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Licensed Unlicensed Requires Authentication Published by Akademie Verlag 2012

11 Tropen, Bild und Text

From the book Arbeitsbuch Lyrik

  • Kristin Felsner , Holger Helbig and Therese Manz

Abstract

Stephan Hermlin, Nike von Samothrake

Vor uns sind Stufen endlos zu beschreiten.

Wie dieser Marmor unsern Fuß verbraucht!

Wir fühlen Stein uns. Wir vergaßen Weiten

Und Licht in jene weiße Nacht getaucht.

Was stößt uns höher? Unsre Knechtschaft lastet,

Und unser Auge folgt nur diesem Fuß,

Der blutend Marmor tritt. Der niemals rastet,

Der uns erniedrigt, weil er steigen muß.

Nur einmal hebt sich unser Blick: Bereitet

Sich Ungeheures uns? Ist das der Sinn?

Dies also ist es! … Unser Tiefstes spreitet

In einem Flügelpaar sich maßlos hin.

Der Treppe großer Schwung bricht in uns ein.

Die Göttin stürmt: Der Sieg wird unser sein!

(Louvre, Paris 1942)

Wem in antiken Mythen die Siegesgöttin Nike erscheint, dem ist der Sieg gewiss. In ihrer Gestalt wird in Geschichten, Dramen und in der bildenden Kunst ein abstrakter Begriff, der Sieg, zum Bild einer menschlichen Figur gemacht. Es handelt sich um eine Personifikation. Stephan Hermlins Sonett beschreibt jedoch nicht die Begegnung mit einer Göttin, sondern die mit einer Skulptur. Es ist ein Bildgedicht, das ohne Kenntnis des beschriebenen Kunstwerks und seiner Umgebung nicht zu verstehen ist. In → KAPITEL 11.4 wird es interpretiert.

Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/9783050059129.191/html
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