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Publicly Available Published by De Gruyter March 14, 2018

Russische Marinedoktrin und maritime Rüstung: Anspruch und Realität

  • Hannes Adomeit EMAIL logo

Abbildung:

Flugzeugträger Admiral Kuznecov

Quelle: Creative Commons, Simmo Simpson

Am 20. Juli 2017 hat der russische Präsident Vladimir Putin per Dekret eine neue Marinedoktrin in Kraft gesetzt.[1] Wie die übergeordnete Militärdoktrin vom Dezember 2014 unterscheidet auch die Doktrin für die Seestreitkräfte zwischen militärischen Gefahren und Bedrohungen. Der erste Punkt auf der Liste der Gefahren sind die Ambitionen einer Reihe von Staaten, vor allem aber der „USA und ihrer Verbündeten, die hohe See, einschließlich in der Arktis, zu beherrschen und auf die überwältigende Überlegenheit ihrer Seestreitkräfte zu drängen“. Als weitere Gefährdungen, die wiederum unausgesprochen insbesondere von den USA ausgingen, werden „territoriale Ansprüche auf See- und Küstengebiete, Bemühungen, den Zugang Russlands zu maritimen Ressourcen einzuschränken, und Versuche, die russische Kontrolle über die Nördliche Seeroute zu schwächen“, genannt.

In dem Dokument werden drei mögliche spezifische Bedrohungen für Russland aufgeführt. Die erste ist eine drastische Veränderung der Sicherheitslage durch die Anwendung militärischer Gewalt in maritimen Gebieten, die für Russland von strategischem Interesse sind; die zweite ist die Stationierung von strategischen nichtnuklearen Präzisionswaffen und ballistischen Raketenabwehrsystemen in an Russland angrenzenden Territorien und maritimen Gebieten; die dritte ist der Einsatz militärischer Gewalt durch andere Staaten in einer Weise, die russische nationale Interessen bedroht.

Neben der Arktis unterstreicht die Doktrin die Bedeutung des Zugangs zu Energieressourcen im Nahen Osten und am Kaspischen Meer. Sie äußert sich besorgt über die negativen Auswirkungen regionaler Konflikte im Nahen Osten, in Südasien und Afrika für die internationale Sicherheit. Die Stärkung der Schwarzmeerflotte und der russischen Streitkräfte auf der Krim sowie die Aufrechterhaltung einer ständigen Präsenz der Marine im Mittelmeerraum werden als die wichtigsten geografischen Prioritäten für die zukünftige Entwicklung der russischen Marine hervorgehoben.

Das Ziel ist, eine ausgewogene Streitmacht aus nuklearstrategischen und konventionellen Kräften aufzubauen. So sollen die vorhandenen Stärken bei ballistischen Raketen-U-Booten ausgebaut und die konventionellen Streitkräfte modernisiert werden und eine qualitativ neue Zusammensetzung erhalten. Die Aufgaben, die diese zu erfüllen haben, sind sowohl die der Abschreckung als auch der Bereitschaft, reguläre Kriegseinsätze durchzuführen. Dazu soll die gesamte Palette möglicher Marineausrüstung beschafft werden, einschließlich Mehrzweck-U-Boote, Mehrzweck-Kampfschiffe, Marineflieger sowie Küstenverteidigungskräfte. Eine neue Generation von U-Booten mit von Luft unabhängigen Antriebssystemen soll entwickelt werden und die mit Diesel betriebenen Boote ersetzen. Die wichtigste konventionelle Bewaffnung der Marine bis 2025 soll jedoch aus hochpräzisen Langstreckenraketen bestehen, die laut Planung später durch Hyperschallraketen und verschiedene automatisierte Systeme wie unbemannte Unterwasserfahrzeuge ergänzt werden.

Insgesamt sollen Seestreitkräfte geschaffen werden, die in der Lage sein müssen, auch in entfernten Gebieten der Weltmeere zu operieren und dazu beizutragen, „russische Führungspositionen in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts zu sichern“, „die ausschließliche Dominanz der US-Marine und der USA und anderer Seemächte“ zu verhindern und weiterhin „den zweiten Platz in der Welt nach Kampfeigenschaften zu besetzen“.

Dmitry Gorenburg, Senior Research Scientist am Center for Naval Analyses (CNA) in Washington, D.C., einer Forschungsinstitution, die sich mit strategischen Fragen befasst, hat die neue Doktrin analysiert.[2] Ihr Sinn und Zweck sei, dass die Marine trotz des Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Zuwachsraten im Staatlichen Rüstungsprogramm 2018–2027 keine Abstriche erleide. Der Hintergrund ist der, dass das Programm in Höhe von 22 Billionen Rubel, umgerechnet 385 Milliarden USD, eigentlich Ende 2017 verabschiedet werden sollte. Dies ist allerdings bisher nicht erfolgt.[3] Nach dem zu urteilen, was bisher bekannt ist, erhalten die Landstreitkräfte und die Modernisierung der nuklearstrategischen Waffen Vorrang.[4] Die Doktrin ist nach Ansicht von Gorenburg daher im höchsten Grade unrealistisch. Die Produktion von Überwasserschiffen erfolge lediglich im Schneckentempo. So seien seit 1990 keine Kampfschiffe größer als eine Fregatte gebaut worden. Dies werde sich auch im kommenden Jahrzehnt nicht ändern. Die neueste Fregatte ist die Admiral Gorškov, die im November 2017 in Dienst gestellt wurde – vermutlich, um ihre Existenz der NATO vor Auge zu führen, fuhr sie nur einen Monat später von der Royal Navy begleitet durch britisches Hoheitsgewässer in der Nordsee.

Die Ausführungen über die wichtige Rolle, welche die russische Marine bei der konventionellen Abschreckung spielen könne, dienten wohl dazu, den Mangel an größeren Kampfschiffen zu verschleiern, da die eigentlichen Hauptmissionen der russischen Marine im Wesentlichen defensiv seien. Die Doktrin mache sich zwar für den Aufbau einer für Kampfaufgaben geeigneten Hochseeflotte (blue water navy) stark. In Wirklichkeit werde sie lediglich die mit unerfüllten Zieldokumenten schon ziemlich vollen Regale des russischen Verteidigungsministeriums auffüllen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland bis 2030 seine Position als zweitstärkste Marine der Welt nach den USA behaupten könne, sei gering.

Zu ähnlichen, noch radikaleren Schlussfolgerungen gelangen Michael Kofman und Norman Polmar in einer fünfteiligen Serie für die US Naval Institute Proceedings.[5] Kofman ist wie Gorenburg Research Scientist am CNA. Polmar schreibt seit 38 Jahren für die Proceedings und ist Autor von vier Ausgaben des Standard-Werks „Guide to the Soviet Navy“. Die Kernaussage der beiden Autoren besteht darin, dass die Überreste der Sowjetmarine ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges nach und nach verschwinden und eine gänzlich neue Flotte entsteht.[6] Während die sowjetische Hochseeflotte tatsächlich eine Herausforderung für die U.S. Navy darstellte, entwickeln sich die russischen Seestreitmächte zu einer green water navy, also laut Standard-Definition zu einer Marine, die in Küstennähe operiert, aber auch die Fähigkeit hat, Einsätze in Hochseebereichen durchzuführen. So sei von dem in den 1960er-Jahren groß aufgelegten Programmen für den Bau von Flugzeugträgern lediglich die Admiral Kuznecov übrig geblieben. Ähnlich verhalte es sich mit dem Programm für die Konstruktion von vier nukleargetriebenen Kreuzern der Kirov-Klasse. Nur einer davon, die Pjotr Velikij (Peter der Große), befinde sich im Dienst. Der andere, die Admiral Nachimov, werde unter großem Kostenaufwand von umgerechnet circa zwei Milliarden USD modernisiert. Zu den Großkampfschiffen seien weiterhin drei Raketenkreuzer der Slava-Klasse zu rechnen; zwei davon, die Moskva und die Varjag, wechselten sich im Kommando der russischen Flottille im östlichen Mittelmeer ab, sodass die Pazifikflotte über kein richtiges Flaggschiff verfüge; der dritte, die Marschall Ustinov, werde derzeit modernisiert und eventuell der Pazifikflotte unterstellt. Zu den Großkampfschiffen seien noch zwei Zerstörer der Sovremennyj-Klasse und acht große Anti-U-Boot-Schiffe der Udaloj-Klasse zu rechnen. Damit aber sei deren Auflistung erschöpft.

Zu den kleineren und militärisch weniger relevanten Schiffe zählten die insgesamt neun Fregatten der älteren Neustrašimyj- und der neueren Admiral-Gorškov- und Admiral-Grigorovič-Klassen und dann noch eine größere Anzahl von Korvetten, Patrouillen- und kleinere, mit Raketen bestückte Boote.

Das sei aber alles, was von der einst so mächtigen Sowjetflotte übrig geblieben sei. Ihr derzeitiger Sinn und Zweck sei es, Flagge zu zeigen und dem (hohlen) Anspruch Ausdruck zu verleihen, dass Russland eine ernst zu nehmende Seemacht sei und über eine ansehnliche Hochseeflotte verfüge.

Am besten, so urteilen die Autoren, sehe die russische Marine unter Wasser aus.[7] In der Sowjetära habe die Marine über die beeindruckende Anzahl von 400 U-Booten verfügt, die meisten davon dieselgetrieben. Heute bestehe die U-Bootflotte aus zwölf nukleargetriebenen und mit Atomraketen ausgerüsteten Booten (SSBN), acht mit Lenkraketen versehenen nukleargetriebenen Booten (SSGN), sechs Angriffs-Booten (SSN) und 20 veralteten dieselgetriebenen Booten, die zum Teil umgerüstet würden, um gegen Landziele eingesetzt werden zu können. Die auf hoher See durchgeführten Patrouillen seien bedeutend verstärkt worden.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat dies am 23. Dezember 2017 bestätigt.[8] Nach dem Ende des Kalten Kriegs habe die NATO ihre Fähigkeiten zur See vermindert, insbesondere in der Bekämpfung von U-Booten. Nun erlebe man aber, wie Russland seine Marine wieder aufrüste. Seit 2014 sei dessen Flotte um dreizehn U-Boote erweitert worden. Die russischen U-Boot-Aktivitäten seien „jetzt auf dem höchsten Niveau seit dem Kalten Krieg“. Die U-Boote operierten überall im Atlantik und „auch näher an unseren Küstenlinien“. Berichten zufolge geschehe dies auch immer häufiger in der Nähe wichtiger Datenkabel im Nordatlantik, die den Internetverkehr und andere Kommunikationsverbindungen zwischen Europa und Nordamerika sicherstellen.[9]

Eines der neuen Schiffe ist die Krasnodar. Sie wird zur Kilo-Klasse der U-Boote gerechnet. Diese verfügen zwar über einen dieselelektrischen Antrieb aus den 1980er-Jahren, doch haben russische Werften auf der Grundlage der alten Plattform ein stark verbessertes Modell gebaut. So wurde der Antrieb gedämpft und die Hülle mit einer Schicht überzogen, die Radarsignale absorbiert. Wenn das Schiff im Batteriebetrieb fährt, was mit neuen leistungsfähigen Akkus zwei bis drei Tage lang möglich ist, ist es nur sehr schwer zu orten. „Schwarzes Loch“ haben einige in der NATO das U-Boot deshalb genannt. Neben Torpedos kann es vier Marschflugkörper vom Typ „Kalibr“ aufnehmen und Ziele in bis zu 2.200 Kilometern Entfernung bekämpfen. Im Syrien-Krieg wurden sie mehrfach verwendet, abgeschossen aus dem Mittelmeer ebenso wie aus dem Kaspischen Meer, von U-Booten und von Fregatten.[10]

Polmar und Kofman führen aus, dass beim U-Bootbau die SSBN der Borej-Klasse und die SSGN Mehrzweck-U-Boote der Jasen'-Klasse ebenfalls eine hohe Priorität besäßen. Drei U-Boote der Borej-Klasse seien bereits in Dienst gestellt worden – die Jurij Dolgorukij bei der Nordflotte sowie die Aleksandr Nevskij und die Vladimir Monomach bei der Pazifikflotte; fünf weitere befänden sich im Bau und sollen 2021 fertiggestellt werden. Das modernste der Marine zur Verfügung stehende U-Boot sei die SSGN Severodvinsk der Jasen'-Klasse; sechs weitere sollen gebaut werden. Boote dieser Klasse seien fähig, feindliche U-Boote mit Torpedos und Überwasserschiffe sowie Ziele an Land mit Marschflugkörpern der Typen Kalibr SS-N-27/30 und Oniks SS-N-26 zu bekämpfen. Dies sei eine bedeutsame Tatsache, denn 2015 und 2016 wurden Marschflugkörper vom Typ Kalibr 3M-14 sowohl von Überwasserschiffen, einer Fregatte und drei Korvetten aus dem Kaspischen Meer als auch von U-Booten auf Ziele in Syrien abgefeuert.[11]

Die russische Marine verfügt selbstverständlich auch über eine Marinefliegerei, der allerdings nur ein einziger Träger zur Verfügung steht: die oben genannte Admiral Kuznecov.[12] Sie ist mit 43.000 Tonnen Wasserverdrängung im Vergleich beispielsweise zur US-amerikanischen Nimitz mit 97.000 Tonnen um mehr als die Hälfte kleiner. Das Schiff wurde auf der nordrussischen Werft Rosljakovo modernisiert, sodass es neben den herkömmlichen Su-27K/Su-33-Jagdbombern auch die modernen MiG-29K-Mehrzweck-Kampfflugzeuge aufnehmen kann. Letztere sind mit frei fallenden und gelenkten Bomben der KA-500-Serie und Laser- und Kamera-gesteuerten Raketen des Typs Ch-29 ausgerüstet, die auch Landziele punktgenau bekämpfen können. Vom Deck der Kuznecov aus kamen auch Kamov Ka-52K Katran-Angriffshubschrauber zum Einsatz in Syrien.[13]

Kofman und Polmar gehen in ihrer Untersuchung der russischen Marinefliegerei auf Behauptungen des russischen Verteidigungsministeriums ein, dass von dem Flugzeugträger mehr als 400 Kampfeinsätze auf Ziele in Syrien geflogen worden seien. Diese Angabe halten die Autoren für weit übertrieben. Es seien wohl nicht mehr als 150 gewesen. Wie auch beim Einsatz von Marschflugkörpern aus dem Kaspischen Meer gehen sie davon aus, dass der Verwendung der Admiral Kuznecov im Syrien-Krieg nicht Kosten- und Effizienzkriterien zugrunde gelegt wurden, sondern wiederum das Bemühen im Vordergrund stand, Russland als maritime Großmacht mit Interventionsfähigkeiten weit über seine Grenzen hinaus darzustellen. Kofman und Polmar zeigen sich von derartigen Ansprüchen wenig beeindruckt. Trotz gewisser Modernisierungen sei das Schiff veraltet und sein Antrieb − bestehend aus acht befeuerten Druck-Kesseln und vier Dampfturbinen − sei schwach und mit Problemen behaftet. Die veraltete Technik habe für häufige Maschinenausfälle gesorgt und dazu geführt, dass der Träger seit mindestens 2016 ständig von einem Schlepper begleitet werde. Erkennbar sei er von Weitem, weil er eine schwarze Rauchfahne hinter sich herziehe.

Die eigentlichen „Zähne“ der Marinefliegerei, argumentieren die Autoren, seien landgestützte Flugzeuge. Dazu gehörten als ihre wichtigste Komponente die Mittelstreckenbomber vom Typ Tu-22, von denen rund 60 bei den vier Flotten der Marine disloziert seien. Zudem könnten Su-34-Kampflugzeuge gegen Seeziele eingesetzt werden, die vielleicht richtiger wegen ihrer großen Reichweite ebenfalls als Mittelstreckenbomber klassifiziert werden sollten. Jede der Flotten verfüge über rund ein Dutzend mit Ch-31- und Ch-35-Raketen ausgerüsteten Su-24-Kampfflugzeuge. Diese würden nach und nach durch moderne Su-30-M-Mehrzweck-Kampfflugzeuge ersetzt.

Umfang, Verteilung und Leistungsfähigkeit der Marinewerften sind wichtige Faktoren für den Unterhalt und die Modernisierung der russischen Seestreitkräfte. In seiner entsprechenden Untersuchung erläutert Polmar zuerst die Handicaps, mit denen die Marine nach der Auflösung der Sowjetunion zu kämpfen hatte.[14] Er schreibt, dass sich viele der Werften in den Sowjetrepubliken außerhalb der Russischen Föderation befanden – so beispielsweise in Nikolaev, dem heutigen Mykolaiv, in der Ukraine. Dort wurden unter anderem die Hubschrauberträger der Moskva-, Kiev- und Kuznecov-Klasse (darunter auch die Admiral Kuznecov, die Varjag und Uljanovsk) sowie U-Boote und Versorgungsschiffe der Marine gebaut. Nach dem Ende der UdSSR verblieb nur rund die Hälfte der die Sowjetmarine ausrüstenden Werften bei Russland. Geplant ist, eine neue Generation von Überwasserschiffen zu bauen, konkret zwölf nukleargetriebene Zerstörer der Lider-Klasse vermutlich in den Baltija- und Severnaja-Werften in St. Petersburg. Russischen Angaben zufolge werden die ersten der Zerstörer dieser Klasse nicht vor 2023–2025 vom Stapel laufen.

Aus den Analysen der vorangegangenen Artikel geht jedoch deutlich hervor, dass der Bau sowohl nuklear- als auch diesel- und gasturbinengetriebener wie auch nuklearstrategischer und konventioneller U-Boote eine der Prioritäten im Schiffsbau ist. Polmar zufolge überrascht es infolgedessen nicht, dass bereits 1992 die Entscheidung getroffen wurde, die Herstellung aller nuklearstrategischer sowie eines großen Teils konventioneller U-Boote auf die Sevmaš-Werften in Severodvinsk zu konzentrieren. Der Marinerüstungskomplex an der Mündung der nördlichen Dvina am Weißen Meer habe über 25.000 Beschäftigte und umfasse drei riesige Konstruktionshallen mit 17 Baupositionen. Damit besitze er eine größere U-Boot-Baukapazität als alle US-amerikanischen U-Boot-Werften zusammen. Insgesamt, schließt der Autor, verfüge Russland über eine leistungsfähige Schiffsbauindustrie. Wenn auch viele der Produktionsstätten und Ausrüstungen veraltet seien und es Probleme mit der Zulieferung gebe, sei die Infrastruktur doch geeignet, die vier Flotten zu unterhalten, zu modernisieren und sogar eine blue water navy aufzubauen – „falls genügend Rubel dafür zur Verfügung stünden“.

Die Schlussfolgerungen Kofmans und Polmars, dass sich die russische Marine von den Träumen einer weltweit agierenden Hochseeflotte verabschiedet habe, werden vom russischen Militärexperten Aleksandr Šiškin geteilt.[15] Für ihn besteht aber kein Zweifel daran, dass die Rubel für die Marine rollen könnten und auch sollten – schließlich „hören wir ja täglich, dass sich die wirtschaftliche Situation stabilisiert“. Er übt scharfe Kritik an der (wie oben beschrieben) eklatanten Diskrepanz zwischen der Marinedoktrin und der tatsächlich verfolgten Flottenpolitik und ist empört über die vom russischen Verteidigungsministerium gesetzten Prioritäten. Er sieht darin sogar eine „Verschwörung“. Dabei bezieht er sich auf Ausführungen des stellvertretenden Verteidigungsministers Jurij Borisov, der auf einem Treffen der Marine- und Verteidigungsunternehmen am 29. November 2017 sagte, dass − in dieser Reihenfolge − der Bau von Kriegsschiffen mit Marschflugkörpern für innere Zonen des russischen maritimen Hoheitsgebiets sowie ballistische Raketen-U-Boote (SSBN) und Mehrzweck-U-Boote als Schlüsselelemente des Programms für staatliche Rüstungsgüter im Jahrzehnt von 2018 bis 2027 vorrangig seien. Dies bedeute, so der Autor, dass „Blau- und Grünwasser-Kriegsschiffe am Rande des neuen Rüstungsprogramms“ blieben und die russische Marine zu einer „Braunwasser-Seestreitmacht“ herabgestuft würde, die noch nicht einmal in der Lage sei, wirksam über die Küstennähe hinaus zu operieren. Diesem Verständnis zufolge sei ihr Operationsgebiet auf eine „innere maritime Zone“ beschränkt, die weniger als 500 Seemeilen von der Küste ende.

Šiškin listet eine ganze Reihe von Beweismitteln auf. So weist er darauf hin, dass die dieselgetriebenen U-Boote mangels luftunabhängigen Antriebs darauf angewiesen seien, in der oben beschriebenen Zone zu operieren. Kleinere Überwasserschiffe, wie beispielsweise Korvetten, seien ebenfalls nicht geeignet, über diesen Bereich hinaus zu wirken. Sie seien nicht seetüchtig genug, um schweren Stürmen zu trotzen. Um den normalen Betrieb von Seestreitkräften in weiter entfernten Meeresgebieten sicherzustellen, sei es notwendig, Marinestützpunkte oder zumindest logistische Punkte mit der notwendigen Infrastruktur zu besitzen, um Reparaturen vornehmen, Bestände auffüllen und eine Ruhezeit für die Besatzung sicherstellen zu können. Die Marine verfüge aber außerhalb der Grenzen Russlands nur über einen einzigen Stützpunkt − „im kriegführenden Syrien“. Zu einer Hochseeflotte, so der Autor weiter, gehörten nun einmal Großkampfschiffe und die seien veraltet. Nach seinen Untersuchungen betrage der Anteil neuer Schiffe unter zehn Jahren im Bestand der Marine nach ihrer Wasserverdrängung berechnet lediglich elf Prozent. Diese Zahl unterscheide sich radikal von den 53 Prozent moderner Marinebewaffnung, die Generalstabschef Valerij Gerasimov am 7. November 2017 auf einem Treffen des Verteidingsministeriums verkündet habe. „Da hat er wahrscheinlich jedes Schiff einschließlich kleinerer Boote und Hafenschlepper mitgezählt.“

Šiškin fasst seine Kritik mit den Worten zusammen, es sei unverständlich, dass Russland es in dem Vierteljahrhundert seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versäumt habe, die Wiederherstellung einer Hochseeflotte in die Wege zu leiten, und beschämend, dass es in naher Zukunft die zweite Position unter den führenden Seemächten verlieren werde, die Russland zu Beginn des Jahres 2017 mit China geteilt habe.

Das wird den Kreml mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht daran hindern, die Marine weiterhin als politisches Instrument zu nutzen, um zu demonstrieren, dass Russland eine maritime Großmacht mit Interventionsfähigkeiten weit über ihre Grenzen sei. Das hat nicht nur die Entsendung des Trägerverbandes unter Führung der veralteten Admiral Kuznecov und seinen Kampfeinsätzen in Syrien deutlich gezeigt. Politischen Zielsetzungen dienen auch Flottenschauen und Manöver. Darauf haben Marcin Kaczmarski und Witold Rodskiewicz vom Zentrum für ostwissenschaftliche Studien in Warschau in einer Untersuchung der im Juli 2017 in der Ostsee gemeinsam durchgeführten russisch-chinesischen Marineübungen hingewiesen.[16] Gemeinsame Manöver der beiden Seestreitkräfte, so die Autoren, finden bereits seit 2012 statt. Bis 2016 seien die Übungen aber überwiegend in ostasiatischen Gewässern durchgeführt worden – 2012 im Gelben Meer, 2013 im Japanischen Meer, 2014 im Ostchinesischen Meer und 2016 im Südchinesischen Meer. Ihre politische Botschaft sei offensichtlich. Russland wolle signalisieren, dass es bei den territorialen Streitigkeiten im Südchinesischen Meer auf der Seite Chinas stehe. Umgekehrt stützt die chinesische Führung mit ihrer Beteiligung an den Ostseemanövern die Darstellung des Kremls, die russisch-chinesische „strategische Partnerschaft“ sei nicht Vision, sondern Wirklichkeit. Und in den Jahren 2014 und 2015 führten chinesische und russische Schiffe gemeinsame Übungen im Mittelmeer durch, was signalisierte, dass die beiden Länder auch die syrische Krise ähnlich bewerteten.

Literatur

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Šiškin, Aleksandr (2017): Rossijskij VMF prevraščaetsja vo „flot beregovoj oborony“ [Die Russische Kriegsmarine wandelt sich zu einer „Flotte für die Küstenverteidigung“], Vz.ru, 4.12., https://vz.ru/society/2017/12/4/897894.html. Geringfügig geänderte englische Übersetzung des Artikels: Brown Water Warships to Become Priority for Russian Navy Development, TASS Defence News, 14.12. https://www.navyrecognition.com/index.php/news/defence-news/2017/december-2017-navy-naval-forces-defense-industry-technology-maritime-security-global-news/5808-brown-water-warships-to-become-priority-for-russian-navy-development-part-1.html.Search in Google Scholar

Published Online: 2018-3-14

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2018-0008/html
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