Reviewed Publication:
Eickhoff Thomas: Leselust und Stadtkultur in Münster. Hans Thiekötter (1906–1967). Ein Bibliothekar und seine Zeit. Münster: Ardey-Verlag, 2017. 895 Seiten, s/w. und Farbabb. Fest geb., 28 x 22 cm. ISBN 978-3-87023-396-9. € 65,–
Diese Biografie eines Volksbibliothekars ist zweifellos die umfangreichste, am opulentesten ausgestattete und zugleich schwergewichtigste (ca. 4 kg), die der Rezensent jemals in der Hand gehabt hat. Hans Thiekötter zählte zu jenen Direktoren Öffentlicher Bibliotheken, die über ihre bibliothekarische Funktion hinaus das Kulturleben ihrer Stadt mit geprägt haben. Das zu dokumentieren ist das Anliegen dieser Publikation. Zugleich ist aber auch hervorzuheben, dass Thiekötter zu einem sehr frühen Zeitpunkt erkannt hat, dass sich eine moderne kommunale Bibliothek nicht damit begnügen kann, ihre Bestände korrekt zu verwalten und die Literaturversorgung der Bürger sicherzustellen. Es ist erstaunlich, was er an Aktivitäten in seinem allzu früh zu Ende gegangenen Berufsleben auf sich genommen hatte, das überdies durch seinen Militärdienst im Zweiten Weltkrieg unterbrochen war. Trotzdem muss man ihn mit den Worten des Autors eine „heute nahezu vergessene Persönlichkeit“ nennen. Ein Grund dafür mag sein, dass er überregional nicht so präsent war wie zum Beispiel sein Nachfolger Heinz Emunds (1922–2007, im Amt 1968 bis 1986), der ab den 1970er-Jahren für das öffentliche Bibliothekswesen das Konzept der „Dreigeteilten Bibliothek“ entwickelt und damit Jahre hindurch die Fachdiskussion beflügelt hat.[1]
Thiekötter wurde 1906 in Werl geboren. Nach dem Abitur 1927 studierte er in Münster und Berlin Deutsch, Geschichte und Erdkunde. Vor Beginn des Promotionsstudiums in Münster absolvierte er den Bibliothekskurs an der Berliner Stadtbibliothek und legte 1930 die Diplomprüfung für den mittleren Bibliotheksdienst an wissenschaftlichen Bibliotheken sowie für den Dienst an Volksbibliotheken und verwandten Institutionen ab. Nach der Promotion 1933 trat er nach kurzen Zwischenstationen die Stelle des Leiters der Stadtbücherei Münster an. Ab 1940 war er als Soldat im Wehrmachtsbüchereiwesen tätig, bis er an die Front versetzt wurde. 1948 kehrte er in Münster auf seine alte Stelle zurück. Dazwischen lagen Kriegsgefangenschaft, Internierung, Entnazifizierung und zeitweilige Mitarbeit im Stadtarchiv. 1967 starb er infolge einer Gehirnblutung. Soweit die wichtigsten Daten aus seinem Leben.
Das Buch entstand im Auftrag von Bernd Thiekötter, dem jüngeren Sohn. Der Autor wurde von Verwandten und Freunden bereitwillig unterstützt. Thomas Eickhoff, Kulturhistoriker und Journalist, stellt in der Einleitung mit Nachdruck fest, dass die Betrauung mit der Arbeit nicht interessengeleitet war und er in keiner Weise beeinflusst wurde, was im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus nicht immer selbstverständlich ist. Der Titel Leselust und Stadtkultur in Münster suggeriert bereits, dass mehr als eine bloße Biografie intendiert war. Ein Leben wird dargestellt, eingebettet in die Geschichte und Kultur einer Stadt, somit ein Bibliothekar „und seine Zeit“. Eickhoff liegt damit ganz im Trend. Auch wenn man nicht gleich von einer „Renaissance der Biographik“ seit den 1980er-Jahren sprechen will, hat auch in der Bibliotheksgeschichte die Subjekt- gegenüber der Systemperspektive wieder an Boden gewonnen.
In fünf Kapiteln und einem bibliografischen Anhang versucht Eickhoff, den Facetten von Thiekötters Persönlichkeit und seinem überdurchschnittlichen Engagement gerecht zu werden. Jedes Kapitel ist wiederum in Unterkapitel gegliedert. Kapitel I zeichnet die Lebenslinien bis 1945 nach. An dieser Stelle ist besonders hervorzuheben, dass er „dem Bibliothekar im Schatten des Nationalsozialismus“ breiten Raum einräumt. Damit entspricht er den aktuellen Forderungen, die moralgeschichtliche Perspektive auf den Nationalsozialimus und seine Nachgeschichte nicht zu vernachlässigen.[2] Der Bedeutung dieses Themas halber soll hier näher darauf eingegangen werden. Für Eickhoff steht fest, dass Thiekötter keinesfalls als Nationalsozialist anzusehen sei. Der gläubige und kirchennahe Katholik, der seine Doktorarbeit dem späteren Kardinal Clemens August Graf von Galen gewidmet hat (S. 103–04), habe nolens volens systemkonform an der „Kulturfassade des Dritten Reichs“ – der Autor gebraucht hier eine Formulierung Thomas Manns – mitgewirkt (S. 296). Das mag wohl so sein, aber Thiekötters Gebrauch der nationalsozialistischen Phraseologie, etwa in seinem Artikel Gegenwartsaufgaben erzählender Dichtung im Münsterischen Anzeiger vom 7. Mai 1936 (S. 189 ff.) berührt, um es gelinde auszudrücken, peinlich. Mit Recht stellt Eickhoff fest, dass die Frage kaum zu beantworten sei, ob der Beitrag unter „politischem Zugzwang“, als berufsfördernder „opportuner Tribut“ oder als „wahrhaftes Bekenntnis“ geschrieben worden ist. Nachdenklich stimmt auch, wenn Thiekötter 1943 in der Chronik meines Lebens, die er für den Fall seines Todes im Krieg für die Familie verfasst und unter Verschluss gehalten hat, schreibt: „Denn viele junge Menschen opferten ihr hoffnungsvolles Leben schon für das Vaterland und hoffnungsvolle junge Frauen und Kinder in der Heimat wurden in großer Zahl von britischen Bomben grausam vernichtet. Daß der allmächtige Gott das zulässt, berechtigt uns zu unerbittlicher Rache“ (S. 574); für einen gläubigen Katholiken ein starkes Wort. Wie dem auch gewesen sein mag, mit der verleumderischen Denkschrift, eine gemäß Eickhoff „denunziatorische Philippika“, von Wilhelm Theising vom Oktober 1945 geschah ihm Unrecht, zumal dahinter die Hoffnung seines Stellvertreters stand, seinen Platz einzunehmen. Leider bewirkte sie, dass sich seine Rehabilitierung bis 1948 hinzog. Der Fall kann als prototypisch gelten und wurde deshalb eingehender referiert. Er zeigt gleichzeitig, wie gründlich Eickhoff ihn recherchiert und dokumentiert hat (S. 258–96). Er kommt abschließend zu dem Fazit, dass „wie in weiten Teilen der Nachkriegsgesellschaft [...] auch bei Thiekötter eher Verdrängung als Aufarbeitung“ eine Rolle gespielt hat (S. 295).
Kapitel II zeigt Münster nach 1945 und die Stadtkultur im Wiederaufbau unter engagierter Beteiligung des Stadtbüchereidirektors: zunächst Kriegsende und Entnazifizierung, dann das symbolträchtige Jubiläum 300 Jahre Westfälischer Frieden 1648–1948 mit dem wieder hergestellten Rathaus und Friedenssaal als Schritten zu einer neuen Friedenskultur. Dass der Weg in eine neue Zeit nicht einfach war, zeigen die Diskussionen um eine westfälische Literatur und das ominöse Schmallenberger Dichtertreffen von 1956.
Kapitel III fasst unter dem Rubrum Kultur im Dialog weitere Arbeitsfelder Thiekötters zusammen: den Annette-von-Droste-Hülshoff-Forscher, den „Vater“ der Westdeutschen Blindenhörbücherei – eine echte Pionierleistung,[3] sein Engagement für die Städtepartnerschaften mit York und Orléans sowie die Zusammenarbeit mit der Volkshochschule. Thematisiert werden auch seine literaturpädagogischen Vorstellungen, in denen er als Kind seiner Zeit konservativ dachte. Im Rahmen der damaligen Debatten über die „Schmutz und Schundliteratur“, die nicht nur die bibliothekarischen Gemüter erregten, klassifizierte er ohne zu differenzieren Comics als „Bildidiotismus“ und „verderbliches Unkraut“. Sie führten wie die gesamte Heftchen-Literatur die Jugend „zum Verbrechen, zu Schamlosigkeit und allgemein zu geistiger Armut“ (S. 528). Der ansonsten innovativ agierende Bibliothekar hat von solchen Fehlurteilen abgesehen aus „kleinsten Anfängen heraus“ aus seiner Bibliothek eine „zentrale Bildungseinrichtung für breite Bevölkerungsschichten“ geschaffen, wie Eickhoff betont (S. 483). Das Kapitel endet mit dem unerwarteten Tod Thiekötters.
Das folgende Kapitel IV bringt die Erinnerungen von Zeitzeugen: ein Gespräch mit seinen Söhnen und einer Mitarbeiterin aus dem Jahr 2015, mit Stammtischfreunden, mit Verbindungsmitgliedern des CV Arminia und Repräsentanten des Karnevals. Alle zeigen die große Wertschätzung, der sich Thiekötter in Münster erfreuen durfte.
Kapitel V ist dem Publizisten gewidmet. Auf knapp 250 Seiten sind Vorträge, Aufsätze und teilweise unveröffentlichte Texte abgedruckt. Am Beginn steht die bereits erwähnte Chronik meines Lebens von 1943, deren Manuskript erst 2011 aufgefunden wurde. Das zum Teil umfangreiche Material, in einigen Fällen Reprints, betreffen Biografisches, Wissenschaft und Forschung, die Geschichte Münsters, die Literatur in Westfalen, das Bibliothekswesen und den internationalen Kulturaustausch.
Der Bibliografische Anhang, als Kapitel VI gezählt, erfasst die Publikationen von und über Thiekötter, gefolgt von einem Quellen- und Literaturverzeichnis, einer Chronik seines Lebens von 1906 bis 1967, einem Bildnachweis und einem Personenregister.
Diese knappen Hinweise auf den Inhalt des Buches geben nur unzulänglich die Fülle des auf fast 900 Seiten ausgebreiteten Materials wieder. Die Ausstattung mit Illustrationen ist ungewöhnlich reich: mit Familienfotos aus allen Lebensabschnitten, Fotos von Wegbegleitern und sonstigen Zeitgenossen, mit Ansichten von Münster vor und nach der Zerstörung bis hin zur qualitativ ausgezeichneten Reproduktionen von Gemälden, Grafiken und Bucheinbänden, mit Abbildungen von Bibliotheken, Manuskripten und vielem anderen. Zu rühmen ist auch das Layout vom großzügigen Satzspiegel bis zur gut lesbaren Schrifttype.
Kritisch zu sehen ist allerdings die Detailverliebtheit im Text, die zum ungewöhnlichen Umfang des Bandes beiträgt. Der Erkenntniswert zum Beispiel, dass beim zweiten Rigorosum die Prüfung in Germanistik von 10:00 bis 10:30 Uhr gedauert habe, „gefolgt von einer einstündigen Prüfung in Mittlerer und Neuer Geschichte (11:00 – 12:00 Uhr)“ (S. 94–95), ebenso die Reproduktion einer Meldekarte mit Thiekötters Wohnungswechsel ist gering. Die Beispiele ließen sich vermehren. Überbordend ist auch die vollständige Wiedergabe von Berichten (S. 228–32), der Reprint der Broschüre Das schöne Münster (S. 752–73), der Beitrag Die Blindenbücherei aus dem Handbuch des Büchereiwesens (S. 577–88) oder der Beitrag Schule und Buch (S. 624–41). Um nicht missverstanden zu werden: Das Bestreben ein möglichst vollständiges Bild einer Persönlichkeit und ihrer Zeit zu zeichnen, ist verständlich und aller Ehren wert. Doch sollte man als Autor auch an die Benutzbarkeit einer Veröffentlichung denken. Wenn der Leser ein Buch vor sich hat, das in Umfang und Gewicht einem der im 19. Jahrhundert beliebten Coffeetable-Books ähnelt und das man nur am Schreibtisch oder an einem Stehpult lesen kann, so ist dies dem sicher vorauszusetzende Wunsch des Autors nach einer möglichst breiten Rezeption nicht förderlich. Das ist schade, denn Eickhoff hat nicht nur eine höchst aufwendige sondern auch interessante Arbeit geleistet. Seine Recherchen lassen an Sorgfalt nichts zu wünschen übrig, sein Stil macht die Lektüre leicht. Was hier kritisch angemerkt wurde, bezieht sich auf formale, im Wesentlichen die praktische Handhabbarkeit betreffende Gesichtspunkte.
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston