schulalltags mittlerweile verschoben.
Die in Kap. 9 (Graphisch‑segmentale Formen des digitalen Schreibens) präsentierten Daten belegen zum einen das hohe Maß an Orthographie-Obligation in schulischen Texten. Zum anderen zeigt die Verteilung graphemischer Varianten (z. B. Iterationen, Tilgungen, Verwendung logographischer Zeichen), wie Jugendliche (ortho)graphische Spielräume kontextsensitiv nutzen und individuelle Lösungen für ihre kommunikativen Bedürfnisse finden. Neben dem Vorhandensein idiosynkratischer Stile stellt Busch aber auch überindividuelle Muster fest (hierzu zählen bspw. Substantiv-Kleinschreibungen), die „für SchreiberInnen eine präsupponierende, indexikalische Qualität besitzen“ (S. 307) und daher in einem Spannungsverhältnis zum idiosynkratischen Stil stehen. Dies gilt für den Bereich graphemischer Variation ebenso wie für die Verwendung von Interpunktionszeichen. Dass sich im informellen digitalen Schreiben bestimmte, nicht der kodifizierten Orthographie entsprechende Schreibweisen konventionalisiert haben und sich hier de facto neue Normen herausgebildet haben, wurde in diversen Arbeiten aufgezeigt (z. B. Androutsopoulos 2018). Neu an Buschs Ansatz ist die Rückbindung spezifischer Schreibkonventionen an sozio-situative Kontexte.
Kap. 10 ist schließlich metapragmatischen Reflexionen digitaler Schreibregister gewidmet und verfolgt damit einen Perspektivenwechsel hin zur Wahrnehmung der beobachteten Schreibweisen durch die Jugendlichen selbst. Die Daten sind äußerst aufschlussreich und belegen eine hohe, sehr differenzierte metapragmatische Bewusstheit bei den Jugendlichen für die verschiedenen Schreibweisen und Schreibvarianten. Die Daten zeigen beispielsweise ausgeprägte Akkommodationsprozesse, aber auch scheinbar Widersprüchliches: Während für manche Jugendlichen die AdressatInnen-Orientierung die wichtigste Dimension digitaler Schreibregister darstellt, spielt sie für andere offensichtlich keine Rolle (wobei introspektiven Daten grundsätzlich mit Vorsicht zu begegnen ist). Das Beachten orthographischer Regeln wird von den befragten Jugendlichen ausschließlich (!) mit Sanktionierung durch Noten und schulischer Normautorität in Verbindung gebracht. Dies sollte Lehrpersonen und der Schreibdidaktik zu denken geben und sie motivieren, der Orthographie zu einem besseren Ansehen zu verhelfen und ihren Nutzen zu verdeutlichen. An anderer Stelle wird anhand der Daten sehr schön aufgezeigt, wie standard- und genderideologische Aspekte untrennbar an medienideologische Registrierungen gebunden sind.
In der Summe binden die Kap. 8, 9 und 10 die Ergebnisse aus der Studie in überzeugender Weise an die theoretischen Ausführungen in den früheren Kapiteln zurück. Damit erweist sich auch Buschs Forschungsansatz als valide und funktional.
Im abschließenden Kap. 11 (Teil IV: Synthese, Fazit und Ausblick) werden die Befunde zunächst kompakt zusammengefasst und diskutiert. Es folgt eine (inter-)disziplinäre Verortung der Ergebnisse, die nochmals aufzeigt, welche vielfachen Anschlussmöglichkeiten sich für die Soziolinguistik, Schriftlinguistik und Linguistische Onlineforschung bieten und in welche Richtung(en) sich künftige Forschung entwickeln kann. Dieses Kapitel bildet in aller Kürze ab, was die ganze Arbeit auszeichnet: Reflektiertheit, Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit, Relevanz.
Gesamtbetrachtung
Busch bestätigt in seiner Untersuchung in einem gewissen Sinne erneut, was schon in früheren Untersuchungen (z. B. Dürscheid, Wagner & Brommer 2010, Plester, Wood & Bell 2008) festgestellt wurde, nämlich, dass Jugendliche allen kulturpessimistischen Diskursen zum Trotz durchaus kontextsensitiv schreiben. Die Frage nach möglichen Interferenzen zwischen verschiedenen Schreibanlässen ergänzt er um die Ebene der metapragmatischen Reflexion der Jugendlichen, in denen sich je nach Kontext des Schreibens unterschiedlich stark wahrgenommene Orthographie-Obligationen abzeichnen. Damit verfolgt er in seiner Arbeit einen innovativen Forschungsansatz, indem er die drei Analysedimensionen – graphisch-segmentale Formen, sozio-situative Kontexte sowie metapragmatische Ideologien – als Eckpunkte für die Bestimmung digitaler Schreibregister festlegt, wobei sich diese drei Dimensionen gegenseitig bedingen (veranschaulicht wird dies in der Abb. auf S. 156 und anhand zahlreicher Beispiele bei der Ergebnisdarstellung). Auf diese Weise geht Busch meines Erachtens einen Schritt weiter als die meisten Untersuchungen zu Schreibregistern, weil er nicht nur bestimmte sprachliche Formen und ihre Distribution untersucht, sondern sie gleichzeitig kontextuell einbettet (was in anderen Arbeiten schon auch gemacht wurde) und sie darüber hinaus anhand der Interviews mit den SchülerInnen auch noch in Bezug auf die darin sich widerspiegelnden bzw. damit reproduzierten Ideologien systematisch zu erfassen versucht. Folglich fasst er auch den Registerbegriff neu, indem er dessen indexikalische Ordnungen (gemäß Silverstein) miteinbezieht und die sprachlichen Formen auch auf dieser höheren Ebene reflektiert und damit letzten Endes auch ihrer Komplexität gerecht wird. Damit setzt die Arbeit neue Maßstäbe nicht nur für die Medienlinguistik.
Zum positiven Gesamteindruck trägt nicht zuletzt bei, dass der Text stilistisch ansprechend und gut verständlich geschrieben ist – bei einem solch anspruchsvollen Unterfangen keine Selbstverständlichkeit. Busch ist mit seiner Arbeit ein großer Wurf gelungen.
Literatur
Androutsopoulos, Jannis. 2018. Digitale Interpunktion: Stilistische Ressourcen und soziolinguistischer Wandel in der informellen digitalen Schriftlichkeit von Jugendlichen. In: Arne Ziegler (Hg.): Jugendsprachen. Aktuelle Perspektiven internationaler Forschung. Berlin u. a.: de Gruyter, 721–748.Search in Google Scholar
Dürscheid, Christa & Sarah Brommer. 2022. „Wir sind hier nicht bei Facebook.“ Schreibpraktiken in der digitalen Kommunikation. In: Der Deutschunterricht: Richtiges und gutes Deutsch 4/2022, 18–26.Search in Google Scholar
Dürscheid, Christa, Franc Wagner & Sarah Brommer. 2010. Wie Jugendliche schreiben. Schreibkompetenz und neue Medien. Mit einem Beitrag von Saskia Waibel (Linguistik – Impulse & Tendenzen 41). Berlin/New York: de Gruyter.10.1515/9783110236125Search in Google Scholar
Plester, Beverly, Clare Wood & Victoria Bell. 2008. Txt msg n school literacy: does texting and knowledge of text abbreviations adversely affect children’s literacy attainment? In: Literacy 42/3, 137–144.Search in Google Scholar
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