Zusammenfassung
Die von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, dem Wissenschaftsrat und der Deutschen Forschungsgemeinschaft initiierte und im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankerte Reform der Informationsinfrastrukturen ist ein hochkomplexes Vorhaben, das nicht nur Strukturen und Strategien für eine kohärente Steuerung erfordert, sondern auch ein ungewöhnlich hohes Maß an Kooperations- und Reformbereitschaft bei einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure voraussetzt. Ergebnisse und Verfahren aus der Governance-Forschung der letzten Jahrzehnte können wichtige Hinweise zur Gestaltung des Prozesses geben.
Abstract
The reform of information infrastructures, which was initiated by the Joint Science Conference, the German Science Council and the German Research Foundation, and laid down in the coalition agreement of the Federal Government, is a highly complex undertaking that requires not only structures and strategies for coherent control but also presupposes an unusually high degree of willingness to cooperate and to reform in a multitude of different actors. Results and procedures from the governance research in recent decades can provide important information for the design of this process.
1 Bibliotheksplanung und Bibliothekspolitik
„Nur ein in sich verflochtenes Band aller Bibliotheken, dessen Mitglieder gebend und nehmend aufeinander bezogen wirken, kann die Dienstleistungen erbringen, deren die sich entwickelnde Gesellschaft und alle ihre Glieder bedürfen und in Zukunft noch mehr bedürfen werden.“1[1] Dieses Zitat aus dem Bibliotheksplan 1973 bringt das Verständnis über die Aufgaben der Bibliotheksplanung in Deutschland, wie sie bis weit in das beginnende 21. Jahrhundert hinein leitend gewesen ist, auf den Punkt. Folgt man den weiteren Ausführungen, so ist eine koordinierte bibliotheksspezifische Entwicklungsplanung im Wesentlichen als Bibliothekspolitik zu verstehen, ganz allgemein also als planmäßiges und zielgerichtetes Handeln der dafür legitimierten Akteure auf legislativer und exekutiver Ebene, in das fachliche Kompetenz in aller Regel auf dem Weg der Beratung durch Institutionen und / oder Berufsverbände eingeht. Dementsprechend wurde das Ziel einer abgestimmten Bibliotheksplanung nicht anders als durch „Regelungen in Form von Bibliotheksgesetzen, Verordnungen und Erlassen“2[2] für realisierbar gehalten. Da die föderale Struktur als konstitutionelle und verfassungsmäßig garantierte Rahmenbedingung im Kulturbereich nicht modifizierbar war – abgesehen von wenigen Ausnahmen, die das Grundgesetz zeitweise vorsah, und die z. B. die Einrichtung der Zentralen Fachbibliotheken ermöglichten –, blieb Bibliothekspolitik aber eine regionale und für die öffentlichen Bibliotheken in kommunaler Trägerschaft im Wesentlichen eine lokale Aufgabe. Die mangelnde länderübergreifende Koordination und die geringe Effizienz der überhaupt zur Verfügung stehenden Gestaltungsinstrumente führten jedoch mit schöner Regelmäßigkeit zur Klage über das Fehlen einer durchsetzungsfähigen, nationalen Instanz im Bibliothekssektor. Das Ziel einer koordinierten Bibliotheksplanung lag insofern in dem latent paradoxen Wunsch nach einer „nationalen Bibliotheksstrategie ohne nationalstaatlichen Adressaten“.3[3] Daran hat auch die Föderalismusreform (2006 / 2009) nichts Grundlegendes geändert, auch wenn mit der im Herbst 2014 erfolgten Änderung des Artikels 91b des Grundgesetzes zumindest für den Hochschulbereich neue Instrumente für nationalstaatlich koordinierte Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern ermöglicht worden sind, die auch für den Bibliotheksbereich von Belang sein können, auch wenn bisher keine entsprechende Initiative erfolgt ist.
Es hat nie an Kritikern gefehlt, die dem zugrundeliegenden Konzept einer übergreifenden Bibliotheksplanung als bloßem Politiksurrogat mit Skepsis oder Zweifeln begegnet sind. An eine besonders bemerkenswerte Kritik sei in diesem Zusammenhang erinnert, nämlich an einen 1989 im Bibliotheksdienst erschienenen Aufsatz von Joachim Stoltzenburg mit dem sprechenden Titel „Der innere Kreis als Zentrum deutscher Bibliothekspolitik. Strukturen und Prozeduren“.4[4] Der Gründungsdirektor der UB Konstanz rechnete darin nach dem Ende seines aktiven Berufslebens mit einigen weit verbreiteten Annahmen über vermeintlich partizipative Diskussions- und Entscheidungsprozesse im deutschen Bibliothekswesen, insbesondere im Bereich der Hochschulbibliotheken, ab. Tatsächlich werden, so Stoltzenburg, die wichtigen und übergreifenden Entscheidungen für den Sektor der Hochschulbibliotheken von höchstens 25 Personen (dem „inneren Kreis“, der wiederum von einem „Innersten“ dominiert wird) getroffen. Durch „Kooptation, Konsenskultur und Meinungsführerschaft“ sei es zu einer stagnierenden Entwicklung der Bibliotheken gekommen, im Wesentlichen als Resultat eines überlebten Selbstverständnisses der maßgeblichen Akteure, die die Bedürfnisse der eigentlichen Adressaten der Bibliotheken vernachlässigen, zumal die der Wissenschaft. Der „innere Widerspruch zwischen Fehlentwicklung und Fortentwicklung unseres Bibliothekswesens“ sei jedoch kein Thema, sondern ein Tabu für die oligarchische Elite, was als Grund für die „Fortentwicklung einer Fehlentwicklung, bis in die geplante elektronische Infrastruktur hinein“ ausgemacht wird.5[5] Stoltzenburg macht den Ende der 1970er Jahre gegründeten Bibliotheksausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als zentralen Akteur dieser verfehlten Entwicklung aus. Nachdem 1948 / 49 eine „Handvoll Bibliothekare“ verhindert habe, dass „wieder eine die nationale Bibliothekspolitik dominierende Zentrale Bibliothek (in Frankfurt) entstand“,6[6] habe der innere Kreis sich den Bibliotheksausschuss als „kollegiales Beratungs- und Entscheidungsinstrument“ geschaffen.
An Stoltzenburgs Argumentation, deren Stringenz und Berechtigung im Einzelnen hier nicht erörtert werden soll, sind zwei Aspekte für den vorliegenden Zusammenhang relevant: Zum einen bringt er mit der DFG einen Akteur ins Spiel, der nicht zur legislativen Ebene gehört und der sich auch nicht aus ihr rekrutiert, sondern eine Beratungs- und Förderinstitution in privatrechtlicher Trägerschaft ist, der aber dennoch eine zentrale Rolle in Steuerungs- und Regulierungshinsicht übernimmt und insofern in einem weiteren Sinn de facto übergeordnete staatliche Aufgaben wahrnimmt. Dass gerade die DFG (neben dem Wissenschaftsrat, der allerdings ausschließlich Aufgaben in der Politikberatung hat) mit den Empfehlungen und besonders mit den darauf aufbauenden Förderlinien und -programmen für das wissenschaftliche Bibliothekswesen in Deutschland seit der Nachkriegszeit von herausragender Bedeutung ist und insofern einen Ausgleich für das Vakuum auf nationalstaatlicher Planungs-, Steuerungs- und Regulierungsebene darstellt, dürfte unumstritten sein, auch wenn heute manche Entscheidungen für eine lebhafte Streitkultur in der bibliothekarischen Zunft gesorgt haben. Zum anderen rekurriert Stoltzenburg zur Erklärung für die seiner Meinung nach verfehlte Bibliotheksentwicklung in Deutschland auf eine soziologisch fundierte Theorie der Macht- (und nicht Funktions-)Eliten in mentalitätshistorischer Perspektive und fordert eine systematische Aufarbeitung der „nie gestellte[n] Fragen auf der Suche nach Verständnis für Entstehungs- und Funktionsweisen deutscher Bibliothekspolitik“.7[7] Dass seine Kritik eine recht vehemente Diskussion auslöste und nicht zuletzt auch als Netzbeschmutzung verstanden wurde, überrascht nicht. Andererseits liefert Stoltzenburg auch Argumente gegen die Dominanz eines lange Zeit die Diskussion um die Ziele und Verfahren der Bibliotheksplanung prägenden Politikparadigmas und zumindest den Versuch einer Reflexion über das, was Bibliotheksplanung und -entwicklung unter den Bedingungen eines Wettbewerbs- und Gestaltungsföderalismus tatsächlich bedeutet oder bedeuten kann.
2 Reform der Informationsinfrastrukturen – Rahmenvorgaben
Die Aufgaben, die seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „Reform der Informationsinfrastrukturen“ vereinigt werden, gehen deutlich über das hinaus, was seinerzeit in regionalen oder nationalen „Bibliotheksplänen“ für den Bereich der wissenschaftlichen Bibliotheken gefordert wurde. Erkennbar ist dies bereits an dem stets im Plural gebrauchten Begriff „Informationsinfrastrukturen“; diese sind „technisch und organisatorisch vernetzte Dienste und Angebote zur Arbeit mit wissenschaftlich relevanten Daten, Informationen und Wissensbeständen. Digitalität steht hierbei im Fokus“.8[8] Zwar bleiben mit dieser Definition wichtige Aufgaben, wie sie heute auch von wissenschaftlichen Bibliotheken wahrgenommen werden, ausgeklammert, z. B. in der regionalen Literatur- und Informationsversorgung. Andererseits werden die wissenschaftlichen Bibliotheken dezidiert als ein Infrastruktur-Element neben anderen gesehen und zugleich viel stärker in Wissenschafts- und Forschungsstrukturen auf nationaler und internationaler Ebene eingebunden. Zugleich sollen die gemäß der föderalen Struktur bisher im Wesentlichen an die einzelnen Bundesländer als Unterhaltsträger gebundenen Informationsinfrastrukturen zugunsten einer funktionalen Arbeitsteilung unter gesamtstaatlicher Perspektive neu und dabei effektiver und effizienter gestaltet werden, wobei die Finanzmittel der Unterhaltsträger zumindest zum Teil zur Finanzierung der zentralen, funktionalen Aufgaben und ggf. zur Marktertüchtigung der einzelnen Bibliotheken herangezogen werden sollen. Aus all dem folgt eine Verpflichtung zur arbeitsteiligen Zusammenarbeit in bisher ungekanntem Ausmaß, wobei die Kooperationspartner hinsichtlich ihrer rechtlichen Verfassung, ihrer organisatorischen Gestaltung und ihrer Zweckbestimmung viel weiter variieren, als die föderale Struktur im Bildungs- und Wissenschaftsbereich es ohnehin mit sich bringt.
Diese Aufgaben, die nach überwiegender Meinung der Fachöffentlichkeit sinnvoll sind, setzen ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft aller beteiligten staatlichen Stellen, Institutionen, Institutionenverbände und Beratungsorgane voraus, und das nicht nur bei der Umsetzung von Zielvorgaben, sondern bereits bei der Diskussion und Entscheidungsfindung von Subzielen und Strategien – schließlich sind in vielen, insbesondere den neuen Aufgaben, tragfähige Lösungen weder konzeptuell und technisch weit genug entwickelt noch gar am Markt verfügbar. Indem das Reformvorhaben in größerem Umfang auf nicht-staatliche oder halbstaatliche Einrichtungen setzt und auch private Akteure integriert, werden nicht nur der Regelungs- und Abstimmungsbedarf, sondern auch die Anforderungen an Kooperation und Transparenz nochmals weiter erhöht – schließlich kann im Zenit der Kritik an neoliberalen Denkmustern nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass Marktmechanismen allein das erforderliche Regulierungspotential generieren können. Zudem ist unklar, welche Konsequenzen sich für die direkt beteiligten Akteure und für alle anderen, von den Ergebnissen der Reformbemühungen betroffenen Einrichtungen ergeben, und vieles spricht dafür, dass es im Laufe des Entscheidungs- und Findungsprozesses erst zu einer Neudefinition der jeweiligen Rollen und Aufgaben kommen kann – was z. B. für die zahlreichen Universitäts- und Hochschulbibliotheken gilt, die aller Voraussicht nach keine funktionale Aufgabe auf überregionaler Ebene wahrnehmen werden, aber den weitaus größten Teil der primären Klientel der Informationsinfrastruktureinrichtungen bedienen müssen und mit deren Wünschen und Bedürfnissen unmittelbar konfrontiert werden. Schließlich setzen alle Überlegungen und Empfehlungen zur Neustrukturierung auch voraus, dass neben der Kooperationsbereitschaft eine ebenso große Reformbereitschaft der beteiligten Einrichtungen besteht und die jeweiligen Partikularinteressen im gemeinschaftlichen Konzert letztlich harmonisiert werden können, ohne dass jedoch überzeugende Gründe für diese Annahme erkennbar sind oder geeignete Anreizsysteme benannt werden.
Bedenkt man die Fülle der zu lösenden Aufgaben vor dem Hintergrund möglicherweise stark divergierender Interessen der einzelnen Akteure, ihrer institutionell breit variierenden Regelungs- und Steuerungskompetenz, ihrer stark differenzierten und ausgeprägten Hierarchieposition und ihrer föderal verankerten, häufig systemisch konkurrierenden und nur aufwendig harmonisierbaren Rollenzuschreibungen, so ist die Notwendigkeit einer Vorbereitung, zumindest aber einer begleitenden Strukturierung des Reformprozesses unter Gesichtspunkten, die sich unter dem Begriff „Governance“ zusammenfassen lassen, unumgänglich.
3 Governance – eine Problemeinführung
Seit den 1990er Jahren hat sich das Governance-Konzept in den Sozialwissenschaften und angrenzenden Disziplinen wie den Wirtschaftswissenschaften, aber auch z. B. in den Rechtswissenschaften, sehr rasch und mit zunehmender Breitenwirkung als Bezeichnung für einen neuen Forschungsansatz bzw. ein neues Forschungsfeld etablieren können. Allgemein geht man davon aus, dass der Begriff durch die sogenannten „governance indicators“, die die Weltbank seit 1989 verwendet, in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde. Davor war er, jedenfalls als wissenschaftlicher Begriff, weitestgehend ungebräuchlich. Die „kometenhafte Karriere“9[9] geht allerdings mit einer begrifflichen Unschärfe des „anerkannt uneindeutigen“10[10] Governance-Begriffs einher, der Gefahr läuft, den manchmal hohen Erwartungen, die mit ihm verknüpft sind, nicht zu genügen.
Im Governance-Konzept wird vom Ansatz her davon ausgegangen, dass Teile des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens auch der westlichen Demokratien nicht nur von staatlichen Akteuren oder zumindest solchen, die dazu eine direkte oder indirekte demokratische Legitimation besitzen, gestaltet werden, sondern auch von anderen zivilgesellschaftlichen oder privaten Akteuren. Zunehmend spielen dabei nicht-hierarchische, durch eine Kombination von zentralen und dezentralen Elementen geprägte Formen der Koordination und Gestaltung eine wesentliche Rolle. Erst durch das – mehr oder weniger stark geregelte und mehr oder weniger transparente – Zusammenwirken aller Akteure ist das Funktionieren moderner komplexer Gesellschaften zumindest in einzelnen Sektoren sinnvoll zu beschreiben und zu verstehen. Ganz allgemein und jenseits weiterführender theorie- und begriffskritischer Überlegungen lässt sich Governance als das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zum hoheitlichen Handeln staatlicher Akteure“ verstehen, um eine bekannte deutschsprachige Definition zu zitieren.11[11] Damit ist jedoch ein sehr weiter Governance-Begriff eingeführt, der „Government“ zu einem Spezialfall von „Governance“ macht und auf diese Weise den gravierenden Unterschied im methodologischen Ansatz zwischen beiden Konzepten nicht mehr erkennen lässt. Tatsächlich droht bei einem zu hohen Grad an begrifflicher Aggregation die Differenz zwischen „Government“ und „Governance“, also zwischen den verschiedenen Formen hoheitlich-hierarchischen Handelns einerseits und dem Zusammenspiel disparater und variabler gesellschaftlicher Gestaltungskräfte andererseits, verloren zu gehen, so dass gelegentlich jedwede Form gesellschaftlicher Regulation als „Governance“ verstanden wird und der Begriff zu einem Synonym für gesellschaftliche Ordnung überhaupt wird, auf Kosten seiner wissenschaftlichen Relevanz und Heuristik. Daher fehlt es auch nicht an Kritikern, die trotz (oder auch wegen) des teilweise inflationären Gebrauchs des Begriffs „Governance“ in ihm einen modischen Statthalter für eine letztlich harmonisierende, beschönigende Sichtweise sehen.12[12]
Die Vorteile des Governance-Konzepts werden jedoch deutlich, wenn akzeptiert wird, das Governance im engeren Sinn vor allem ein analytischer Begriff ist und „für eine Perspektive auf die Realität“ steht, wobei das Wie und nicht das Warum im Zentrum steht. In der Governance-Forschung werden Themen behandelt, die auch und zum Teil schon seit langer Zeit erforscht und diskutiert werden, vor allem in der politischen Steuerungs- und Institutionentheorie. In der Governance-Forschung liegt der Akzent aber nicht auf der Analyse vertikaler Steuerungsmechanismen etwa durch Instanziierung von Rechtsvorschriften, sondern auf der Analyse horizontaler, durch Verhandeln oder Aushandeln gekennzeichneter und daher häufig konsensorientierter Interaktionen von in der Regel sehr verschiedenen, staatlichen wie nichtstaatlichen und auch privaten Akteuren, wobei je nach Ausrichtung oder Thematik sowohl die Struktur als auch die Prozesse dieser komplexen Formen des Zusammenspiels im Mittelpunkt stehen können. Darüber hinaus ist das Governance-Konzept weitgehend offen für darauf aufbauende Theorieansätze unterschiedlicher Provenienz und zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungs- und Determinationsprozesse, jedenfalls soweit sie mit dem Grundpostulat der Existenz systematischer Interdependenzen zwischen den beschriebenen Institutionen und Prozessen vereinbar sind. An diesem Punkt ist ersichtlich, wie nahe die Grenzen (nämlich „eine tendenzielle bzw. tendenziöse Blindheit für Macht- und Verteilungsfragen“13[13]) und die Vorteile (ein hochdifferenziertes Analyseinstrumentarium für die Beschreibung von Strukturen und Prozessen) des Governance-Konzepts beieinander liegen.
Besonders fruchtbar und überzeugend erweist sich das Governance-Konzept bei der Analyse solcher gesellschaftlichen Bereiche, in denen es traditionellerweise oder auf Grund neuerer politischer Entwicklungen eine zentralstaatliche Instanz nicht (mehr) gibt oder deren legitimatorische Basis abhandengekommen ist bzw. diese ihre Aufgabe als ausreichend effektives, alleiniges Instrument der Planung und Regulierung verloren hat und ggf. wiedergewinnen will. Beispiele dafür sind etwa die seit den 1980er Jahren auch in Deutschland zunehmend bedeutenden plebiszitären Entscheidungsverfahren auf kommunaler oder regionaler Ebene. Dabei ist leicht ersichtlich, dass das Governance-Konzept eine deskriptive und eine normative Komponente hat: Die Beschreibung der Regulationsformen gesellschaftlicher Organisation führt mehr oder weniger zwangsläufig zu einer Diskussion der dafür sinnvollen oder für sinnvoll erachteten Prozesse und Regularien. Gerade der normative Aspekt hat z. B. bei der sozial- und rechtswissenschaftlichen Analyse gesamteuropäischer oder gar weltweiter Prozesse zu den mittlerweile die Diskussion dominierenden Themen der „Global Governance“ und der „Good Governance“ geführt, da sich z. B. weder die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten noch die innerstaatlichen Planungs- und Steuerungsaufgaben eines einzelnen EU-Mitglieds nach dem klassischen, etatistischen Muster hoheitlichen Handelns begreifen lassen. Die zum Teil hochkomplexen Gestaltungs-, Steuerungs- und Regulierungsprozesse innerhalb der EU haben zu zahlreichen Governance-Untersuchungen über die Formen und Mechanismen der Koordination geführt und dabei auch die Legitimationszwänge, die sich durch die Intransparenz der Prozesse und offenkundiger oder vermuteter nicht-paritätischer Beteiligungsrechte ergeben, in den Fokus gerückt. Ein Resultat davon ist die bereits 2001 publizierte, auf Überlegungen zur „Good Governance“ basierende Policy der Europäischen Kommission,14[14] die die Mitglieder u. a. zu einem möglichst transparenten Verfahren bei Selbstdeklaration der eigenen Motive und Interessen verpflichtet – zweifellos ein ernst zu nehmender Ansatz, um die „tendenzielle Unterbelichtung der Akteursebene“15[15] im Governance-Konzept auszugleichen.
4 Die Reform der Informationsinfrastrukturen – Governance-Aspekte
Angesichts der Aufgaben, die die einschlägigen Empfehlungen der letzten Jahre zur Reform der Informationsinfrastrukturen in Deutschland benennen, ist es nicht überraschend, dass dabei auch Governance-Themen angesprochen werden. So enthält bereits das für die weitere Diskussion grundlegende Gesamtkonzept für die Informationsinfrastruktur in Deutschland (KII-Empfehlungen), das im April 2011 von der Kommission „Zukunft der Informationsinfrastruktur“ im Auftrag der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder vorgelegt wurde, Passagen über Governance. Jedoch liegt den Ausführungen ein allzu restriktiver Begriff von Governance zugrunde, der vor allem an der Frage der adäquaten Hierarchieebene für die Umsetzung von strategischen Vorgaben orientiert ist; die leitende Frage lautet dabei: „Wie zentral muss die Struktur gesteuert werden, um dezentral funktionieren zu können?“16[16] Über Koordinatoren, die die Verantwortung für die Aufgabenerfüllung des jeweiligen Handlungsfeldes wie für die Verzahnung mit anderen tragen, sollen die erforderlichen Steuerungs- und Regulierungsaufgaben wahrgenommen werden. Die beträchtlichen wissensbasierten, institutionellen und auch finanziellen Qualifikationsanforderungen an die Koordinatoren können jedoch, wie die Liste der empfohlenen Einrichtungen unschwer erkennen lässt, nur von solchen Akteuren wahrgenommen werden, die selbst neben einem thematischen Gestaltungsinteresse auch ein dezidiertes Interesse an der Optimierung der eigenen Marktposition haben (müssen). Weder die Adressaten einer neuen Ausrichtung der Informationsinfrastruktur, insbesondere aus der Wissenschaft, noch die zahlreichen anderen handelnden Einrichtungen auf den dezentralen Ebenen oder die privaten Akteure kommen als aktive oder gar gleichberechtigte Gestaltungspartner bzw. Prozessbeteiligte an prominenter Stelle in den Blick. Auch fehlt in Folge der Orientierung an einem hierarchieorientierten Steuerungsmodell ein grundlegendes Verständnis für die Dynamik explorativer Prozesse und ihrer institutionellen Konsequenzen, etwa bei der Problemfindung und der Zieldefinition. Die genannten Kritikpunkte gelten auch für den zwecks Steuerung und Regulierung des Gesamtprozesses geforderten „Rat für Informationsinfrastrukturen“, auch wenn in diesem Zusammenhang eine breitere Beteiligung der den Prozess tragenden Einrichtungen und ihrer Nutzer für sinnvoll gehalten wird.17[17] Die Verpflichtung zu Koordination, Kooperation und aktiver Informationspolitik bleibt rein appellativ, wenn sie nicht durch klare Regeln für Transparenz und Partizipation begleitet bzw. strukturiert wird und diese auch explizit gefordert werden, wie dies z. B. im Weißbuch der EU-Kommission vorgesehen ist.
Der Wissenschaftsrat hat sich in seiner weitgehend zustimmenden Stellungnahme gerade in diesem Punkt kritisch zu den KII-Empfehlungen geäußert und empfohlen, „strukturbildende Koordinierungsfunktionen über wettbewerbliche Verfahren zu organisieren und nicht in einem Top-down-Prozess einzelne Forschungs- oder Infrastruktureinrichtungen damit zu beauftragen“.18[18] Auch in seinen Erläuterungen und Empfehlungen zur Arbeit des „Rats für Informationsinfrastrukturen“ (RfII) wird den Governance-Fragen eine größere Rolle zugewiesen. Zwar sieht auch der Wissenschaftsrat die Notwendigkeit eines übergeordneten Koordinierungs- und Beratungsbedarfs angesichts der vielfältigen, im Hinblick auf die Aufgabenstellungen lückenhaften und zudem unverbunden nebeneinander agierenden Initiativen, versteht den RfII aber vornehmlich als „Selbstbeobachtungsgremium (monitoring committee) für das Feld der Informationsinfrastrukturen in Deutschland und im internationalen Raum“.19[19] Er setzt dabei insgesamt stärker auf hierarchieübergreifende, arbeitsteilige Kooperationen und betont die „Schnittstellenfunktion, die der Rat für Informationsinfrastrukturen auch zu anderen gesellschaftlichen Bereichen wahrnehmen soll“ und spricht sich für die „Erarbeitung von wissenschaftsadäquaten public private partnership-Modellen“ aus.20[20]
Nachdem die Bundesregierung die Einrichtung des RfIIs im Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode aufgenommen und die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz die Einrichtung beschlossen hatte, nahm er im November 2014 seine Arbeit auf. In der ersten öffentlichen Erklärung vom Juni 2015 geht der RfII auch auf die „Governance der wissenschaftlichen Informationsinfrastruktur in Deutschland“ ein. Demnach sieht er es als seine Aufgabe an, für den anstehenden Transformationsprozess der Informationsinfrastruktur nicht nur „Förderinstrumente, Ressourcenbedarf und rechtliche Rahmenbedingungen“ zu untersuchen, sondern auch die „erforderliche Balance der Interessen von Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit“21[21] zu beleuchten. Wie dies geschehen soll und mit welchem Ergebnis, wird sich wohl erst im weiteren Verlauf der bis Oktober 2018 andauernden ersten Arbeitsperiode zeigen. Interessanterweise hat sich die stellvertretende Vorsitzende des RfII dafür ausgesprochen, Modelle für eine strategische Vernetzung und gemeinsames Vorgehen von konkurrierenden Akteuren, wie sie z. B. in der Pharmaindustrie seit Jahrzehnten mit Erfolg praktiziert werden (Pharma Documentation Ring), auch für die öffentlich-rechtlichen Informationsinfrastrukturen zu erproben, mit dem Ziel einer ressourcenschonenden und zugleich effektiven Bündelung von Handlungsfeldern.22[22] Auch und gerade unter Governance-Gesichtspunkten ist dies ein bemerkenswerter Ansatz.
Die DFG hat in ihrer Programmförderung wesentliche Aufgaben, wie sie im KII-Papier und in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats formuliert waren, aufgenommen, insbesondere in der Ausschreibung zur „Neuausrichtung überregionaler Informationsservices“. In Übereinstimmung mit den genannten Empfehlungen soll die infrastrukturelle Umstrukturierung zu „nachhaltigen, funktional definierten, nationalen Services, die auch international vernetzt sein müssen“,23[23] führen. Die Antragsbedingungen bringen zugleich unmissverständlich die Erwartung zum Ausdruck, „dass die auf verschiedenen Ebenen geführten Diskussionen in Lösungen münden, die konsensfähig sind und von allen Akteuren mitgetragen werden“. Dass dieses ehrgeizige Ziel nicht ohne weiteres zu erreichen sein wird, dürfte auch ohne nähere Kenntnis der Strukturen, Prozesse und Akteure in der deutschen Informationsinfrastruktur-Landschaft zu erahnen sein. Wie komplex es im Detail ist und inwieweit Governance-Fragen dabei eine Rolle spielen, sei an einem Beispiel kurz erläutert. Die häufig wiederkehrende und sachlich zweifellos berechtigte Forderung nach einer Ausrichtung an internationalen Standards, wie sie im deutschen bzw. im europäischen Bibliothekswesen derzeit etwa durch die Einführung der RDA erprobt wird, zwingt zu einer ebenso notwendigen wie überfälligen Diskussion um Nutzen und Kosten deutscher Sonderlösungen, die erfahrungsgemäß ein beträchtliches Konfliktpotential in sich birgt. Dieses Problem wird sich noch verschärfen, wenn die Nutzung internationaler Katalogisierungsplattformen, wie z. B. im CIB-Projekt angedacht, Realität werden sollte. Da die Systemadministration und die Datenhoheit bei den regionalen Verbundzentralen liegen, kommt diesen natürlich ein großes Gewicht bei allen Fragen im Kontext der Einspielung, Anreicherung und Manipulation von Katalogdaten zu. Welche Rolle diese Wissens- und Funktionseliten allerdings darüber hinaus bei einer Reform der Informationsinfrastrukturen spielen können bzw. sollen, bedarf einer genauen und sorgfältigen Analyse, bei der fachliche Kompetenz und institutionelle Rolle abgewogen werden müssen, was wegen der längst über den Kernbereich der Erschließung hinausgehenden Aufgaben und der in den meisten Fällen länderübergreifenden Zuständigkeiten erschwert wird. Dass hier ein Problem vorliegt, kann an der zum Teil hochkontrovers geführten Diskussion um das CIB-Projekt abgelesen werden, bei der besonders die Tatsache, dass private Akteure (ExLibris und OCLC), eine wichtige Rolle übernehmen sollen, Anlass für Kritik ist.
5 Ausblick
Governance-Probleme gibt es im Bibliotheksbereich nicht erst seit der Rede von der „Reform der Informationsinfrastrukturen“ und es gibt sie auch nicht nur in Bezug auf digitale Dienste, sondern z. B. auch bei der Frage einer kooperativen Aussonderungs- oder Speicherstrategie für gedruckte Materialien oder bei den komplexen Fragen zum Erhalt des schriftlichen Kulturguts. Zum erstgenannten Thema, das die Diskussion in Deutschland noch nicht (wieder) erreicht hat, gibt es gerade auch unter Governance-Gesichtspunkten eine höchst interessante Lösung in der Schweiz, wo kürzlich eine kooperative, kantons- und länderübergreifende Speicherbibliothek, für die eigens eine Aktiengesellschaft gegründet wurde, in Luzern eröffnet wurde.24[24] Auch in den bundesweiten Handlungsempfehlungen für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts wird im Rahmen einer Gesamtstrategie, die wie die Reform der Informationsinfrastrukturen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vorgesehen ist, eine Zusammenarbeit jenseits tradierter Sparten und quer zu den föderalen Finanzströmen gefordert.25[25]
Die Übernahme von Modellen und Praktiken aus der Governance-Forschung der letzten Jahrzehnte stellt keinen Königsweg für die Lösung der Probleme dar, die sich bei kollektiven Entscheidungen gesellschaftlicher Aufgaben stets einstellen. Weder vermag sie grundlegende Probleme im kooperativen Föderalismus wie die oft statuierte Inkompatibilität von Parteienwettbewerb und Konsensorientierung, noch das zentrale, kaum vermeidliche Dilemma zwischen Effektivität und Partizipation zu lösen. Anleihen bei der Governance-Forschung können jedoch wichtige Impulse geben, um Planungs- und Entscheidungsprozesse mit nachhaltiger Wirkung zu strukturieren und umzusetzen. Das gilt cum grano salis auch für die Reform der Informationsinfrastrukturen.
Dabei wäre zunächst anzuerkennen, dass eine solche Reform, wie sie in den Grundzügen in den Empfehlungen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz und des Wissenschaftsrates beschrieben wird, im Wesentlichen durch Formen horizontaler Kooperation und nur in kleinerem Maß durch staatliche Intervention umgesetzt werden kann. Natürlich ist die Lösung struktureller Hemmnisse, etwa finanzföderalistischer Art, eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Reform, deren Kohärenz angesichts der vielfältigen Subziele zudem kontinuierlich geprüft werden muss. Bei der Steuerung des Reformprozesses selbst sollten jedoch so weit wie möglich nicht-hierarchische Instrumente und Verfahren, z. B. Zielvorgaben und Monitoring-Techniken, eingesetzt oder erprobt werden. Die naturgemäß unverzichtbare Einbindung der spezifischen Funktionseliten und ggf. die Expertise privater (Markt-)Teilnehmer erfordert nachvollziehbare Verfahren zur Rechenschaftsverpflichtung. Durch geeignete Verfahrensmodi könnte zudem das Fachwissen der am Gesamtprozess beteiligten Akteure bereits bei der Problemdefinition und der Zielformulierung (und nicht erst bei deren konkreter Umsetzung) integriert werden, wobei die Möglichkeit der Modifikation oder Reformulierung von Zielen im laufenden Prozess ernsthaft in Ansatz gebracht werden muss. Dabei ist es essentiell, dass das Gesamt von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Akteuren als interaktives, sich wechselseitig beeinflussendes Netzwerk verstanden und angesehen wird, dessen Teilnehmer sich auf ein dezidiert kooperatives und ergebnisorientiertes Miteinander nach klaren und transparenten Regeln, wie sie etwa auch in der Netzwerkforschung („Netzwerkberatung durch Beratungsnetzwerke“26[26]) analysiert werden, verständigt haben. Auf diese Weise lässt sich nicht nur die Akzeptanz von Zielen und ihrer Umsetzung erhöhen, sondern auch vermeiden, dass unter „Governance“ nur ein rhetorisches Mäntelchen verstanden wird, unter dem lediglich ungeniert partikulare Interessen verfolgt werden können.
Unter Governance-Gesichtspunkten ist das Vorhaben einer Reform der Informationsinfrastrukturen wesentlich weniger ein Steuerungsproblem als vielmehr ein hochkomplexes Problem des „Managements von Interdependenzen“.27[27] Neben den prozessualen Aspekten treten dabei auch strukturelle Fragen in den Fokus, etwa welche institutionellen Strukturen künftig erforderlich sein werden, um die Nachhaltigkeit der Reformergebnisse und die Offenheit des Reformprozesses zu gewährleisten. Ohne eine wissenschaftliche Begleitforschung dürften diese und verwandte Fragen kaum angemessen zu behandeln sein.
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