Bert Roebben und Katharina Kammeyer versammeln als Herausgeber und Herausgeberin dieses Bandes elf Beiträge zu inklusiver Religionspädagogik, die sowohl hinsichtlich der sonderpädagogischen Bezugsfelder der religionspädagogischen Reflexion als auch hinsichtlich der Kontexte der Diskussion einen weiten Horizont abschreiten: Es geht um inklusive Religionspädagogik in Schule und Kirche, die aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern wie aus der von Lehrenden sowie von Pfarrerinnen und Pfarrern entwickelt wird. Die Autorinnen und Autoren sind Lehrende an Universitäten sowie an kirchlichen Instituten, die in der Mehrzahl aus dem deutschen Kontext, daneben aber auch aus den USA, Österreich und aus Lettland stammen. Hinter den Beiträgen, in denen auch konzeptionelle empirische Ansätze vorgelegt werden, steht eine Vernetzung durch das „Inter-FIRE Project – International Forum for Inclusive Religious Education“, das während der Jahre 2010 bis 2013 an der Universität Dortmund durchgeführt wurde.
In seiner Einleitung hält Roebben fest, dass es immer mehr Forschungen zu Religionen und Weltanschauungen im Kontext der Erziehungswissenschaften gebe, „but in the specific field of inclusive religious education we are aware that a strong discourse community is lacking“ (9). Da die lehrenden und reflektierenden Praktikerinnen und Praktiker noch weitgehend unverbunden und unabhängig voneinander gearbeitet hätten, sei dieses Projekt von Beginn an der internationalen Vernetzung gewidmet gewesen.
Dieser Pionierarbeit entspricht es, dass in den Aufsätzen ein ideell und religiös mit hohen Geltungsansprüchen versehener normativ vertretener Begriff von Inklusion entfaltet wird. Roebben selbst formuliert programmatisch: „In this book we argue that every education should be in the end inclusive, or better should be inclusive from the very beginning!“ (8) Hierfür eröffnet er den Band mit einer differenztheoretischen Grundlegung seines Verständnisses von Inklusion und bezieht sich dabei auf eine „Theology of Otherness“, die er pädagogisch und auch didaktisch ausformuliert. Abschließend formuliert er als ‚radikale inklusive Wahrheit‘, „that people are vulnerable in their being different to each other“ (29).
Anita Müller-Friese fokussiert in ihrem Zugang zur religionspädagogischen Inklusionsdiskussion den Förderschwerpunkt Lernen und entfaltet eine Position, die für den deutschen Kontext von zentraler Bedeutung ist: „Understanding learning difficulties as an expression of missmatching of expectations and competencies, means: General schools in Germany at present are not able to offer children from poor, uneducated, and socially weak situations an appropriate and suitable choice of learning contents.“ (40) Müller-Friese diskutiert die unverzichtbaren und die strukturell schwierigen Seiten der Sonderschulpädagogik sowie ihrer schulischen Einrichtungen und stellt für die Zukunft die Leitfrage, wie eine inklusive Schule so entwickelt werden kann, dass sie bestehende Unterschiede nicht noch weiter wachsen lässt und darüber hinaus auch keine neuen Mängel hervorbringt (vgl. 45). Sie nennt zwei best-practice Beispiele, eins davon bezieht sich auf eine evangelische Schule. Anschlussmöglichkeiten sowie Herausforderungen für das kirchliche Engagement in Sachen inklusiver Schule werden deutlich.
Ganz auf den Kontext Kirche bezogen ist der Beitrag von Amos Yong aus den USA, dessen Tenor wohl auch für Deutschland in Vielem stimmig wäre: „In many respects, the church is still at least one or two steps behind the wider culture in matters pertaining to disability, if not being rather closed toward changes advocated by the disability rights movement.“ (47) Er stellt zur Diskussion, ob die geringe Zahl von Menschen, die mit Behinderungen leben und an Gottesdiensten teilnehmen, auf ihre generell überschaubare Anzahl vor Ort oder nicht vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass diese sich in ihren Ortsgemeinden nicht willkommen fühlten (49). Für den deutschen Kontext möglicherweise noch ungewöhnlich, aber eventuell auch in Zukunft interessant stellt Yong die Frage nach der Aufnahme und den Umgang mit Kriegsveteranen in Kirchengemeinden. Sie sollten weniger als problematische und belastende Klientel gesehen werden, sondern vielmehr als diejenigen, die ihren Beitrag zur Verkündigung wahrnehmen möchten (vgl. 51). Dieser Linie folgend fordert er auch eine Verkündigungspraxis gemeinsam mit oder von Menschen, die mit physischen und bzw. oder intellektuellen Beeinträchtigungen leben.
Ebenfalls aus dem US-amerikanischen Kontext heraus schreibt Joyce Mercer. Sie reflektiert die Spiritualität von ‚christlichen Kindern‘, die die Diagnose Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) erhalten haben. Dazu klärt sie zunächst das kulturelle, politische und soziale Diskussionsfeld zu dieser Diagnose, dann wendet sie sich der religiösen Bedeutung von Aufmerksamkeit zu und fragt nach den zu dieser gehörenden körperlichen und geistigen Haltung, die in traditionellen christlichen Gottesdienstkulturen erwartet werde. Lassen sich Kirche und Gottesdienstkultur auf solche Anfragen ein, diene dies einerseits der Inklusion von Kindern, die mit (Diagnosen von) ADHS leben, andererseits aber eben auch der Erweiterung des Spektrums christlicher Spiritualität: „Finally, children with ADHS invite the church to embrace a spirituality of interruption and inattention, knowing that God can be found not only in the carefully planned programs and scripted orders of worship, but also in the unexpected insertion of a noise, a speaking voice, a movement that interrupts.“ (82).
Der österreichische Religionspädagoge Franz Feiner eröffnet seinen Beitrag mit einer Veranschaulichung der für ihn relevanten biblischen und kirchenhistorischen Argumentationsmuster zum Thema Inklusion. Interessant ist u. a., wie er Jesus in der Begegnung mit verschiedenen Menschen in einen inklusiven Lernprozess verwickelt sieht. Innerhalb dieses theologischen Referenzrahmens präsentiert er dann allerdings die Ergebnisse einer Umfrage zur Akzeptanz von Inklusion in Schulen, die die Perspektive von Eltern und von Religionslehrern und -lehrerinnen erhoben hat (95 ff.). Der Forschungsprozess führte auch zur Konkretion im Sinne von Schulentwicklungsprojekten. Diese wurden wiederum wissenschaftlich begleitet, evaluiert sowie weitergeführt, indem nun an Beschreibungen für das Erlernen einer inklusiven Haltung gearbeitet wird.
Katharina Kammeyer widmet ihren Beitrag der Erkundung biographischer Narrationen von Schülerinnen und Schülern im inklusiven Religionsunterricht und stellt die Frage, ob sie dies in einer profunderen Art und Weise tun können, wenn sie hierzu biblische Geschichten oder Metaphern aufgreifen. Sie beabsichtigt zu zeigen, dass die häufig angemahnte Verbindung zwischen jugendlichen Lebenswelten und biblischen Texten sich auf diese Weise herstellen lasse. Hierzu liefert sie unter anderem ein eindrucksvolles Beispiel anhand von zwei autobiographischen Beiträgen, die eine 15jährige Schülerin verfasst hat, die sehbehindert ist und eine reguläre Schule in Deutschland besucht. Kammeyers Schlussfolgerungen zeigen, wie hoch komplex bei der Ertragssicherung vorgegangen werden muss, um Annäherungen an Antworten auf die Forschungsfrage tatsächlich liefern zu können. Außerdem wurden für die Zukunft weitere Fragen aufgeworfen, die gerade auch den Zusammenhang zwischen den Beschreibungen von physischen und sozialen Behinderungen betreffen: „Personal interpretations on the relation between existing physical impairments on the one hand and the experience of disabilities and handicaps, or rather being freed from barriers as expressed by the girl on the other hand, shall be deepened as well.“ (125).
Hartmut Rupp zieht für seine Entfaltung inklusiver Religionspädagogik das Konzept der Resilienz heran, denn es gewährleiste in den Human- und Sozialwissenschaften einen Perspektivwechsel weg von einem defizit- zu einem ressourcenorientierten Zugang (vgl. 129). Im Sinne einer religionspädagogischen Vertiefung reflektiert Rupp insbesondere in Referenz zu Wustmanns Untersuchung (2004) die Frage, inwiefern biblische Erzählungen einen spezifischen Beitrag zur Förderung von Resilienz leisten können (vgl. 136). Auf der Basis dieser Erwägungen startete er im Sommer 2009 zwei empirische Untersuchungen in Kindertagesstätten mit Kindern zwischen vier und sechs Jahren, deren Diskussionsprotokolle (142–151) einen Einblick in die Chancen und Grenzen des Ansatzes liefern.
Wiederum im Kontext von Kirche und hier genauer im Kontext von Kindergottesdienst bzw. Sunday-Schools situiert Wolfhard Schweiker seinen Zugang zu inklusiver Religionspädagogik. Hierfür greift er auf den in der Tradition von Maria Montessori und Sophia Cavaletti stehenden und von Jerome Berryman entwickelten Ansatz des ‚Godly Play‘ zurück. Sonderpädagogische Perspektiven sollen sozusagen positiv in einem allgemeinpädagogischen Programm aufgehoben werden; die Emphase, die in der Metapher „Embracing the Vision – Steps of Realization“ liegt, zieht sich durch diesen Beitrag, der viele grundlegende Fragestellungen aufgreift und sich daher auch als Einführungslektüre gut eignet.
Stephan Anderssohn versteht inklusive Religionspädagogik im Anschluss an den schweizerischen Pionier der Sonderpädagogik Paul Moor. Er ist der Überzeugung, dass ein inklusiver Fokus die Religionspädagogik im Ganzen fördert. Dies zeigt er überzeugend an einem empirischen Forschungsprojekt, das er in Norddeutschland mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die mit geistigen Behinderungen leben, durchgeführt hat. Anderssohn wählt hierfür die Frage nach dem Gottesbild als leitende inhaltliche Kategorie von Religiosität aus. Die eindrucksvollen Kurzinterviews, die mit Hilfe des „Structure-Issue-Approach“ bearbeitet wurden, zeigen, dass keine separaten oder segregierenden Untersuchungsmethoden zur Erhebung von Religiosität nötig sind. Dieses Ergebnis verändert einiges in der Wahrnehmung des Themas Inklusion: „… the structure-issue-approach appears to be able to comprise a wide range of developmental and biographical configurations and allows to interpret religiousness without using a segregating or pejorative terminology“ (196).
Der Beitrag von Dzintra Iliško geht dem Verständnis von Inklusion in der Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern sowie deren Selbstverständnis in Lettland nach. Sie führte im Sinne einer Pilotstudie halboffene Gruppeninterviews durch, die vor allem zeigten: „inclusive education is associated with inclusion of children with disabilities … Many teachers expressed negative sentiments towards integrating children with severe learning difficulties in the mainstream schools and suggested a differentiated approach towards integrating children with special needs as the best solution for the educational system in Latvia.“ (210). Iliško sieht die Inklusionsfrage in ihrem Land eng mit der Frage von Demokratisierungsprozessen verbunden, die seit dem Jahr 1991, in dem die Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion öffentlich ratifiziert wurde, einen veränderten kulturellen Kontext erhalten haben.
Auch in dem den Band abschließenden Beitrag von Kathrin Hanneken geht es um die Lehrer- bzw. Lehrerinnen-Perspektive auf Fragen von Inklusion. Als Kontext wählt sie den ‚Gemeinsamen Unterricht‘, einen Religionsunterricht in religiöser Pluralität, dem Schülerinnen und Schüler mit und ohne Assistenzbedarf zugehören. Ihre empirische Forschung, die vor allem auf Leitfaden – gestützten Interviews aufbaut, verankert sie im religionspädagogischen Ansatz Friedrich Schweitzers. Hannekens Fokus liegt auf der Verschränkung der inklusiven mit der multireligiösen Perspektive: „The interviews reveal specific ways of learning about (multi-religiöses Lernen), from (inter-religiöses Lernen), and in/through (intra-religiöses Lernen) religion … in co-educational classes. The interviews made two positions clear: Issues of social learning are pivotal for inclusive religious education and emphases concerning Christian and religious topics are set.“ (234).
Der Band liefert eine Vielfalt von Zugängen zu ‚Inclusive Religious Education‘, die ihren gemeinsamen roten Faden in der Orientierung an einem empirischen Forschungsinteresse haben, das sich sowohl auf die Praxis von Inklusionsprozessen als auch auf die Reflexion der zu ihnen gehörenden Debatte bezieht. Auch wenn der internationale Blickwinkel in Form einer Addition von Beiträgen eingespielt wird, sieht man bereits, dass es sich lohnt, ihn fortzuführen.
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