Abstract
Stephan Hermlin, Nike von Samothrake
Vor uns sind Stufen endlos zu beschreiten.
Wie dieser Marmor unsern Fuß verbraucht!
Wir fühlen Stein uns. Wir vergaßen Weiten
Und Licht in jene weiße Nacht getaucht.
Was stößt uns höher? Unsre Knechtschaft lastet,
Und unser Auge folgt nur diesem Fuß,
Der blutend Marmor tritt. Der niemals rastet,
Der uns erniedrigt, weil er steigen muß.
Nur einmal hebt sich unser Blick: Bereitet
Sich Ungeheures uns? Ist das der Sinn?
Dies also ist es! … Unser Tiefstes spreitet
In einem Flügelpaar sich maßlos hin.
Der Treppe großer Schwung bricht in uns ein.
Die Göttin stürmt: Der Sieg wird unser sein!
(Louvre, Paris 1942)
Wem in antiken Mythen die Siegesgöttin Nike erscheint, dem ist der Sieg gewiss. In ihrer Gestalt wird in Geschichten, Dramen und in der bildenden Kunst ein abstrakter Begriff, der Sieg, zum Bild einer menschlichen Figur gemacht. Es handelt sich um eine Personifikation. Stephan Hermlins Sonett beschreibt jedoch nicht die Begegnung mit einer Göttin, sondern die mit einer Skulptur. Es ist ein Bildgedicht, das ohne Kenntnis des beschriebenen Kunstwerks und seiner Umgebung nicht zu verstehen ist. In → KAPITEL 11.4 wird es interpretiert.