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BY 4.0 license Open Access Published online by De Gruyter April 14, 2023

Simon Kasper. 2020. Der Mensch und seine Grammatik. Eine historische Korpusstudie in anthropologischer Absicht. Tübingen: Narr Francke Attempto. 349 S.

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Rezensierte Publikation:

Simon Kasper. 2020. Der Mensch und seine Grammatik. Eine historische Korpusstudie in anthropologischer Absicht. Tübingen: Narr Francke Attempto. 349 S.


Thema, Grundannahmen, Thesen und Ziele

Das Buch von Simon Kasper thematisiert grammatisch mehrdeutige Strukturen des Deutschen vor dem Hintergrund der Frage, wie solche Strukturen erfolgreich verstanden werden können und welche Aspekte in ihrer „Ausdeutbarkeit“ (S. 18) eine wesentliche Rolle spielen. Ziel ist es dabei, eine Antwort zu liefern, die sich nur auf grammatische (morphosyntaktische) und außergrammatische Merkmale (vor allem Belebtheit) der in Frage stehenden Äußerungen stützt und auf andere Wissensbestandteile wie etwa das enzyklopädische Wissen verzichten kann (S. 26f.). Das Ergebnis ist ein Modell des Verstehens, das strukturlinguistische und anthropologische Erkenntnisse kombiniert und dabei die These vertritt, „dass wir grammatisch mehrdeutige Äußerungen erfolgreich interpretieren können, weil wir sie in wichtigen Aspekten auf die gleiche Weise wie andere, nichtsprachliche Ereignisse auch interpretieren“ (S. 29). Was diese wichtigen Aspekte angeht, so handelt es sich bei der Suche nach dem richtigen Verstehen grammatisch mehrdeutiger Strukturen im Grunde um die Ausbuchstabierung der Frage „Was steht womit in welcher Beziehung?“ in einer gegebenen Äußerung. Diese zentrale und somit Struktur und Methodik der vorgelegten Arbeit bestimmende komplexe Fragestellung zielt darauf ab, die Ableitung der Rollenverteilung und damit der Zuweisung syntaktischer Funktionen in Äußerungen zu erklären.

Im Wesentlichen geht es also um die Frage nach der Zuordnung semantischer Rollen (und syntaktischer Funktionen) in Argumentstrukturen von Verbalkonstruktionen durch den Leser/Hörer. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei vor allem Strukturen mit Handlungsverben, d. h. solche mit (typischerweise) zwei bis drei Komplementen (syntaktisch: Subjekt, direktes und indirektes Objekt). Genau bei solchen, für einzelne Rollen wie Agens und Patiens gleichzeitig mehrere Ausdrücke bietenden Konstellationen stellt sich die Frage, wie der Leser/Hörer die Rollen interpretativ erfolgreich an die einzelnen sprachlichen Ausdrücke verteilt, vor allem wenn diese Ausdrücke morphosyntaktisch („eigenstrukturell“) nicht eindeutig sind. Woher weiß man also in einem Satz mit nehmen wie etwa „Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich naa.“ (Hochalemannisch, S. 15), wer nimmt und wer genommen wird? Ist si Agens und de Jünger Patiens oder umgekehrt? Die Formen si und de Jünger sind morphologisch nicht eindeutig, sodass andere Faktoren eine Rolle spielen müssen, wenn über Agens und Patiens entschieden werden soll. Die Antwort des Autors findet sich in einem Blick auf außergrammatische Hinweise, d. h. primär Belebtheit und sekundär (nicht syntaktische, aber syntaktisierbare) Reihenfolge. Gekoppelt an diese Grundsatzentscheidung ist in einem zweiten Schritt die Frage nach der Rolle der Morphosyntax, wenn sie (über Kasus und Kongruenz) eindeutige Instruktionen gibt und deshalb im Zusammenhang mit den außergrammatischen Faktoren bewertet werden muss. Laut Kasper ist hier eine Bestätigungs- bzw. Kontrollfunktion von Grammatik („Stattgabe“ bzw. „Veto“) anzunehmen.

Das von Kasper vorgeschlagene Modell des Verstehens setzt sich somit – mit Bezug auf die untersuchten Strukturtypen – aus einer grammatisch und einer außergrammatisch motivierten Komponente zusammen. Dadurch ergibt sich eine mögliche Verbindung linguistischen und außerlinguistischen Wissens beim Verstehen von Äußerungen. Genau an diesen beiden Bestandteilen von Verstehensprozessen orientiert sich der Gesamtaufbau der Arbeit. Nach einer Bestimmung des Begriffs Verstehen (Kapitel 1) wird zunächst auf die Morphosyntax („Eigenstruktur“) eingegangen (Kapitel 2). Auf diesen Großabschnitt folgen die Ausführungen zu den außergrammatischen Aspekten (Kapitel 3), um die beiden Kernbereiche am Ende in einer anthropologisch motivierten Skizze zusammenzuführen (Kapitel 4). Die Ausführungen stützen sich empirisch auf Bibelübersetzungen aus unterschiedlichen Varietäten des Deutschen (Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch, Neuhochalemannisch, Neunordniederdeutsch) sowie des Englischen (Altenglisch und Mittelenglisch, zum Überblick s. S. 30, zur Begründung Kapitel 2.5, zu einer detaillierten Darstellung der Auswahl konkreter Satzstrukturen S. 120). Die Arbeit ist insgesamt stark geprägt von der Annahme, dass Vorstellungen als Simulationen von Wahrnehmungen und Aktivitäten in sprachliche Äußerungen „gegossen“ werden, wobei Sprache (z. B. Agensrolle und Reihenfolge) diese Wahrnehmungen und Aktivitäten ikonisch abbildet (S. 275).

Inhalt

Im Einleitungskapitel führt der Autor den Leser an die Problematik des Verstehens heran, indem er anhand eines hochalemannischen Beispiels (s. oben) und eines Beleges aus dem Englischen (S. 16) kurz darauf eingeht, was es bedeutet, wenn Leser mit syntaktisch und morphologisch mehrdeutigen Ausdrücken konfrontiert werden. An dieser Stelle geht es ihm vor allem darum, zu zeigen, dass Verstehen eine Art Deutungsarbeit mit unterschiedlichen Facetten darstellt. Diese unterschiedlichen Facetten lassen sich dabei gut auf W-Fragen (zentral: Was steht womit in welcher Beziehung in einer Äußerung?) abbilden (S. 26ff.), die das Vorgehen vorstrukturieren und die zu behandelnden Teilaspekte des Verstehens einführen.

Im ersten Großkapitel (Kapitel 2) widmet sich der Autor den Leistungen und Grenzen der morphosyntaktischen Gestaltung sprachlicher Ausdrücke. Zunächst weist Kasper darauf hin, dass im Hintergrund sprachlicher Äußerungen das Spannungsverhältnis von Privatem und Öffentlichem steht, indem private Vorstellungen (sprachlich) über Entäußerung wahrnehmbar und damit öffentlich gemacht werden (S. 40), um dann das Öffentliche über die Deutungsarbeit des Lesers in das Private zurückzuführen, damit Verstehen zustande kommt. Dies ist ein genuin kooperativ-kommunikativer Akt (S. 48). Bei der Überführung des Privaten ins Öffentliche stehen vor allem Treue und Sparsamkeit Pate (S. 42ff.), wobei auch so genannte symbolische Auslagerungen von Vorstellungen in nominale und verbale Strukturen, die auf Dinge vs. Ereignisse (Eventualitäten, S. 44) zurückzuführen sind, eine wesentliche (einschränkende) Rolle bei der sprachlichen Gestaltung (Entäußerung) von Vorstellungen spielen. Vor diesem Hintergrund wird die sprachliche Eigenstruktur (d. h. in diesem Fall die Morphosyntax) zunächst nach unterschiedlichen Ebenen entlang des Was und Wie modelliert und dann Schritt für Schritt erläutert. Im Grunde werden so Autosemantisches, Synsemantisches und Textgrammatisches zusammengeführt und im Verhältnis zueinander verortet (Abb. 2, S. 49). Die einzelnen Bausteine sprachlicher Ausdrücke sind dabei als Instruktionen zu verstehen, die dem Aufbau von Vorstellungen und dem praktischen Umgang mit ihnen dienen (ebd., s. Kasper 2015).

Ausgehend von dem Beispiel „Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich“ stellt der Autor in Kapitel 2.2 die einzelnen grammatischen Merkmale der relevanten verbalen und nominalen Ausdrücke dar. So wird u. a. auf die Ergänzungsbedürftigkeit von nehmen (Valenz) sowie die Kasus- und Genusmerkmale bei nominalen Wörtern wie der, die, Mutter und Jünger hingewiesen. Traditionell gesprochen werden einerseits verbale und nominale Kategorisierungen und ihre Ausprägungen im gegebenen Beispiel ausführlich präsentiert, andererseits wird darauf eingegangen, welche syntagmatischen Relationen (Kongruenz und Rektion) zwischen diesen Ausdrücken bestehen. Durch die ausführliche Besprechung der entsprechenden Kategorien und Relationen wird dem Leser die grammatische Komplexität der Deutung sprachlicher Ausdrücke gezeigt (Abb. 3–6, S. 54ff.). Zusammenfassend ergibt sich ein System aus drei einschlägigen Komponenten der Eigenstruktur: Wortkategorien, Kasus- und Kongruenzformative sowie Reihenfolge (S. 66). Kapitel 2.3 verfeinert bzw. modifiziert den „klaren“ Blick auf Morphosyntax, indem über einschlägige Phänomene die Grenzen dieser grammatischen Mittel aufgezeigt werden. Eingeführt wird dieser Aspekt anhand eines englischen Beispiels (S. 69). Ausführlich besprochen wird dann die Thematik ausgehend vom bereits erwähnten hochalemannischen Beleg, der (grammatische) Mehrdeutigkeit zeigt, die im Wesentlichen auf kasusbezogene Synkretismen (Nominativ und Akkusativ) zurückzuführen ist (S. 73).

Nach der Besprechung dieses Startpunktes wird auf zwei Phänomene eingegangen: Pronomina und Ellipsen („Nullstellen“). Mit Bezug auf Pronomina geht es dabei sowohl um die inhaltsbezogenen Schwierigkeiten (Pronomeninhalt) als auch um die Klarstellung syntaktischer Verhältnisse bei Pronomina (S. 79). An dieser Stelle gesellen sich zu den bisherigen Überlegungen wichtige diachrone Aspekte (Syntaktifizierung und Verschriftlichung, s. 2.3.3). Damit ergibt sich die synchron wie sprachwandeltheoretisch wohlbekannte und relevante Frage nach dem Verhältnis von Morphologie (vor allem Kasusmarkierung) und Syntax (Reihenfolge), auch in sprachvergleichender Perspektive (Deutsch und Englisch). In Kapitel 2.4.2 werden die berühmtesten Positionen (Statuszuwachs von Syntax erzwingt Statusverlust von Morphologie oder – umgekehrt – Verlust an morphologisch eindeutiger Markierung führt zum Ausbau syntaktischer Reihenfolgeregularitäten) dargestellt und kritisch reflektiert mit Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit („cue validity“) und hinsichtlich der Frage, ob und wie sie in einer gegebenen Sprachvarietät verfügbar („applicable“) sind.

Die Darstellung der dynamischen (vor allem sprachhistorischen) Aspekte der Verfügbarkeit und Ausdrucksstärke von Morphologie und Syntax sowie der untersuchten Sprachstufen führen insgesamt zu dem ersten empirischen Teil der Arbeit (Kapitel 2.8), in dem die eingeführten morphologischen und syntaktischen Merkmale analysiert und ausgewertet werden (zu Details s. Tab. 2 und 3, S. 118f.). Die Ergebnisse der morphologischen Analyse zeigen bei nicht-elliptischer Realisierung einen Zuwachs mehrdeutiger Fälle in jüngeren Sprachstufen gegenüber älteren sowie im neuhochdeutschen Standard gegenüber den mitberücksichtigten Dialekten. Bei Ellipsen ist dies umgekehrt: mehr Mehrdeutigkeit in älteren Sprachstufen (S. 134), was auch mit der Zunahme an Restriktionen in der neuhochdeutschen Schriftsprache (Hennig 2010) zusammenhängt. Auf die Darstellung der morphologischen Verhältnisse bezüglich Mehrdeutigkeit folgen die entsprechenden Analysen zu der Reihenfolge (Kapitel 2.8.3). Hier wird dann zusätzlich nach Wortkategorien (Nomen, Pronomen) und Verbposition differenziert. Zentral ist dabei die Frage, ob eine konkrete Satzgliedbeziehung (d. h. diejenige, die verstanden werden soll) mit bestimmten Wortartenoberklassen und einer bestimmten Verbposition auftritt bzw. ob eine Satzgliedbeziehung (bspw. die zwischen Subjekt und Objekt oder zwei Objekten) an eine oder zwei Reihenfolgeoptionen gekoppelt ist. Ist die Möglichkeit beider Reihenfolgeoptionen gegeben, so gilt Reihenfolge als nicht instruktiv, da unzuverlässig. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass „[d]ie Anteile der grammatisch mehrdeutigen Beziehungen mitunter beträchtlich [sind], insbesondere im Mittelenglischen und den modernen Dialekten“ (S. 171). In neueren Sprachstufen sind integrative Strukturen deutlich instruktiver, was wohl keine Überraschung ist. Ausgehend von den Ergebnissen stellt Kasper fest (S. 175), dass die bekannten Thesen über die Kompensationsleistung der einzelnen grammatischen Bereiche gegenüber den anderen nicht aussagekräftig genug sind. Sie sind in einer zu hohen Anzahl mehrdeutig, sodass andere Faktoren, nämlich außergrammatische, mitberücksichtigt werden müssen, wenn wir davon ausgehen, dass grammatisch grundsätzlich mehrdeutige Ausdrücke – mit Bezug auf die Verteilung der entsprechenden Partizipantenrollen – dennoch richtig verstanden werden können.

Kapitel 3 behandelt die außergrammatischen Aspekte und ihren Beitrag zum Verstehen grammatisch mehrdeutiger sprachlicher Ausdrücke. Es werden grundsätzlich zwei solche Merkmale diskutiert: Belebtheit (3.1) und Akzessibilität (3.2), beides in verschiedenen Perspektiven. Es wird dabei davon ausgegangen, dass höhere Belebtheit mit Subjekt bzw. Agens (gegenüber Objekten) sowie mit direktem Objekt bzw. Rezipient (gegenüber Patiens) korreliert (S. 191). Analog sind die Verhältnisse mit Bezug auf Akzessibilität (S. 198). Die Analysen in Kapitel 3.4 führen zu dem Ergebnis, dass bei grammatischer Mehrdeutigkeit Belebtheit als am zuverlässigsten ausgewiesen und damit als zentral im Bereich außergrammatischer Hinweise angesehen werden kann (S. 213f.). Allerdings bleiben immer noch relativ viele Belege (S. 216), die nicht eindeutig interpretiert werden können, weil weder die morphosyntaktischen noch die belebtheitsbezogenen Merkmale klare Hinweise liefern. Aus diesem Grund ergänzt der Autor das Bild durch den Aspekt der Reihenfolge unter außergrammatischem Aspekt, d. h. in einer Version, in der Wortstellung noch nicht grammatikalisiert und damit nicht fest an syntaktische Funktionen (wie es etwa im modernen Englisch in der ausgeprägtesten Form zu sehen ist) gebunden ist. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass das zuerst Ausgedrückte interpretativ in dieselbe Richtung zeigt wie höhere Belebtheit (S. 218). Damit ist die Kombination aus (als primär geltender) Belebtheit und (sekundärer, nicht syntaktifizierter) Reihenfolge ein sehr zuverlässiger Instruktor in Verstehensprozessen (S. 223). Diese Schlussfolgerung führt zu der Frage, warum Belebtheit denn so stark instruktiv sein kann. Zur Beantwortung dieser Frage wird auf den Begriff der Bedeutsamkeit in anthropologischem Rahmen zurückgegriffen.

Der letzte Abschnitt der Arbeit geht vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse (Morphosyntax, Belebtheit) der Frage nach, warum dem Merkmal Belebtheit beim Verstehen grammatisch mehrdeutiger Äußerungen eine besondere Rolle zukommt bzw. vom Leser/Hörer beigemessen wird und wie dabei grammatische Markierung zuverlässig bleibt. Mit Bezug auf Belebtheit heißt dies konkret, dass die Frage beantwortet werden soll, warum die als kanonisch gesetzten Korrelationen (so bspw. die zwischen höherer Belebtheit und Agens) erwartbar sind. Die in der Literatur oft angeführte Lösung mithilfe von Frequenz stellt nach Kasper eine „zu flache“, weil zirkuläre, Erklärung dar (S. 236), sodass eine sich an Qualität statt Quantität orientierende Lösung gefunden werden muss. Dieser Weg führt über sprachtypologische und sprachverstehensbezogene Erkenntnisse (S. 238ff.) ins Nicht-Sprachliche. In diesem Zusammenhang wird bspw. der (semantische) Begriff Agens zu „humanen Ursachen“ (S. 241) in Beziehung gesetzt. Entscheidend ist dabei aus der Perspektive des Lesers, der Äußerungen (aus)deutet, die spezifische Qualität von Belebtheit, die in ihrer Bedeutsamkeit besteht (S. 243). Diese Bedeutsamkeit lässt sich an zwei Faktoren festmachen: Salienz und Pertinenz (S. 245f.). Beide sind zunächst im nicht-sprachlichen Bereich anzusiedeln und sind an Handlungspläne von Menschen gekoppelt. Im Grunde geht es dabei darum, dass Menschen sich Ziele setzen, die sie über Handlungen realisieren. Dabei kommt Handlungsplänen mit entsprechenden Bestandteilen eine wichtige Rolle zu (Beispiel Kaffee machen, S. 246). Die für den Zweck relevanten Teile des Handlungsplans werden pertinent genannt; diejenigen Gegenstände und Merkmale, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken und uns in diesem Sinn von unserem Handlungsplan ablenken können (Unerwartetes), sind salient. Diese Aspekte fügt Kasper in einem sensomotorisch basierten Verhaltenskreis zusammen (S. 249). An dieser Stelle werden unterschiedliche Aspekte von Vorstellungen, Aktivitäten, Handlungen sowie die relevanten Wechselbeziehungen zwischen ihnen angesprochen. Frequenz wird vor diesem Hintergrund eine Rolle zugewiesen, die in einem Zusammenhang mit Effizienz steht (S. 259).

Am Ende der Modellierung eines Handlungskreises auf der Basis von Salienz und Pertinenz, ergänzt durch (frequenzbasierte) Effizienz, ergibt sich ein Bild, in dem verantwortliche Ursachen als zentral ausgewiesen werden (S. 264f.). Das Ziel der anthropologisch motivierten Modellierung ist insgesamt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass rein linguistische Erklärungsansätze „das Innenleben der Sprachbenutzerinnen“ unspezifiziert lassen (S. 270). Als besonders einschlägig gelten dabei Merkmale des Online-Sprachverstehens („Agens zuerst“) sowie Schlüsse von humanen Ursachen auf verantwortliche Agenten (Kontrolle). Belebtheit ist dabei im Sinne des postulierten Modells salient, „die im Dienste vitaler Funktionen instinktiv als Anzeiger von Agentivität behandelt [wird]“ (S. 270f.). Im Anschluss an die Modellierung des Handlungkreises kehrt Kasper zur sprachlichen Eigenstruktur zurück und bespricht ihre „Interventionsleistung“, die im Grunde darin besteht, instinktiv Durchlaufenes in sukzessiv verarbeiteten sprachlichen Äußerungen zu widerlegen bzw. zu modifizieren („Veto“) oder zu bestätigen („Stattgabe“). Durch diese doppelte Funktionalität erweisen sich (den außergrammatischen Aspekten eigentlich nachgeschaltete) eigenstrukturelle Hinweise als besonders zuverlässig („Gewissheit“, S. 287). Die Zusammenführung dieses Aspektes findet in Abbildung 100 (S. 286) statt. Es ergibt sich dabei eine Art Hierarchie zugunsten außersprachlicher Hinweise: Die „ererbte Bedeutsamkeit der außergrammatischen Hinweise“ (S. 289) spielt eine zentrale Rolle. Belebtheit (primär) und nicht syntaktifizierte Reihenfolge (sekundär) sind „vor-angenommen und kommen damit vor den eigenstrukturellen Filtern“ (ebd.). Die erlernten grammatischen Hinweise besitzen dabei eine höhere instruktive Verbindlichkeit. In dieser Schlussfolgerung fusionieren die sprachlichen („erlernt“) und nicht-sprachlichen („ererbt“) Aspekte der theoretischen Grundlegung und der empirischen Analysen.

Diskussionspunkte

Mit seinem Buch verfolgt Simon Kasper das Ziel, eine „lebensweltnahe Skizze“ über Grammatik, ihre Interpretation und den Konnex zwischen Linguistik und Anthropologie zu entwerfen. Dabei wird im Vorwort (S. 11) darauf hingewiesen, dass bei der Verfolgung dieses Ziels manche Bezüge zur Forschung nicht explizit gemacht werden. „Das betrifft auch den weitgehenden Verzicht auf eine Terminologie, die an Einzeltheorien gebunden ist, aber fürs Ganze versagt“ (S. 11). In der Tat ist es auffällig, dass für zentrale grammatikbezogene Abschnitte einschlägige Fachausdrücke nicht ausführlich besprochen und kontextualisiert werden. Beispielsweise werden in Kapitel 2.2.2 zunächst die relevanten lexikalischen und grammatischen Aspekte besprochen, mit einem besonderen Fokus auf Formativen und syntagmatischen bzw. syntaktischen Relationen. Im Grunde ergeben sich dabei die entsprechenden Analysen sowie Abbildungen unter Rückgriff auf die einschlägigen Erkenntnisse über semantische und syntaktische Valenz, Rektion und Kongruenz, ohne dass diese Termini ausführlich dargestellt werden. In diesem Abschnitt werden morphologisch relevante Aspekte teilweise außer Acht gelassen, so bspw. generell das Phänomen des Synkretismus und damit im Zusammenhang die Rolle von Synkretismusfeldern bzw. deren Herleitung (Wiese 1999). Dabei ist dies keine rein terminologische Angelegenheit, denn nimmt man die linguistische (d. h. sprachinterne) Motivierung von (für die vorliegende Arbeit relevanten) Synkretismen ernst, so erübrigt sich evtl. der Rückgriff auf nicht-linguistische Begriffe (wie bspw. „Competion Model“ und „cue validity“, S. 98). Was die Termini bzw. deren Grundlage angeht, so lassen sich weiterhin Ellipse bzw. Analepse anführen, wobei Letzteres besonders unter Berücksichtigung von Pronomina und Nullstellen einleuchtend gewesen wäre. Zudem ließe sich das Phänomen Grammatikalisierung anführen, das vor allem auch wegen der Rolle von Belebtheit (und deren semantischer Relevanz in Sprachwandel) aus meiner Sicht eine höhere Aufmerksamkeit verdient hätte (s. bspw. S. 102 und generell die Ausführungen zu Diachronie und Grammatikwandel). Es geht dabei nicht darum, dass die Idee des Autors, auf außerlinguistische Theoreme zurückzugreifen, nicht sinnvoll oder nicht einleuchtend wäre. Es stellt sich aber die Frage, warum das besagte „Versagen“ nicht ausführlicher begründet und gegenüber anderen (hier bevorzugten, bspw. anthropologischen, kognitionswissenschaftlichen etc.) Herangehensweisen nicht detailliert abgewogen wurde. Damit im Zusammenhang sei auf Musterwissen, Textsortenwissen und Idiomatik (Feilke 1996) hingewiesen, die wohl allesamt das Verstehen leitendes sprachliches, aber kein enzyklopädisches Wissen darstellen.

Im Zusammenhang mit der Terminologie und den dadurch mitgelieferten Inhalten lässt sich sagen, dass sich der Autor einer metaphorisch ausdrucksstarken Sprache bedient, die u. a. durch Begriffe wie Treue, Sparsamkeit, Übertragungsrate, Erfolgsaussichten (S. 42ff.) etc. gekennzeichnet ist (s. auch Erdung in 2.2.2). Hinzu kommen kognitionswissenschaftliche und anthropologische Fachausdrücke, vgl. u. a. cue validity, (nicht phonologisch gemeinte) Salienz, Pertinenz, Verlustaversion (S. 267), Verhaltensökonomie (S. 267), Effizienz (S. 259), Leib (S. 253) und motorischer Wirkapparat (S. 249). Für den Rezensenten stellt sich hier die Frage, ob denn nicht auch solche Begriffe an Einzeltheorien gebunden sind und wie es dann um ihre Zuverlässigkeit für das (zugegebenermaßen aus sprachwissenschaftlicher Sicht beobachtete) sprachliche Ganze bestellt ist. So erscheinen mir bspw. die (nicht-linguistisch hergeleiteten) pertinenten Merkmale von Handlungsplänen ganz analog zu linguistisch ableitbaren, (semantisch und syntaktisch) konstitutiven Slots in Mustern/Konstruktionen. Insgesamt hat der Rezensent an einigen Stellen, an denen nicht-sprachliche Faktoren eingeführt werden, den Eindruck, dass bestimmte sprachliche Wissensbestandteile (Idiomatik, Musterwissen, Textwissen) bzw. deren eventuelle Nicht-Adäquatheit bei der Erklärung und Ableitung erfolgreicher Deutungen bei grammatisch mehrdeutigen Äußerungen nicht ausführlich begründet wurden.

Schlussbemerkungen und Würdigung

Obwohl der Autor im Vorwort seines Buches darauf hinweist, dass Leser mit unterschiedlichen Interessen einzelne Abschnitte (sozusagen je nach linguistischem Geschmack) lesen können, würde der Rezensent jedem Leser empfehlen, auf jeden Fall das ganze Buch, und zwar in der vorgegebenen Kapitelreihenfolge, zu lesen. Es ist nämlich eine sehr spannende Reise durch verschiedene Aspekte des Deutens (Grammatik, Semantik, Sprachvergleich, Diachronie, Anthropologie), die in einer transparent und leserfreundlich gestalteten Gesamtstruktur präsentiert werden. Die verwendeten Beispiele samt Erläuterungen sind sehr anschaulich und führen den Leser durch die verschiedenen Bereiche derart, dass man immer das Gefühl hat, mit allen nötigen Informationen ausgestattet zu sein, um dann am Ende jedes einzelnen inhaltlichen Abschnitts damit konfrontiert zu werden, dass man doch noch weiterlesen muss, weil die angebotenen Lösungen noch nicht ausreichen. Dies macht die Lektüre informativ und gleichzeitig äußerst spannend. Simon Kasper legt mit seinem Buch eine den Leser theoretisch herausfordernde und gleichzeitig beeindruckende Arbeit vor, die linguistische und nicht-linguistische Aspekte des Deutens und Verstehens sprachlicher Ausdrücke auf eine in jeder Hinsicht kohärente Weise präsentiert, dabei die Denkweise des Autors klar herausstellt und somit zur Diskussion einlädt. Die Arbeit ist einerseits inhaltlich sehr anspruchsvoll und spannend, andererseits stilistisch und unter Leserfreundlichkeitsaspekten hervorragend geschrieben. Insgesamt ein Muss für jeden, der an Grammatik im Kontext nicht-grammatischer Perspektiven interessiert ist.

Literatur

Hennig, Mathilde. 2010. Aggregative Koordinationsellipsen im Neuhochdeutschen. In: Arne Ziegler (Hg.): Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven. Berlin, New York: De Gruyter, 937–963.10.1515/9783110219944.937Search in Google Scholar

Feilke, Helmuth. 1996. Sprache als soziale Gestalt: Ausdruck, Prägung und die Ordnung sprachlicher Typik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Kasper, Simon. 2015. Instruction Grammar: from perception via grammar to action. Berlin, New York: De Gruyter Mouton.10.1515/9783110430158Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2023-04-14

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Downloaded on 3.6.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2023-2003/html
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