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Publicly Available Published by De Gruyter Saur August 14, 2014

Museen, Archiv und Bibliothek – Provenienzforschung in der Klassik Stiftung Weimar

  • Rüdiger Haufe

    Rüdiger Haufe

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    , Heike Krokowski

    Heike Krokowski

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    and Peter Prölß

    Peter Prölß

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From the journal Bibliotheksdienst

Zusammenfassung:

Die Klassik Stiftung Weimar überprüft ihre Bestände auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Hierzu gehören die Sammlungen der Museen, die Bestände des Goethe- und Schiller-Archivs und der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Die Provenienzforscher müssen nicht nur die Spezifika der unterschiedlichen Objektarten, wie Gemälde, Grafiken, Autographen oder Bücher berücksichtigen, sondern auch die heterogene Vorgeschichte der Einrichtungen.

Abstract:

The Klassik Stiftung Weimar (Weimar Classicism Foundation) has been checking its collections for Nazi-looted cultural property. This includes the museum collections as much as the stocks of the Goethe- und Schiller-Archiv (Goethe and Schiller Archive) and of the Herzogin Anna Amalia Bibliothek (Duchess Anna Amalia Library). The provenance researchers have to consider not only the specifics of the different object types, like paintings, drawings, autographs or books, but also the heterogeneous history of the collections.

1 Provenienzforschung in der Klassik Stiftung Weimar

Seit dem Jahr 2010 wird in der Klassik Stiftung Weimar (KSW) systematisch erforscht, in welchem Umfang sich in ihren Sammlungen in den Jahren 1933–1945 erworbene Objekte befinden, die nachweislich NS-verfolgungsbedingt entzogen wurden oder bei denen ein verfolgungsbedingter Entzug nicht ausgeschlossen werden kann. Zuvor hatten bereits partielle Recherchen zu einzelnen Erwerbungsvorgängen und Bestandsgruppen stattgefunden.

Die vier großen Kernbestände der Stiftung wurden und werden überprüft: die Bestände der ehemaligen Kunstsammlungen zu Weimar (KUSA), des Goethe-Nationalmuseums (GNM), des Goethe- und Schiller-Archivs (GSA) sowie der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB). Aufgrund der heterogenen Vorgeschichte der heute in der KSW zusammengefassten Institutionen war es dabei von Beginn an notwendig, die Recherchen über den jeweiligen Einzelbestand hinausblickend anzulegen.

So befinden sich z. B. Bücher aus verschiedenen Vorgängerbibliotheken in der HAAB. Hauptsächlich gehen die Bestände auf die 1920 in die Trägerschaft des Landes Thüringen übernommene, ehemalige Großherzogliche Bibliothek zurück, die fortan als Thüringische Landesbibliothek (ThLB) firmierte. 1969 wurde die ThLB mit der kleineren Zentralbibliothek der deutschen Klassik unter deren Namen zusammengeführt und 1991 schließlich in HAAB umbenannt. Die Zentralbibliothek war 1954 als ein Institut der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur (NFG) gegründet worden. Zu den NFG, der Vorgängerinstitution der KSW zu Zeiten der DDR, gehörten das GNM und das GSA, deren Institutsbibliotheken in die Zentralbibliothek eingingen. Um Bucherwerbungen für diese Institutsbibliotheken aus den Jahren 1933–1945 hinsichtlich des Verdachts auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug einer Erstüberprüfung zu unterziehen, ist es daher einerseits notwendig, in deren Zugangsbüchern und Aktenüberlieferungen zu recherchieren. Andererseits sind die zugehörigen Exemplare in der HAAB zu ermitteln und zu autopsieren. In vielen Fällen ermöglicht erst die Zusammenführung der Ergebnisse eine Bewertung und zeigt auf, welche nächsten Rechercheschritte erforderlich sind.

Ähnliches gilt für andere Bestandsgruppen. So verfügt die ThLB über eine eigene Autographen-Sammlung, die 1969 teilweise durch das GSA übernommen wurde. Im Bereich der musealen Sammlungen kam es nach der Fusion der damaligen Stiftung Weimarer Klassik mit den KUSA im Jahr 2003 zu einer umfassenden Neuordnung. Die HAAB wiederum übernahm in diesem Zusammenhang die Institutsbibliothek der KUSA. Weitere Beispiele ließen sich nennen.

2 Umfang der Überprüfungen

Bereits hier wird die Komplexität der Aufgaben einer systematischen Provenienzrecherche in der KSW deutlich, deren Umfang noch nicht vollständig überschaubar war, als im Mai 2010 das von der Berliner Arbeitsstelle für Provenienzforschung geförderte Projekt NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter in den Sammlungsbeständen der KSW startete. Bearbeitet wurde es von einem Historiker in Zusammenarbeit mit der 2009 etablierten, die einzelnen Direktionen der Stiftung übergreifenden AG NS-Raubgut in der KSW. Zuarbeiten erfolgten durch die zuständigen Kustoden, Archivare und Bibliothekare. Das zunächst auf zwei Jahre angelegte und anschließend um weitere zwölf Monate verlängerte Projekt zielte vorrangig auf die Ermittlung und Dokumentation des quantitativen Umfangs an Verdachtsfällen. Als Ausgangspunkt für die Recherchen dienten die Einträge in den zeitgenössischen Zugangsbüchern und Inventaren, die in höchst unterschiedlicher Qualität geführt wurden und zudem nicht für alle Bestände vorhanden sind. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl lokal verfügbarer Quellen (Verwaltungs-, Korrespondenz- und Erwerbungsakten der Vorgängerinstitutionen, Behördenakten, Auktions- und Antiquariatskataloge, internetbasierte Quellen, Sekundärliteratur etc.) ausgewertet.

Zu den Erwerbungen des GNM und der KUSA waren 2.873 Inventareinträge zu überprüfen. Die Anzahl der Objekte liegt aber deutlich höher, da vielfach Konvolute in einem Eintrag zusammengefasst wurden. Die Ausgangslage bei den Erwerbungen des GSA erwies sich als schwieriger, da für den Untersuchungszeitraum 1933–1945 kein Zugangsbuch für angekaufte Objekte existiert. Aus archivalischen Quellen konnten 146 Erwerbungsvorgänge (Ankäufe, Nachlässe und Schenkungen) rekonstruiert werden, die zum Erwerb von ca. 8.000 Autographen, sonstigen Archivalien und einigen Kunstobjekten führten. Die Gesamtzahl lässt sich nicht genauer benennen, da auch hier mehrfach in den Quellen nicht näher quantifizierte Konvolute erworben wurden. Erst im Rahmen der Recherchen des Projekts konnte ein Zugangsbuch der ThLB ermittelt werden, in dem die Autographen-Erwerbungen der Bibliothek ab 1935 verzeichnet sind. Dieses Zugangsbuch weist bis zum Ende des Untersuchungszeitraums 436 Einträge auf. Als Ausgangspunkt für die Recherchen zu den Bucherwerbungen der ThLB dienten die regulären Zugangsbücher aus den Jahren 1933–1945, in denen im Untersuchungszeitraum 35.046 mit jeweils einer Zugangsnummer versehene Einträge verzeichnet wurden. Auch hier liegt die Gesamtzahl der zugehörigen Objekte höher, da mehrbändige Werke, Reihen und z. T. Konvolute oft unter einer gemeinsamen Zugangsnummer erfasst wurden.

Für eine Reihe von Erwerbungen aus den Jahren 1933–1945 konnte bereits im Verlauf des 2013 abgeschlossenen Forschungsprojekts ein dringender bzw. bestätigter Verdacht auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug festgestellt werden. Entsprechend wurden Schritte zu Erbenermittlungen und Restitutionen eingeleitet. Darüber hinaus resultiert aus den Ergebnissen des Projekts jedoch vor allem ein erheblicher weiterer Forschungsbedarf. In vielen Fällen ließen sich zunächst nur Indizien für einen Anfangsverdacht ermitteln. Für die Erwerbungen der KUSA und des GNM, die heute beide zur Direktion Museen der KSW gehören, betrifft dies insgesamt 645 Zugangseinträge, für den Bestand GSA und die heute dort integrierten Autographen-Erwerbungen der ThLB 149 Erwerbungsvorgänge und für die Buchbestände der HAAB 10.482 Zugangseinträge der ThLB.

Um diesem Forschungsbedarf gerecht zu werden, wurde ein neues Projekt Provenienzen, Erwerbungskontexte, ErbenermittlungRecherchen zu Verdachtsfällen NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter in den Beständen der KSW entwickelt. Auf der Grundlage der o. g. Zahlen sowie von Einzelfallstudien zu relevanten Bestandsuntergruppen wurde der Bedarf an wissenschaftlichem Personal ermittelt. Im Ergebnis werden danach 3,2 Personalstellen für fünf Jahre benötigt, um alle für den Untersuchungszeitraum 1933–1945 festgestellten Verdachtsfälle abschließend zu recherchieren. Hier wird auch deutlich, welche Aufgabe vor der KSW liegt, wenn es darum geht, zukünftig die Erwerbungen ihrer Vorgängerinstitutionen nach 1945 zu überprüfen.

3 Schwerpunktaufgaben des aktuellen Projekts

Anders als das Vorgängerprojekt, das in erster Linie der Überprüfung aller Erwerbungen aus dem Zeitraum 1933–1945 und damit der Ermittlung des quantitativen Umfangs der Verdachtsfälle diente, liegt der Schwerpunkt des im Oktober 2013 begonnenen und erneut durch die Arbeitsstelle für Provenienzforschung geförderten Forschungsprojekts auf der detaillierten Tiefenerschließung der unter Anfangsverdacht auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug stehenden Erwerbungen. Drei Historiker/innen in Vollzeit und eine Juristin in Teilzeit widmen sich seither dieser Aufgabe. Die AG NS-Raubgut koordiniert weiterhin die Zusammenarbeit mit den Direktionen, berät und bewertet komplexe Fallgestaltungen und behandelt Fragen der Vermittlung der Forschungsergebnisse nach innen und außen.

Ziel ist die möglichst umfassende Rekonstruktion der Erwerbungskontexte. Dafür sind neben Zugangswegen vor allem individuelle Verfolgungsschicksale und Verlustumstände zu recherchieren, um auf dieser Basis die Bewertung daraus resultierender Wiedergutmachungs- bzw. Restitutionsansprüche zu ermöglichen sowie anspruchsberechtigte Rechtsnachfolger zu ermitteln. Aufgrund der nach Erwerbungsjahren unterschiedlichen Verteilung der Anfangsverdachtsfälle wird davon ausgegangen, dass eine systematische Recherche in der 24-monatigen Förderphase bis einschließlich zu den Erwerbungen des Jahres 1939 erfolgreich durchgeführt werden kann.

Neben der Beibehaltung bewährter begleitender Strukturen und Arbeitsabläufe hat die KSW über das neue Projekt hinausweisende Wege zur weiteren Professionalisierung ihrer Forschungen zu NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern beschritten. Für den langfristigen Arbeitsschwerpunkt wurde ein Fachbeirat berufen, der im Februar 2014 in Weimar zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentraf. Das Gremium wird die Arbeit des Projekt-Teams und der AG NS-Raubgut beratend und evaluierend begleiten. Dem Fachbeirat gehören Dr. Frank Bajohr, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte, München, Dr. Anja Heuß, Provenienzforscherin am Landesmuseum Württemberg und der Staatsgalerie Stuttgart, Dr. Jens Hoppe, Jewish Claims Conference, Frankfurt a. M., und Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Professorin für Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, an.

4 Datenerfassung und Auswertung

Im Projekt sind die unterschiedlichsten Objektarten zu bearbeiten: Bücher, Autographen, Archivalien, Grafik, Gemälde, Plastik, Münzen und Medaillen sowie Kunsthandwerk finden sich in den jeweiligen Sammlungen der KSW. Erwerbungszusammenhänge sowie Provenienzen blieben bei der Erschließung der Gegenstände bislang meist unbeachtet und müssen rekonstruiert werden.

Nicht nur die Objekte, sondern auch die Informationen über diese sind auf die drei heutigen Direktionen Museen, GSA und HAAB aufgeteilt. Jede verwendet eine eigene Bestandsdatenbank und auf die jeweiligen Objektarten angepasste Verzeichnissysteme, so dass ein einfacher Austausch der bereits vorhandenen Informationen nicht ohne Weiteres möglich ist.[1] Für die Provenienzforschung ist diese Trennung hinderlich, stammen doch oft unterschiedliche Objekte aus einer Erwerbung oder gar Provenienz.

Die große Anzahl an Objekten, Quellen und Rechercheergebnissen kann daher nur mit einer einheitlichen Datenbank sinnvoll erfasst werden. In Zusammenarbeit mit der IT-Abteilung wurde auf Basis der Software Filemaker ein System erstellt, das die Forscherinnen und Forscher bei der Dokumentation, Auswertung und Strukturierung der Arbeiten unterstützt.

In der Datenbank werden die Erwerbungsvorgänge erfasst, die sich in den Inventaren finden oder aus Archivalien rekonstruiert werden konnten. Es werden Angaben zu Lieferanten, Kaufpreisen, Datum und Art der Erwerbung („Kauf bei einer Auktion“, „Überweisung“ etc.) sowie die zugehörigen Quellen aufgenommen. Diese Daten wurden überwiegend bereits im vorangegangenen Forschungsprojekt erhoben und bilden nun die Basis für alle weiteren Arbeiten. Den Erwerbungsvorgängen sind die einzelnen Objekte zugeordnet. Hier findet sich die Beschreibung des Gegenstandes: Titel, alternative Titel, Ersteller (Autor oder Künstler), Ort und Datum der Erstellung, verwendete Materialien, beteiligte Personen. Dabei werden alle Objektarten, ob Buch, Handschrift, Skulptur oder Münze, mit derselben Eingabemaske erfasst, ggf. bleiben Felder leer. Ist das jeweilige Objekt im Bestand identifiziert, können Signaturen, Abbildungen und Maßangaben eingefügt werden. Während erworbene Bücher in der Regel über die bibliographischen Angaben und die in den Exemplaren enthaltene Zugangsnummer ermittelt werden können, sind insbesondere bei Graphiken und Gemälden die Materialart, Maßangaben und Bildinhalte zur sicheren Zuordnung – z. B. über Angaben in Auktionskatalogen – notwendig.

Die Autopsien werden von den Kustoden, Archivaren und Bibliothekaren durchgeführt, deren Expertise bei der Identifizierung der Objekte unentbehrlich ist, denn die Angaben in den Inventaren und Quellen sind oft knapp und nicht eindeutig. Auch bedarf die schiere Anzahl der zu überprüfenden Objekte einer Zuarbeit von Seiten der sammlungsführenden Direktionen, da die eigenständige Inaugenscheinnahme das Projekt-Team auf Monate blockieren würde. Die bei der Autopsie aufgefundenen Provenienzmerkmale, in Form von Stempeln, Exlibris, Etiketten oder anderen durch Vorbesitzer angebrachten Kennzeichen, werden einzeln aufgenommen, beschrieben und fotografisch dokumentiert. Das Vokabular orientiert sich am Thesaurus der Provenienzbegriffe, der erweitert wurde, um eine noch genauere Beschreibung und somit gezielte Suchanfragen zu ermöglichen. Vorbilder waren hierbei die Raubgut-Datenbanken der UB Leipzig und der Zentral- und Landesbibliothek Berlin für den Bibliotheksbereich sowie die von der österreichischen Kommission für Provenienzforschung geförderte „Datenbank der Provenienzmerkmale“ für die musealen Gegenstände.[2] Im besten Fall kann aus den Ergebnissen der Autopsien, aus internen und externen Quellen eine lückenlose Provenienzkette rekonstruiert werden, die dann in der Datenbank dokumentiert wird. Den Erwerbungen sind Lieferanten zugeordnet, den Objekten Vorbesitzer oder mögliche Eigentümer und Provenienzmerkmale stehen mit Personen oder Körperschaften in Beziehung. Hier beginnt die eigentliche historische Forschung, um die Umstände des Besitzwechsels eines Gegenstandes mit der gegebenenfalls festgestellten Verfolgung seines Eigentümers in Beziehung zu setzen. Mit Hilfe der Datenbank können nicht nur alle Recherchen dokumentiert, sondern auch die weiteren Arbeitsschritte strukturiert werden. Dies gilt insbesondere für die Planung externer Archivrecherchen.

5 Nummer 39/100

Anhand der Identifizierung einer Provenienz von Büchern aus einem liquidierten Wiener Antiquariat lassen sich die Möglichkeiten dieser Arbeitsstrukturierung wie auch die Notwendigkeit der Verknüpfung der unterschiedlichen Rechercheschritte beispielhaft darstellen. Dabei handelt es sich um drei Bücher, die die ThLB von dem Wiener Antiquariat Alfred Wolf erworben hat und für die als Vorbesitzer der vor seiner Emigration in Wien ansässige jüdische Buchhändler Hans Peter Kraus identifiziert werden konnte.

Hans Peter Kraus (1907–1988) absolvierte in den 1920er Jahren eine Buchhändlerlehre und arbeitete anschließend für den Verlag und die Buchhandlung Ernst Wasmuth in Berlin als Auslandsvertreter in Rumänien und Polen. Zudem war er einige Zeit für den Buchhändler Karl W. Hiersemann in Leipzig tätig. 1932 eröffnete er in seiner Heimatstadt Wien ein Antiquariat, das seit 1934 in der Praterstraße 17 beheimatet war.[3] Die bei seinen Tätigkeiten für Wasmuth und Hiersemann erworbenen Kontakte sollten ihm bei seiner eigenen Geschäftstätigkeit zugute kommen. Selbst unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zur Zeit der Gründung seines Antiquariats konnte Kraus europaweit Buchbestände aufkaufen. Darunter waren bedeutende Sammlungen und Bibliotheken wie die der Prager Musikschule Proksch, der Wiener Kredit-Anstalt sowie diverse Klosterbibliotheken. So baute Kraus in kurzer Zeit ein prosperierendes Geschäft auf und musste schon bald zusätzliches Personal einstellen. Zu Beginn des Jahres 1934 trat daher im Zuge der Erweiterung des Geschäftes der aus Leipzig stammende und dort zuvor bei der Buchhandlung K. F. Koehler tätige Alfred Wolf (geb. 1906) als leitender Angestellter in die Antiquariatsbuchhandlung von Hans Peter Kraus ein.[4]

Wolf war seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP-Ortsgruppe Leipzig und gehörte seit 1934 der „Außenpolitischen Organisation des Bundes der Reichsdeutschen in Österreich“ an,[5] wovon Hans Peter Kraus keine Kenntnis hatte. Nur einen Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 „empfing“ Wolf seinen Arbeitgeber in SA-Uniform und mit „Deutschem Gruß“. Wolf soll Kraus denunziert und so dafür gesorgt haben, dass dieser wenige Wochen später zu ersten Vernehmungen bei der Gestapo vorgeladen, anschließend in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert und später nach Buchenwald überstellt wurde.[6] Im Frühjahr 1939 wurde Kraus mit der Auflage, innerhalb weniger Wochen das Deutsche Reich zu verlassen, aus der KZ-Haft entlassen. In der Zwischenzeit hatte der Treuhänder Gottfried Linsmayer, der in Wien zahlreiche Buchhandlungen arisierte,[7] den Lagerbestand und die Handbibliothek des Antiquariats Kraus liquidiert. Wolf, der diese Buchbestände durch seine langjährige Tätigkeit bei Kraus sehr gut kannte, erwarb große Teile daraus und baute damit seine eigene Antiquariats- und Exportbuchhandlung auf.[8] Die Mutter von Hans Peter Kraus war bei der Auflösung des Geschäfts ihres Sohnes zeitweise anwesend und wurde Zeugin, wie Wolf Bücher und Möbel z. T. eigenhändig auf einen LKW lud und abtransportierte.[9]

Die Umstände der Auflösung bzw. Liquidation des Antiquariats Hans Peter Kraus sowie die zahlreichen anderen Lager- und Bibliotheksbestände, die Alfred Wolf und sein Geschäftsführer Friedrich Richard Riedmann nach 1938 übernahmen, machten es nach 1945 ausgesprochen schwierig, in den verbliebenen Beständen der von den Behörden unter öffentliche Verwaltung gestellten Antiquariatsbuchhandlung Alfred Wolf Buchbestände von Kraus zu identifizieren. Dennoch gelang es dem öffentlichen Verwalter Dr. Erwin Kuffler, in einem Gutachten für das Rückstellungsverfahren aus dem Jahre 1947 nachzuweisen, dass Alfred Wolf die von ihm übernommenen Bücher aus der Buchhandlung Kraus eindeutig kennzeichnete. Kuffler fand mit Hilfe früherer Angestellter von Kraus heraus, dass Wolf dessen Bücher in seiner eigenen Kartei mit einem Zahlencode versah. Die handschriftlich in die einzelnen Exemplare eingetragene Nummer „39/100“ verwies demzufolge auf die Herkunft aus Kraus’schem Besitz. Zudem fand sich in der Kartothek der Exportbuchhandlung Wolf ein Zettel, so Kuffler in seinem Gutachten, auf dem Wolf eigenhändig zu der Angabe „39/100“ den Vermerk „Kraus“ eingetragen hatte.[10]

Anhand der Angaben in diesem Gutachten konnte die Provenienz der drei von der ThLB erworbenen Bücher eindeutig bestimmt werden. Bei der Autopsie wurden sämtliche Spuren – Eintragungen, Stempel, handschriftliche Vermerke – fotografiert und somit dokumentiert. In den drei Büchern fanden sich die Eintragung „39/100“ und weitere Hinweise. Nach Abschluss der Archivrecherchen in Wien konnten diese Spuren zugeordnet werden. Ergänzt wurde die Zuordnung durch Literaturrecherchen: In seiner Autobiographie berichtet Hans Peter Kraus, dass eine seiner ersten Erwerbungen nach Eröffnung seines Antiquariats im Jahr 1932 die Bibliothek der Musikschule Proksch in Prag gewesen sei.[11] Auch für diese Provenienz finden sich Spuren in zwei der drei über Wolf erworbenen Bücher, denn sie tragen den Stempel „Eigenthum der Musikbildungsanstalt der Marie Proksch Prag“. So konnte die Provenienzkette über die Zusammenführung diverser Rechercheergebnisse (Erwerbungszusammenhang – Autopsieergebnis – Archivrecherche zum Antiquariat Wolf und zur Liquidation des Antiquariats Kraus – Äußerungen von Kraus zum Erwerb seiner Bestände) geklärt werden.

Der Vorgang wurde an die zum Team gehörende Juristin übergeben, die mit den inzwischen ebenfalls ermittelten anspruchsberechtigten Erben von Hans Peter Kraus Kontakt aufnehmen und das Restitutionsverfahren vorbereiten wird.[12]

Weitere handschriftliche Nummern, die sich in anderen von der Antiquariats- und Exportbuchhandlung Alfred Wolf durch die ThLB erworbenen Büchern fanden, konnten hingegen (noch) nicht zugeordnet werden.

Die Ergebnisse der Recherche wurden ins Online-Portal der Arbeitsstelle für Provenienzforschung eingestellt. Nach kurzer Zeit meldeten sich weitere Bibliotheken, die nicht nur über Alfred Wolf erworbene Bücher in ihren Beständen haben, sondern auch die spezifische Nummer „39/100“ feststellen konnten. Da nun aber bekannt ist, dass diese Nummer die Herkunft bezeichnet, besteht die Möglichkeit, Hinweise zu weiteren solchen Merkmalen/Nummern/Kennzeichen zu finden. Hier zeigt sich erneut, dass eine enge Vernetzung mit anderen Provenienzforschern sowie der Austausch von Rechercheergebnissen und Autopsiebefunden zusätzliche, möglicherweise sogar entscheidende Informationen vermitteln können.[13]

Und dies gilt nicht nur für Bibliotheken: Die Ergebnisse der Provenienzforschung in der KSW verdeutlichen auch, dass gattungs- und bestandsübergreifenden Ansätzen stärker nachgegangen werden sollte. Wer sich als Sammler für die Weimarer Klassik begeisterte, sammelte zumeist nicht nur Gemälde oder nur Bücher oder nur Autographen, er sammelte „Goethe“ oder „Schiller“ und somit die verschiedensten thematisch damit verbundenen Objekte. Wurde eine solche Sammlung in der NS-Zeit verfolgungsbedingt veräußert oder entzogen, ging ihr Zusammenhang oft verloren. Gemälde kamen in Museen, Autographen in Archive, Bücher in Bibliotheken. Zweifellos lässt sich im Falle von heute in den Beständen der KSW befindlichen Objekten aus derartigen Sammlungen ein über Thema und Provenienz gegebener Zusammenhang leichter ermitteln. Die Aktenüberlieferungen der in der NS-Zeit maßgeblich als Erwerber infrage kommenden Weimarer Institutionen befinden sich gesammelt im GSA, der institutionelle Zusammenhang unter dem Dach der KSW ermöglicht einen schnelleren Austausch der Informationen, das Team der Provenienzforscher und die AG NS-Raubgut arbeiten bestandsübergreifend. Anders als bei vielen anderen Forschungsprojekten, die oft nur einen Sammlungsbereich in den Fokus nehmen, besteht hierin eine Besonderheit der Projekte in der KSW.

Aber auch verfolgte Sammler, deren Interessen gattungsspezifischer lagen, die vielleicht vorrangig Gemälde alter Meister sammelten, besaßen oft zugleich noch andere Kulturgüter, die ihnen entzogen wurden – Handschriften der von ihnen bevorzugten Künstler, eine wertvolle Bibliothek oder anderes. Um solchen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, bedarf es eines verstetigten Informationsaustausches und der Kooperation zwischen den unterschiedlichsten sammlungsführenden Institutionen – Museen, Archiven und Bibliotheken – in Deutschland und darüber hinaus.

About the authors

Rüdiger Haufe

Rüdiger Haufe

Heike Krokowski

Heike Krokowski

Peter Prölß

Peter Prölß

Rüdiger Haufe:

Heike Krokowski:

Peter Prölß:

Published Online: 2014-08-14
Published in Print: 2014-08-30

© 2014 by De Gruyter

Downloaded on 29.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bd-2014-0083/html
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