Zusammenfassung
Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ zu sprechen, gehört zu den etablierten Topoi der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Während auf den ersten Blick eindeutig zu sein scheint, was damit ausgesagt werden soll, nämlich das kalendarisch gleichzeitige Vorhandensein von Phänomenen, die unterschiedlichen historischen Entwicklungsstufen entstammen, offenbart ein zweiter Blick grundlegende Probleme: Es stellt sich die Frage, aufgrund welcher normativen Vorgabe die Entscheidung getroffen werden kann, einen historischen Tatbestand als gleichzeitig beziehungsweise ungleichzeitig zu klassifizieren. Einem Überblick über die aktuelle Verwendung des Topos von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft folgt eine Untersuchung seiner wissenschaftsgeschichtlichen Wurzeln. Diese Einblicke offenbaren, dass dieser Topos als ‚Chronozentrismus‘ bezeichnet werden muss, das heißt als einseitige Beurteilung differierender Zeitmodelle auf der Grundlage von Vorstellungen, wie sie in der westlichen Moderne entwickelt wurden. Als Alternative wird eine Berücksichtigung pluraler Gleichzeitigkeiten vorgeschlagen – nicht nur, um die Berücksichtigung anderer Zeitmodelle zu ermöglichen, sondern um dadurch neue Forschungsperspektiven für eine Geschichte der Zeit(en) zu eröffnen.
Abstract
It is an established feature in German historiography to talk about the ‚simultaneity of the non-simultaneous‘. At first sight the meaning of this formula seems to be obvious: the simultaneous calendrical presence of phenomena belonging to different historical stages of development. At a second glance this topos reveals some grave problems. It is more than difficult to name the normative basis on which the decision can be made to classify a historical fact as simultaneous or non-simultaneous. After an overview of the actual use of the topos of the ‚simultaneity of the non-simultaneous‘ in German-speaking historiography this article gives an insight into the historical roots of the topos. These insights reveal the topos as fundamentally ‚chronocentric‘: it is based on the partial judgment of different models of timing from the point of view of western modernity. As an alternative the model of a plurality of simultaneities will be discussed. Thus, not only different models of timing can be taken into account but new perspectives for a history of time(s) become visible.
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