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Publicly Available Published by De Gruyter (A) February 21, 2019

Die Fragmentierung der gegenwärtigen Philosophie am Beispiel der Philosophiegeschichte

  • Nicholas Rescher EMAIL logo

Abstract

It can be argued that we live in a golden age for the history of philosophy: more relevant historiographical works in the field are being published today than ever before. The present paper tries to explain this as an effect of the exponential quantitative and qualitative expansion of philosophy, its subdisciplines and its fields of research since at least the mid-twentieth century. It then explores some of the consequences of these current trends and the challenge they represent for any relevant effort in history of philosophy today.

1 Einleitung

Es lassen sich gute Gründe für die These vorbringen, dass eine seriöse Geschichtsschreibung eine moralische und ethische Dimension besitzt – dass sie als Teil der Rückzahlung einer geschuldeten Wertschätzung und Anerkennung jenen gegenüber zu verstehen ist, die vor uns kamen, um die Bühne zu errichten, auf der unser eigenes Schauspiel zur Aufführung kommt.

So gesehen können wir uns glücklich schätzen, im goldenen Zeitalter der Philosophiegeschichtsschreibung zu leben, in einem Zeitalter, das die entsprechenden Bücher in beispielloser Zahl und Geschwindigkeit auf den Markt bringt. Neue, umfassendere und bessere Ausgaben der „Sämtlichen Werke“ nahezu aller wesentlichen philosophischen Persönlichkeiten sind preiswert erhältlich oder in Arbeit. Spezialstudien gibt es im Überfluss, Nachschlagewerke finden zunehmende Verbreitung, themenbezogene Sammel- und Tagungsbände treten nahezu flutartig in Erscheinung. Nie zuvor ist Studenten und Gelehrten historisch aufschlussreiches philosophisches Material in einer solchen Fülle verfügbar gewesen.

In gewisser Weise ist für diese Situation ein seltsamer Umstand verantwortlich. Das zwanzigste Jahrhundert hatte einen heftigen Sturm des philosophischen Widerstands gegen all das erlebt, was der traditionellen Philosophie gleicht. Wittgenstein, Heidegger, Reichenbach, Rorty und die ganze Schar der logischen Positivisten propagierten die Vorstellung, dass all das, was der traditionellen Philosophie glich, als Ballast abzuwerfen sei. Sehr viele jener, die dieser Tradition anhingen, suchten Zuflucht in der Philosophiegeschichte. Was die Philosophie verlor, gewann die Geschichte der Philosophie.

2 Ungewisse Grenzen

Beim Nachdenken über die Geschichte der Philosophie stellt sich erst einmal die Aufgabe, den Umfang des Diskussionsgegenstands zu bestimmen. Der vielleicht am wenigsten problematische sachgemäße Weg, die Grenzen der Philosophie festzulegen, besteht darin, bibliografisch zu verfahren. Dementsprechend würde man mit den wenigen traditionell „großen Fragen“ unbestreitbar philosophischen Interesses beginnen (Realität, Menschsein, Rationalität, Wahrheit, Gerechtigkeit, Tugend etc.) und dann, rekursiv verfahrend, als philosophisch vorrangig erstens Diskussionen dieser Themen und darauf folgend zweitens jene Diskussionen klassifizieren, in denen Diskussionen eine prominente Rolle zukommt, die zuvor anerkannt worden sind.

Entscheidend wäre folglich das Band thematischer Abstammung. Jene Fragestellungen, die angesprochen werden müssen, wenn man Fragestellungen anführt, die bereits als philosophische Fragestellungen anerkannt sind, werden dadurch berechtigt, selbst als solche zu zählen. Diese Rekursivität sorgt für einen produktiv offenen Prozess. Mit der Erweiterung des Umfangs des betreffenden Diskurses werden sich auch die Grenzen des Feldes erweitern. Erst wenn in der Folge mehrerer Wechselwirkungen dieses rekursiven Verfahrens das Prinzip des sinkenden Ertrags zum Zuge kommt, findet das Unternehmen ein Ende. Im Ergebnis wird das Feld selbst nach historischen Prinzipien bestimmt, genauso wie fast jeder es heutzutage versteht.

3 Ein Wachstumsbranche

Was sollte den Vorrang haben: bedeutende (d. h. einflussreiche) Denker oder bedeutende (einflussreiche) Ideen? Die Antwort ist, dass eine gute Geschichtsschreibung versuchen wird, sich in beiden Richtungen zu orientieren: Sie wird das Hauptaugenmerk darauf legen, was bedeutende Denker zu bedeutenden Fragen zu sagen haben. Ob nun die Geschichtsschreibung biografisch personenbezogen oder doxografisch ideenbezogen vorgeht – diese Art kombinatorische Vorgehensweise sollte das Ziel sein.

In den letzten Jahren hat sich das Feld insgesamt enorm vergrößert, und zwar nicht nur in Bezug auf das, was „gewusst“ wird, sondern auch auf das, wonach gefragt werden kann. Nahezu jede zweite Erkenntnis eröffnet neue Fragen. Das Phänomen der unaufhörlichen „Geburt“ neuer Fragen wurde zuerst von Immanuel Kant betont, der in seiner klassischen Kritik der reinen Vernunft die Entwicklung der Naturwissenschaft als einen sich immerfort erneuernden Kreislauf von Fragen und Antworten beschreibt, wo „eine jede nach Erfahrungsgrundgesetzen gegebene Antwort immer eine neue Frage gebiert, die eben so wohl beantwortet sein will, und dadurch die Unzulänglichkeit aller physischen Erklärungsarten zur Befriedigung der Vernunft deutlich dartut“ [1]. Man könnte dies „Kants Prinzip der Fragenvermehrung“ nennen.

Das Entscheidende an der gegenwärtigen Philosophie besteht somit im genauen Umfang dieses Berufsstands. Man betrachte nur Nordamerika allein: Dank seines Systems von Colleges leben und arbeiten hier tatsächlich die Hälfte der akademischen Philosophen weltweit. Die American Philosophical Association, zu der die meisten der Amerikaner, die in diesem Bereich beschäftigt sind, gehören, hat gegenwärtig weit mehr als 8000 Mitglieder und das Directory of American Philosophers, das Gesamtverzeichnis der Branche, listet für die Jahre 2016–2017 mehr als 15 000 Philosophinnen und Philosophen auf, die an Colleges und Universitäten der USA und Kanadas arbeiten. Gemessen an dem andernorts Üblichen sind nordamerikanische Philosophen außerordentlich gesellige Wesen. Abgesehen von der gewaltigen American Philosophical Association existieren gegenwärtig 173 verschiedene philosophische Gesellschaften in den USA und Kanada, von denen die meisten mehr als einhundert Mitglieder haben. Auch gibt es gegenwärtig viele Gesellschaften mit zugehörigen Zeitschriften, die sich dem Leben und Wirken einer einzelnen Philosophenpersönlichkeit widmen. Zum Teil des „Publish-or-perish“-Syndroms ihrer akademischen Basis wegen sind amerikanische Philosophen außerordentlich produktiv. Sie veröffentlichen gegenwärtig weit mehr als 200 Bücher jährlich. Ausgabe für Ausgabe füllen sie die Seiten von über 350 Zeitschriften. Nahezu 4000 philosophische Publikationen (Bücher und Artikel) und eine annähernd gleiche Anzahl an Beiträgen zu Konferenzen und Symposien erscheinen jährlich in Nordamerika. Gewiss sind dies Kleinigkeiten im Vergleich zu anderen akademischen Unternehmungen: Zur wissenschaftlichen Forschungsgesellschaft Sigma Xi gehören gegenwärtig mehr als 100 000 Wissenschaftler, die Modern Language Association zählt mehr als 25 000 Mitglieder. Gleichwohl könnte eine Kleinstadt von nicht unbeträchtlicher Größe allein mit den gegenwärtigen nordamerikanischen akademischen Philosophen bevölkert werden. Die Welt im Ganzen würde diese Zahl mehr als verdoppeln.

Darüber hinaus war das zwanzigste Jahrhundert – was die Anzahl der Universitäten oder anderer Einrichtungen akademischer Bildung sowie der akademischen Publikationen betrifft – Zeuge einer praktisch exponentiellen Zunahme der Gelehrten- und Wissenschaftstätigkeit. Die Philosophie ist von diesem institutionellen Wachstum infolge der demografischen Erfahrung nicht ausgenommen. (Eigentlich wäre es, statt von „Demografie“ zu sprechen, die sich mit allen Menschen, dem Demos, beschäftigt, vielleicht nützlich, von „Philosophografie“ zu reden, die sich speziell mit Philosophen befasst!)

Interessanterweise hat der Ertrag an philosophischen Publikationen bei weitem die Zunahme der Mitglieder des Berufsstands übertroffen. Im Zeitraum von 1975 bis 2017 stieg die Anzahl der Fachzeitschriften von etwa 100 auf etwa [2] Die Anzahl philosophischer Publikationen (Bücher und Aufsätze) erhöhte sich von knapp über 5000 auf 12 [3] So ist in einem Berufsstand, der sein Personal und seine Erzeugnisse binnen einer Generation um mehr als das Doppelte erhöht hat, für den Historiker weitaus mehr zu tun.

4 Horizonterweiterung

Die Philosophiegeschichte hat die Arbeit der Philosophen zu rekonstruieren: Sie muss beschreiben, was die Philosophen tun, und sie muss erläutern, wieso sie dies so tun, wie sie es tun. Auf dieser Grundlage hat die Erweiterung des philosophischen Berufsstandes in der Moderne somit verhängnisvolle Konsequenzen für die Geschichtsschreibung der neueren und zeitgenössischen Philosophie: denn die beträchtliche Zunahme der Anzahl der Menschen, die Philosophie lehren und philosophische Texte schreiben, hat zur Folge, dass erstens die früheren, klassischen Vertreter des Faches zwangsläufig ein unverhältnismäßig großes Maß an Aufmerksamkeit erhalten und zweitens die gegenwärtige Geschichte des Gegenstands zwangsläufig auf eine Weise behandelt wird, die nicht wirklich überzeugend und solide ist. [4] Die Geschichte der Philosophie muss mit der Tatsache klarkommen, dass sich die Philosophie, wie jedes andere wissenschaftliche und akademische Fach, in einem Prozess fortwährender Vervielfältigung von Einheiten und Untereinheiten befindet. Getrieben von der dialektischen Natur des Fachs, deren Impuls das Bedürfnis nach immer subtileren Unterscheidungen und Details erzeugt, wird das Unternehmen von Spezialisierung und Arbeitsteilung geprägt. Hier muss die besondere Bedeutung der Einsicht anerkannt werden, die Melvil Dewey geleitet hatte, das Dewey-Dezimalsystem bibliografischer Klassifikation vorzuschlagen, nämlich ein Klassifikationsschema, das die fortlaufende Verzweigung und Differenzierung eines jeden Forschungsgebiets einschließlich der Philosophie und dessen fortlaufendes Ausprägen und Ausfalten aus einer weniger komplexen Gestalt ermöglicht.

Dementsprechend ist das Bild, das sich von der philosophischen Gemeinde im Ganzen abzeichnet, im Laufe der Zeit immer komplexer geworden. Die Philosophie gleicht einem Schneeball, der, je weiter er rollt, wächst, weil er immer mehr Material in sich aufnimmt. Neue Problemstellungen werden, nachdem sie erst einmal aufgenommen worden sind, zum „bleibenden Themenbestand“ und fordern ihren Platz in Bibliotheken, Lehrbüchern und Lehrplänen. Der einzelne Philosoph mag eine schlichte Auffassung des Gegenstands besitzen und vom Fach glauben, in ihm werde äußerst sparsam gewirtschaftet. Betrachtet man die philosophische Gemeinde im Ganzen, so kommt man zu der Auffassung eines immer üppigeren, sich ausdifferenzierenden und verzweigenden Wachstums.

Folglich ist das gegenwärtige Bild der taxonomischen Lage des Gebiets der Philosophie erheblich komplexer und verzweigter als alles Vorausgehende. Die derzeitige Komplexitätssteigerung des Gegenstands hat das alte dreiteilige Schema von Logik, Metaphysik und Ethik endgültig aufgebrochen. Die Lage ist so komplex und unübersichtlich geworden, dass sie mittlerweile zweifelsfrei den generellen Prozess der Ausbreitung in philosophische Teildisziplinen zur Schau stellt, der Alexander Gottlieb Baumgartens Kennzeichnung der Philosophie als „Sciographie“ zugrunde lag.

5 Auswirkungen auf den Einzelnen

5.1 Hürden der Exzellenz

Ein problematischer Aspekt dieses akademischen Aufschwungs besteht darin, dass er der Meisterung einer philosophischen Thematik im Wege steht. Angesichts der harten Realität einer ausufernden Philosophiegemeinschaft steht der Philosophiehistoriker vor einer gewaltigen Herausforderung. Wenn man ihr nachgeht, X auf Y bezieht und dann für weitere Verbindungen Z als Gegenspieler einbringt, ist man schnell bei einer Literatur, die umfassender ist, als ein jeder bestimmte Einzelne bewältigen kann. Allein die 100 neuen Bücher zu lesen, die jedes Jahr über Kant erscheinen – geschweige denn, über diese nachzudenken und ihre Interpretationsangebote miteinander in Beziehung zu bringen –, ist eine Aufgabe, die selbst die engagiertesten Kant-Forscher zu meistern nicht in der Lage sind. Die Menschen können einfach mit dem, was die Philosophiegemeinschaft anzubieten hat, nur auf einem äußerst beschränkten Themenfeld Schritt halten.

Obwohl die Menge des produzierten Materials exponentiell angestiegen ist, bleibt doch deren Konsumtion durch einen jeden bestimmten Einzelnen konstant. Während die Gemeinschaft sich sprunghaft entwickelt, setzt der Einzelne einen Schritt vor den anderen.

Es liegt in der Natur der Sachlage begründet, dass die bereichsbezogenen Themen der Reflexion den Umfang dessen überbieten werden, was jemals tatsächlich thematisierbar ist. Das Reich des der Erwägung theoretisch Zugänglichen geht hier bei weitem über den Bereich dessen hinaus, was praktisch gesehen zu bearbeiten möglich ist. Die Verflechtung von Ideen erzeugt ein Themenspektrum, das durch den Umfang verfügbarer Recherche den Aktionsbereich praktikabler Forschung übersteigt. Weil dieser Umfang zunimmt, wird auch die Themenliste umfänglicher, die aufgrund der Vermehrung von Kombinationsmöglichkeiten schneller wächst als der Umfang zunimmt. Man wird dann selektiv vorgehen und sich mit einem kleinen Teil des umfänglichen Bereichs deliberativer Betrachtung bescheiden müssen.

Auch wenn nur ein Prozent der gegenwärtigen Philosophen bedeutsame Arbeit leisten sollten, wären dies immerhin zweihundert Zeitgenossen, mit deren Werk sich ein vielseitig orientierter Historiker der Gegenwartsgeschichte zu beschäftigen hätte. Aber keiner vollbringt diesen Kraftakt – oder kann ihn tatsächlich vollbringen. (Vielleicht ist der vor einiger Zeit verstorbene John Passmore dem Ziel so nahe gekommen wie kein anderer, aber er hatte nicht viele Konkurrenten.) Gegenwärtige Philosophiehistoriker stehen vor einer gewaltigen Herausforderung. Während der Themenbereich der älteren Philosophie den Eindruck erweckt, überstrapaziert zu sein, scheint die neuere und zeitgenössische philosophische Szene für eine Gesamtthematisierung zu komplex und zu breit gefächert.

5.2 Spezialisierung und Arbeitsteilung

Komplementarität besteht immer da, wo zwei Faktoren so aufeinander bezogen sind, dass der eine nur zunehmen kann, wenn der andere abnimmt. Dieser Zusammenhang ist vor allem in Bezug auf die Breite und Tiefe der Erkenntnis bedeutsam. Dies hat seinen Grund in der folgenden offensichtlich plausiblen Idee: Um seinen Anforderungen gemäß arbeiten zu können, muss der Historiker einen bestimmten Prozentsatz der maßgeblichen Literatur bewältigen. (Für unseren Zusammenhang ist der fragliche genaue Anteil irrelevant.) Jedoch wird ein feststehender Prozentsatz eines sich ständig erweiternden Bereichs die Grenzen menschlicher Bewältigung überschreiten. Als Lösung bleibt dann nur der Wechsel zu einem zunehmend kleineren, enger gefassten Forschungsbereich – kurz gesagt: die zunehmende Spezialisierung.

Die Technologie elektronischer Informationsverarbeitung wirkt sich, wie auf alles andere, auch auf die Philosophiegeschichtsschreibung aus. Insbesondere hat sie die den Printmedien eigenen Grenzen der Druckkapazität aufgehoben. Es gibt keinen Grund, warum eine Online-Enzyklopädie, ein Online-Lehrbuch oder Online-Wörterbuch seinen Beiträgern Umfangsbeschränkungen für ihre Texte auferlegen sollte – diese Schranken sind gefallen. Allerdings verstärkt auch dies die Arbeitsteilung und führt zur Überspezialisierung. Der Informationsausstoß kann exponentiell zunehmen, die Informationsaufnahme bleibt ziemlich genau die gleiche wie bisher. Bei Informationen wie bei der Nahrung gibt es eine Obergrenze dafür, was die eine Einzelperson aufnehmen und verdauen kann.

Als zwangsläufiges Ergebnis ist festzuhalten, dass der Prozess der Arbeitsteilung, der jeden Zweig zeitgenössischer Wissenschaft und Lehre auffallend kennzeichnet, an der Philosophie nicht vorbeigegangen ist. Sukzessive Gesamtdarstellungen wie die von Zeller oder Ueberweg können unsere Zeitgenossen nicht mehr in Angriff nehmen. Der Materialumfang ist einfach zu groß, um durch Einzelpersonen gemeistert zu werden. Selbst einzelne Philosophen lassen sich nur noch aspektbezogen erfassen, analog zu Arbeiten zum frühen oder zum späten Wittgenstein bzw. zum Kant der praktischen oder zum Kant der theoretischen Philosophie. Die gegenwärtige Literatur der Philosophiegeschichtsschreibung enthält somit eine Überfülle sich immer stärker differenzierender Teilforschungen zu bestimmten Texten und Themen.

5.3 Geistesverwandtschaftliche Gruppenbildungen

Ein „Gelehrter“ kann im Wahrnehmungsfeld eines anderen in verschiedenen Graden der Bedeutsamkeit auftreten. Eine solche Verwandtschaft, die durch Bezugnahme zweier Gelehrter, X und Y, besteht, lässt sich durch zwei Verhältnisbestimmungen darstellen: X/Y betrifft den Anteil der Bezugnahmen von X auf Y, Y/X den Anteil der Bezugnahmen von Y auf X. Ist ein solcher Anteil vergleichsweise groß, dann können wir sagen, dass der eine zur Verwandtschaftsgruppe des anderen gehört.

Die Angehörigen der meisten Gelehrten- und Forschungsgemeinschaften gehören zu solchen Verwandtschaftsgruppen. Für die Geschichte der Philosophie ist dies nicht ungefährlich. Wir finden hier das Phänomen der Überspezialisierung: Wissenschaftler wenden sich nur noch an die Kollegen ihrer unmittelbaren Verwandtschaft, mit denen sie eine Galapagos-Kultur der Denkisolation erschaffen, statt den Kontakt mit jenen Kollegen zu halten, die sich eher mit Fragen beschäftigen, die dem Mainstream zugehören.

Sehr häufig sind zwei verschiedene, zuweilen auch gegenläufige Tendenzen daran beteiligt, ein Kräftegleichgewicht zu schaffen. Die eine besteht in der Neigung zur Absonderung, zur Unterscheidung – im Wunsch einzelner Gelehrter, „ihr eigenes Ding zu machen“, eigenen Projekten nachzugehen und sich nicht an der Bearbeitung der Problemstellungen zu beteiligen, mit denen alle anderen beschäftigt sind. Die andere Tendenz besteht in der Neigung zum Miteinander – im Wunsch der Gelehrten nach Gefährten danach, mit jenen anderen zu interagieren, die ihre Interessen soweit teilen, dass sie ihnen Gesprächspartner und eine Leserschaft intellektueller Artgenossen vermitteln. Die erste, zentrifugale Tendenz besagt, dass Philosophen über die gesamte Weite des Felds ausschwärmen und alle oder fast alle „ökologischen Nischen“ innerhalb des Problembereichs besetzen werden. Die zweite, zentripetale Tendenz besagt, dass alle oder fast alle dieser Problemunterbereiche mehrfach belegt sind und sich Gruppen oder Netzwerke verwandter Geister bilden, womit die Gemeinschaft als Ganzes sich aus Untergemeinschaften zusammensetzt, die gemeinsame Interessen teilen (welche eine wichtigere Rolle spielen als gemeinsame Meinungen), wobei sich jede Gruppe von den übrigen durch abweichende Prioritäten unterscheidet, die das betreffen, was die „wirklich interessanten und bedeutsamen Fragestellungen“ sind. Folglich ist das auffälligste Merkmal der zeitgenössischen Philosophie, wie auch ihrer Geschichte, ihre Fragmentierung. Jede Stellungnahme, jede Theorie und jede Methode findet irgendwo innerhalb der Gesamtgemeinschaft ihre Anhänger. Zu den meisten der umfassenderen Fragestellungen gibt es keine dominierenden Mehrheiten – eine Tatsache, die für den Historiker eine enorme Herausforderung darstellt.

6 Auswirkungen auf des Feld

6.1 Komplexitätssteigerung

Schon lange vor Darwin hatte der englische Philosoph Herbert Spencer (1820– 1903) behauptet, dass die biologische Evolution durch das Entwicklungsgesetz Karl Ernst von Baers (1792–1876) geprägt sei. Spencer zufolge ist Evolution der Übergang „von einer relativ unbestimmten, inkohärenten Einheitlichkeit zu einer relativ bestimmten, kohärenten Verschiedenartigkeit“ [5]. Sie schaffe auf diese Weise eine beständig zunehmende Genauigkeit des Details und der Differenziertheit der Einzelglieder. [6]

Nun mag diese Auffassung des Entwicklungsprozesses auf die biologische Evolution nur beschränkt anwendbar sein; es besteht aber wohl kaum ein Zweifel daran, dass sie für die kognitive Entwicklung Gültigkeit besitzt: denn vernunftbegabte Wesen werden natürlich zuerst versuchen, auf die einfachen Erklärungen zurückzugreifen, und danach Schritt für Schritt zu einer immer umfassenderen Komplexität geleitet. Im Verlauf einer rationalen Erkundung suchen wir zuerst nach einfachen Lösungen; erst danach, d. h., falls und wenn diese Lösungen nicht mehr funktionieren – insoweit sie durch weitere Entwicklungen verworfen werden –, gehen wir zu den komplexeren über. Alles geht so lange seinen Gang, bis die erweiterte Erfahrung eine zu einfache Lösung destabilisiert. Dieser Prozess ist natürlich auch in der Philosophiegeschichtsschreibung wirksam. Hier stellen sich die Dinge so dar, dass Fragen der Periodisierung, der thematischen Klassifizierung und der „Denkschulen“, der Wechselbeziehungen von Lehrmeinungen und Methoden und Ähnlichem einem Prozess der Aufspaltung und Komplexitätssteigerung unterliegen. In der Tat stellt die fortwährende Fragmentierung der Philosophie, ihre beständig zunehmende taxonomische Vermehrung von Spezialfächern und Spezialfächern von Spezialfächern die Einheit des Fachs als eines zusammenhängenden Ganzen intellektueller Bestrebungen in Frage.

Als Folge dessen wird die institutionalisierte Philosophie unfähig, die Philosophie an sich zu repräsentieren. Keine Universität verfügt über ein Kollegium, das groß genug wäre, das gesamte Feld abzudecken. Keine Person oder keine Arbeitsgruppe kann mit dem Ganzen klarkommen. Diese Sachlage erklärt zu weiten Teilen auch, warum niemand eine umfassende Geschichte der Philosophie geschrieben hat, die bis zur gegenwärtigen Philosophieszene reicht. Sie erklärt auch, warum der traditionelle biographische Ansatz der Philosophiegeschichtsschreibung ein zunehmend unbefriedigendes Verfahren ist, ein angemessenes Bild des gesamten Feldes zu erlangen.

6.2 Erweiterung der Themenliste und thematische Balkanisierung

Die Erweiterung der Themenliste ist eines der auffallendsten Merkmale der gegenwärtigen amerikanischen Philosophie und als Folge dessen auch ihrer Geschichtsschreibung. Die Seiten ihrer Zeitschriften und die Programme ihrer Tagungen zeugen von der Vielzahl von Diskussionen von Fragestellungen, die ihren Vorgängern früherer Tage und den zeitgenössischen Philosophen andernorts seltsam erscheinen würden. Die Tatsache, dass diese vielen hundert Philosophen nach Neuland suchen, um es zu kultivieren, nach neuen Feldern, auf denen es nicht einfach darum gehen soll, Bekanntes nochmals zu erkunden, führt zu einem Populationsdruck, den philosophischen „Lebensraum“ zu mehren.

Durch diese Erweiterung der Themenliste ist die Struktur der Philosophie selber revolutioniert, ihr altehrwürdiges Klassifizierungsschema mit seiner Dreiteilung der Philosophie in Logik, Metaphysik und Ethik endgültig aufgebrochen worden. Spezialisierung und Arbeitsteilung grassieren, philosophische Familienbetriebe bestimmen das Tagesgeschäft. Als Zeichen dafür, wie komplex und inhomogen die Situation mittlerweile ist, mag gelten, dass die meisten neueren englischsprachigen philosophischen Enzyklopädien mit Bedacht von jeglicher Klassifikation Abstand nehmen. [7]

Da es keiner einzelnen Person möglich ist, einen angemessenen Überblick über das Ganze zu erlangen, kann möglicherweise nur die Arbeit von verstreut arbeitenden Kollektiven ein vergangenes Bild der Gesamtlandschaft liefern. Infolgedessen verfügen wir über keine Geschichte der zeitgenössischen Philosophie – und können vielleicht auch nicht über sie verfügen –, die die Aufgabe in Angriff nimmt, der komplexen Disziplin, mit der wir befasst sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das Vorhaben, eine Geschichte der zeitgenössischen bzw. jüngeren Philosophie zu schreiben, ist aussichtslos. Der zukünftige Gelehrte, der nach einer solchen Aufgabe verlangen sollte, wäre gut beraten, sich an die Proceedings of the American Philosophical Association zu halten oder noch besser an die deutsche Philosophiezeitschrift Information Philosophie, um sich ein aussagekräftiges Bild der zeitgenössischen Szene zu verschaffen. Die gegenwärtige philosophische Szene im Ganzen ist dem Wahrnehmungsfeld der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung entwachsen und passt besser zu den Darstellungsweisen des Feuilleton-Journalismus als zu den geschichtlich überlieferten der Philosophiegeschichtsschreibung – ähnlich wie in der allgemeinen Geschichte.

6.3 Exegetische Distanzierung

Die begleitende Erweiterung des Textraums der Philosophie ist eine unvermeidliche Folge dieses Szenarios, weil die textsprachlichen Debatten immer umfangreicher, elaborierter und komplexer werden. Die Ausprägung dieses auffallenden Phänomens lässt sich anhand der Shakespeare- und Kant-Literatur zeigen, die gegenwärtig jedes Jahr in einem Maße wächst, das die gesammelten Werke der Meister übertrifft. Eine einzelne Zeitschrift, die sich dem Werk solcher intellektuellen Größen wie Thomas von Aquin, Shakespeare, Cervantes oder Kant widmet, veröffentlicht zurzeit pro Jahr mehr als das, was bis vor einem Jahrhundert insgesamt zu ihrem thematischen Gegenstand veröffentlicht worden war.

Da eine Unmenge von Diskussionsbeiträgen zweiter, dritter und letztlich n-ter Ordnung unseren Ausgangstext umhüllen, wird es für weitere Diskutanten erforderlich, diese Unmenge an Richtlinien-Literatur zu berücksichtigen, wenn ihre eigenen Beiträge als „relevant“ und „kenntnisreich“ gelten sollen.

Im Ergebnis wird sich die Diskussion nun zunehmend in zwei Richtungen entwickeln, nämlich

  1. in Richtung der kontextuellen Region der Vorstufen und Auswirkungen des Ausgangstexts: Sie sammelt Informationen und prüft die nachfolgende Geschichte in Hinblick auf Verwendungszusammenhänge und Einflüsse. In zunehmendem Maße wird die Diskussion andere Texte in ihren Rezeptionsbereich ziehen, Texte, die den Weg zu ihr geebnet haben oder zu denen sie selbst den Weg geebnet hat. Die Diskussion entwickelt sich

  2. in Richtung der metatextuellen Region, in der es nicht unmittelbar um den Text selbst geht, sondern eher um andere, frühere Diskussionen, die sich entweder mit dem Text beschäftigen oder mit anderen Diskussionen, die sich mit solchen Diskussionen beschäftigen. Statt unmittelbar mit dem Text selbst befasst zu sein, befassen wir uns hier also mit anderen Texten, die weitere Diskussionen dieses Textes interpretieren, auslegen oder kritisieren.

In der Folge solcher Entwicklungen wird deutlich, dass sich der Abstand des Diskurses vom Ausgangstext, der das Zentrum der ganzen Unternehmung bildet, zunehmend vergrößern wird. Die exponentielle Erweiterung eines akademischen Gewerbes macht einen solchen Prozess exegetischer Distanzierung nahezu unvermeidlich. Unvermeidlich sind auch die verschiedenen Folgen, die ein solcher Prozess sowohl in formaler (struktureller) als auch substanzieller (performativer) Hinsicht hat. So ist die Philosophiegeschichtsschreibung, analog zur Philosophie selbst, immer detailorientierter geworden und hat sich dadurch von den grundsätzlichen Fragen entfernt.

6.4 Sinkende Erträge

„Das Wichtigste zuerst“ ist nicht nur ein Handlungs-, sondern auch ein Erkenntnisprinzip. In den meisten Forschungsbereichen sind die großen Fragen die markantesten und verlangen danach, vorrangig behandelt zu werden. Die weniger wichtigen Themen werden vorläufig ausgeklammert und kommen später an die Reihe.

Man kann nun umstandslos erkennen, wohin dieser Prozess führt. Er führt uns von sich aus zwangsläufig noch weiter von den grundlegenden Fragen weg: denn die Lage selbst macht es eigentlich unabwendbar, dass die explosionsartige Vermehrung von Texten, die wir gegenwärtig erleben, die aufkommende Diskussion verändert. Eine umfassendere Kontextualisierung erbringt nicht zwangsläufig eine verbesserte Erkenntnis.

Die Vervielfältigung von Diskussionen und Diskutanten, die wir in den bisherigen Überlegungen vorgestellt haben, hat eine Vielzahl substanzieller Folgen. Angesichts dessen, dass der Horizont, der den Deliberationsbereich der Gemeinschaft umschließt, immer weiter hinausgeschoben, immer inklusiver wird, ist es letztlich nur natürlich und unvermeidbar, dass sich der Kompetenzhorizont eines einzelnen Forschers verhältnismäßig verengt. Dieses Phänomen vermittelt der Landschaft der Philosophiegeschichtsschreibung einen zunehmenden Detailreichtum, wodurch sie hinsichtlich der grundlegenden Fragen an Aussagekraft verliert.

7 Modefragen

Philosophen, an die sich Historiker niemals heranwagten – zumeist Philosophinnen – wird gegenwärtig erhebliche Aufmerksamkeit zuteil. Nachkantische deutsche Philosophen, die die Philosophiegeschichtsschreibung vor fünfzig Jahren spurlos versenkt hatte, sind heute deutlich sichtbar.

In Glaubensfragen hatte William James klug zwischen lebendigen und toten Optionen unterschieden. Letztere betreffen Überzeugungen, die theoretisch befürwortet werden könnten, psychologisch allerdings unerreichbar sind. Sie befinden sich „außerhalb des Plausibilitätsterrains“. Dies gilt aber nicht nur für Glaubensfragen, sondern auch für Untersuchungs- und Forschungsthemen. Menschen eines Zeitalters können sich oftmals einfach nicht dazu bewegen, Fragestellungen ernst zu nehmen, für die sich jene eines anderen Zeitalters brennend interessierten. Einige Fragestellungen „kommen an“, gewinnen die Aufmerksamkeit und das Interesse der Menschen, während andere auf der Strecke, unbemerkt und unberücksichtigt bleiben.

Wie wird über die Ausrichtung der Gedankenmode entschieden? Tatsache ist, dass niemand überwacht und niemand entscheidet. Wie der Schwarmflug der Schwalben ist die Bewegung der Mode spontan, ungeplant und ungesteuert. Ihre Ausrichtung ist das Werk des unpersönlichen und unfügsamen „Zeitgeists“. Unterliegt die Mode nicht dem „Ausschlag des Pendels“? Anders als das Barometer, das sich nur nach oben oder nach unten bewegen kann, vermag ein Pendel nämlich in verschiedene Richtungen zu schwingen und sich zwischen verschiedenen Punkten des Kreisumfangs zu bewegen. Die Wechselfälle der Mode jedoch sind unergründlich, sie können beeinflusst, aber nicht gesteuert werden; denn letztlich kann die Philosophiegeschichtsschreibung den enormen Effekt nicht unbeachtet lassen, den außerphilosophische Entwicklungen – in Wissenschaft, Politik, in Kultur im weiteren Sinne, in Technik und ähnlichem – auf die Philosophie haben. Die Kontingenz der Umstände macht dann die eine oder die andere von ihnen „zur Mode“, d. h. zum momentan prominenten Einfluss. Eine Einflussgenerierung dieser Art wirkt sich nicht nur auf die Lehrgehalte der philosophischen Praxis aus, sondern auch auf den Stil und die Art der Darstellung. (Man denke hier an die Darstellungsweisen, die sich bei Thomas von Aquin, Spinoza, Wittgenstein oder Carnap finden lassen.)

8 Der Aufstand der Massen

Bislang hat es die Geschichte der Philosophie letztlich nicht vermocht, sich mit einer transformativen Lösung in der neueren Geschichte des Wissensgebiets zu arrangieren. Wohl oder übel sind wir am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in ein neues philosophisches Zeitalter eingetreten, in dem das, was zählt, nicht einfach eine herrschende Elite ist, sondern eine große Menge Normalsterblicher. Folglich glänzen große Königreiche durch Abwesenheit und der Schauplatz gleicht eher dem des mittelalterlichen Europa – es gibt eine Ansammlung kleiner, von Pfalzgrafen und Fürstbischöfen regierter Territorien. Hier und da über das Gebiet verstreut gewinnt, in abgeschiedenen Schlössern lebend, ein bedeutender Philosophen-Ritter eine regionale Gefolgschaft ergebener Vasallen oder engagierter Feinde. Aber keiner der gegenwärtigen akademischen Philosophen vermag es, mehr als einen kleinen Teil der umfassenderen, in sich diversifizierten Gemeinschaft auf seine Themenliste zu verpflichten. Denn Tatsache ist, dass sich an diesen größeren Fischen nicht ablesen lässt, was das Meer im Ganzen zu bieten hat. Der gegenwärtigen Sachlage zufolge sind es folgende Fragen, mit denen sich Philosophen auseinandersetzen:

  • –– angewandte Ethik: ethische Fragen verschiedener Berufe (z. B. Medizin, Geschäftsleben, Justiz);

  • –– Computer-Fragen: künstliche Intelligenz, „Können Maschinen denken?“, Erkenntnistheorie der Informationsverarbeitung;

  • –– Rationalität und ihre Auswirkungen;

  • –– soziale Folgen der Medizintechnik: Abtreibung, Euthanasie, Recht auf Leben, Fragen der Medizinforschung, Einwilligung nach erfolgter Aufklärung („informed consent“);

  • –– feministische Themen;

  • –– soziale und ökonomische Gerechtigkeit, Fragen der Verteilungspolitik, Chancengerechtigkeit, Menschenrechte;

  • –– Wahrheit und Bedeutung in der Mathematik und in formalisierten Sprachen;

  • –– Vorzüge und Nachteile von Skeptizismus und Relativismus in Fragen von Erkenntnis und Moral;

  • –– der Charakter des Personseins und die Rechte und Pflichten von Personen.

Allerdings wurde keine dieser Fragestellungen durch irgendeinen bestimmten Philosophen auf die Themenliste gegenwärtigen Interesses gesetzt. Keine war das Resultat einer vertieften Beschäftigung mit einer bereits bestens bekannten Thematik. Keine ergab sich in Erwiderung auf einen bestimmten philosophischen Text oder Disput. Sie entstanden und wuchsen wie die Blätter am Baum im Frühling, gleichzeitig an verschiedenen Orten unter dem formgebenden Impuls dessen, was dem Zeitgeist gesellschaftlich relevant erschien. Die gegenwärtige Philosophie zeichnet aus, dass neue Ideen und Trends zumeist nicht durch den wirkmächtigen Einfluss hervortreten, der einem bestimmten Beiträger zukommt, sondern durch die kleinteiligen Wirkungen einer Vielzahl von Autoren, die im weitläufigen Neuland individueller Bestrebungen arbeiten. Philosophische Neuerung heute ist im Allgemeinen nicht die Antwort auf die vorrangige Leistung richtungweisender Einzelner, sondern ein wesentlich kollektives Bemühen, das sich am besten statistisch beschreiben lässt.

Die Philosophiegeschichtsschreibung hat traditionell den Klassikern der Geschichte Ehrenplätze zugewiesen: Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes und Kant. Ein jeder gegenwärtig lebende Philosoph, der seinen Namen verdient, ist zumindest mit einigen Aspekten des Denkens und der Lehre dieser Großen des Fachs vertraut. Wenden wir uns allerdings jüngeren Werken und deren Verfassern zu – vor allem aber unseren Zeitgenossen –, dann geht diese Gemeinsamkeit der Blickrichtung verloren, und zwar aus guten statistischen Gründen.

Also orientiert sich die Philosophiegeschichtsschreibung, die der gegenwärtigen Situation angemessen ist, in hohem Maße nicht mehr an „außergewöhnlichen Einzelnen“, sondern an signifikanten Investitionen – Bewegungen, in denen herausragenden Einzelnen, wenn überhaupt, dann nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Derzeitig bedeutsame philosophische Themenbereiche wie „Medizinethik“, „feministische Philosophie“ oder „künstliche Intelligenz“ sind die statistisch bedeutsamen Erzeugnisse von Beiträgen, deren individuelle Zuschreibung unkenntlich ist, statt dass sie die Geistesschöpfung eines bestimmten „einflussreichen Denkers“ wäre.

Die Philosophiegeschichtsschreibung ist ein Feld, das sich schrittweise entwickelt. Zuerst kommt die Publikation der Originaltexte (von Stephanus bis Teubner), dann die Erläuterung des Lehrgehalts (z. B. Zeller, Ueberweg, Diels) und darauf folgend die Darstellung des dialektischen Zusammenwirkens (z. B. Vlastos und Salmon). Danach erreichen wir den heute vorherrschenden Modus – das Zeitalter jener, die aus der Philosophiegeschichte ein Philosophieren machen und ihre eigene philosophische Unternehmung unter dem Deckmantel der Geschichtsschreibung durchführen, d. h., nicht im eigenen Namen sprechen, sondern mittels einer angeblichen Geschichtsschreibung. Vor allem diese letztere Verfahrensweise fällt in der gegenwärtigen Situation auf.

9 Gegenwärtige Erfordernisse

Es ist schon schwierig genug, sich in unbekannten Gewässern zu bewegen. Weit größer ist der Bedarf an Navigationsmitteln für die Philosophiegeschichtsschreibung, will sie über die Ozeane einschlägiger Texte kommen. Benötigt werden Enzyklopädien und Handbücher, Buchkritiken und Bibliografien, Fach- und historische Wörterbücher sowie Konkordanzregister und die ganze Palette des Wissenschaftsinstrumentariums, das den Zugang zu dem umfassenden und vielfältigen Literaturbestand erleichtert.

Da der gegenwärtigen Philosophie die Einheit fehlt, die erforderlich wäre, um Geschichten der Philosophie als Ganzer zu schreiben und vielleicht auch der wesentlichen Teilbereiche der Philosophie, wie Ethik oder Metaphysik, sollten wir zumindest Geschichten untergeordneter Bereiche oder auch der Behandlung bestimmter Probleme haben, wie etwa Wesley Salmons exzellente Untersuchung Four Decades of Scientific Explanation. [8] Falls Geschichten historischer Synthese in dem größeren Maßstab früherer Zeiten nicht in Sicht sind, sollten wir sie vielleicht im kleineren Maßstab fordern, wie etwa in Trendelenburgs Geschichte der Kategorienlehre. [9] Es besteht ein dringender Bedarf an Übersichtsdarstellungen, die uns die Entwicklung wesentlicher Gedankengänge überblicken lassen – gemeint sind Werke, die nicht im eigentlichen Sinne Gesamtgeschichten sind, sondern veranschaulichende Skizzen signifikanter historischer Entwicklungsgänge.

Weil sich die Philosophie zunehmend spezialisiert und immer elaboriertere Unterscheidungen und immer komplexere Gedankengänge aufweist, rückt sie immer weiter von der Position ab, von der aus Nichtspezialisten ihr Gesamtbild erfassen können. Interessierte Leser, denen die fachwissenschaftlichen Raffinessen nichts sagen, werden zusehends ignoriert. Für die Verständigung mit der breiteren Öffentlichkeit wäre es förderlich, wenn Werke zur Verfügung stünden, die allgemeiner zugänglich erhellende Episoden vorstellen, um die umfassenderen Fragestellungen zu erläutern und zu beleuchten – Werke, die das geschichtliche Material popularisierend aufbereiten, um Anfänger für den Gegenstand zu interessieren. Ein gutes Beispiel für dieses Genre ist Will Durants klassische Story of Philosophy. [10] Einen in diese Richtung gehenden bescheidenen Beitrag hat der Verfasser dieser Abhandlung mit 101 Philosophical Anecdotes vorgelegt. [11]

Dringend erforderlich sind darüber hinaus auch solche historiografischen Beiträge, die an synthetischen Darstellungen interessierte Autoren zu liefern hätten: Kompendien, die über ein begrenztes Themenspektrum Überblicksdarstellungen miteinander verbundener Entwicklungen beinhalten. Klassische Beispiele dafür sind Trendelenburgs bereits genannte Geschichte der Kategorienlehre oder Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus. [12] (Gut wäre es zum Beispiel, über eine Geschichte des Satzes vom zureichenden Grund zu verfügen.) Alles in allem wäre eine Erneuerung der Ideengeschichte zu begrüßen – mit Werken in der Tradition von Arthur Lovejoys The Great Chain of Being und J. B. Burys The Idea of Progress. [13] Warum sollte es keine Geschichte der Utopien geben – oder der Paradoxe? Auch bietet die Geschichte der Philosophie selbst ein fruchtbares Feld historischer Untersuchungen, das mit Lucien Brauns vorzüglicher Histoire de l’histoire de la philosophie zur Gänze noch nicht bestellt ist. [14] Wenn aber eine gehaltvolle Geschichtsschreibung eine moralische Verbindlichkeit darstellt, die wir heute Lebenden der Vergangenheit schulden, dann gleicht diese Verbindlichkeit einer inflationsindexierten Hypothek, deren Rückzahlung immer schwieriger wird.

Aus dem Englischen von Veit Friemert

Literatur

Braun, L. (1973), Histoire de l’histoire de la philosophie, Paris.Search in Google Scholar

Bury, J. B. (1924), The Idea of Progress: An Inquiry into Its Origin and Growth, London.Search in Google Scholar

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Kant, I. (1968), Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (= Werkausgabe 5), Frankfurt am Main.Search in Google Scholar

Lange, F. A. (1974), Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart [1866], Frankfurt am Main.Search in Google Scholar

Lovejoy, A. (1993), Die große Kette der Wesen: Geschichte eines Gedankens, Frankfurt am Main.Search in Google Scholar

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Salmon, W. (1990), Four Decades of Scientific Explanation, Minneapolis.Search in Google Scholar

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Trendelenburg, A. (1846), Geschichte der Kategorienlehre, in: ders., Beiträge zur Philosophie 1, Berlin.Search in Google Scholar

Published Online: 2019-02-21
Published in Print: 2019-01-21

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 29.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2018-0054/html
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