Obgleich sie sich aus dem Leben der meisten Europäer verabschiedet hat, ist Gewalt in den Nachrichten, mit denen uns die modernen Medien überschütten, nahezu allgegenwärtig. Denn Bilder der Gewalt scheinen trotz der Tatsache, dass sie wie alle Bilder inszeniert und manipuliert werden, auf so etwas wie Realität zu verweisen, ja ihre Beliebtheit in den Massenmedien mag sich dem effet du réel zu einem Gutteil verdanken. Auf einem ähnlichen Effekt könnte die Attraktion beruhen, die das Thema Gewalt seit einigen Jahren auf die Sozial- und Kulturwissenschaften ausübt. Denn dem selten erhobenen, in der Selbstwahrnehmung aber stets virulentem Vorwurf, nichts Relevantes mehr zu sagen zu haben, können sie kaum wirkungsvoller entgegentreten als durch die Erforschung von Macht und Gewalt, mit der sie in aufklärerischer Tradition Vernunft und Moral auf ihre Seite zwingen: »In einer Zeit, in der immer häufiger Krieg und Terror im Namen des vermeintlich Guten gegen das angeblich radikal Böse propagiert werden, drängt sich die kritische Rückfrage nach der Verbindlichkeit der angegebenen Gründe [für Gewalt, M. B.] auf.« Die »kritische Rückfrage« richtet sich hier an das Mittelalter, vor allem an seine Philosophie. Wenn sich die Mediävistik anschickt, ihrerseits den Geltungsfonds der Gegenwartsrelevanz anzuzapfen, hat sie sich freilich der Frage »Was hat dieses erschreckende und ziemlich scheußliche Mittelalter mit der Gegenwart zu tun?« zu stellen. Um sie zu beantworten, bedarf es der Klarheit darüber, wie sich mittelalterliche und moderne Gewalt zueinander verhalten: Ist das Mittelalter das Andere der Gegenwart oder ihr Ursprung? Dass der Gegenstand Gewalt solche Selbstreflexion erzwingt, macht seine eigentliche Bedeutung für die Wissenschaften vom Mittelalter mit aus.
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005