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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter August 6, 2014

Ethische Herausforderungen der Genomsequenzierung in der translationalen Forschung und Antworten aus dem EURAT-Projekt

Ethical challenges of whole genome sequencing in translational research and answers by the EURAT-project
  • Eva C. Winkler EMAIL logo and Christoph Schickhardt
From the journal LaboratoriumsMedizin

Zusammenfassung

Die Genomsequenzierung in der translationalen Forschung bringt neben vielen medizinischen Chancen auch erhebliche ethisch-rechtliche Herausforderungen mit sich. Die vier wichtigsten betreffen die folgenden Aspekte: (1) den Umgang mit Befunden und Zufallsbefunden der Genomsequenzierung aus dem Forschungskontext; (2) die Vereinbarkeit von Datenschutz und einer Forschung, die wesentlich auf die gemeinsame Nutzung von Genomdaten angewiesen ist (data sharing); (3) die Verantwortung der Forscher, vor allem der nicht-ärztlichen Wissenschaftler, die bei der Genomsequenzierung mitwirken; (4) die Gestaltung des Aufklärungs- und Einwilligungsprozesses für Patienten und Probanden bezüglich der Sequenzierung ihres Genoms. Diese vier Problemfelder werden zunächst dargelegt. In einem zweiten Schritt werden konkrete Lösungsvorschläge aufgezeigt, wie sie von der interdisziplinären Heidelberger EURAT-Projektgruppe als Empfehlungen für die Verwendung von Genomsequenzierung in der translationalen Forschung und Versorgung in Heidelberg ausgearbeitet wurden.

Abstract

The use of whole genome sequencing in translational research not only holds promise for finding new targeted therapies but also raises several ethical and legal questions. The four main ethical and legal challenges are as follows: (1) the handling of additional or incidental findings stemming from whole genome sequencing in research contexts; (2) the compatibility and balancing of data protection and research that is based on broad data sharing; (3) the responsibility of researchers, particularly of non-physician researchers, working in the field of genome sequencing; and (4) the process of informing and asking patients or research subjects for informed consent to the sequencing of their genome. In this paper, first, these four challenges are illustrated and, second, concrete solutions are proposed, as elaborated by the interdisciplinary Heidelberg EURAT project group, as guidelines for the use of genome sequencing in translation research and therapy in Heidelberg.

Rezensierte Publikation:

Klein H.-G.


Die ethisch-rechtlichen Herausforderungen der Genomsequenzierung

Die Ganzgenomsequenzierung findet in der medizinischen Forschung, angetrieben von der Hoffnung auf neue Erkenntnisse und vom rasanten technischen Fortschritt, einen zunehmenden Einsatz [1]. Dies gilt in besonderem Maß für die Krebsforschung, in der man mit dem Rückgriff auf genomweite Analysen die genetischen Veränderungen des Tumorgewebes im Vergleich zum Keimbahngewebe ermittelt. Ziel dieses Vergleichs ist es, ein besseres Verständnis für die individuellen Unterschiede zwischen Patienten bezüglich Krankheitsverlauf und Ansprechen auf Therapien bei scheinbar gleicher Krebserkrankung zu verstehen, die Mutationen zu identifizieren, die das Tumorwachstum antreiben beziehungsweise die Wirksamkeit von Therapien abschwächen oder verhindern und nicht zuletzt, neue „zielgenaue“ Therapien zu entwickeln im Sinne einer stratifizierten bzw. individualisierten Medizin [2].

Ein entscheidender Faktor für die enorme Dynamik der Verwendung von Genomanalysen in der medizinischen Forschung und Versorgung ist die Entwicklung der Sequenzierungstechnologie und der bioinformatischen Auswertung. Nahezu atemberaubende Fortschritte und Effizienzsteigerungen haben den zeitlichen Aufwand für die komplette Sequenzierung eines menschlichen Genoms auf wenige Tage reduziert und die Kosten pro Ganzgenomsequenzierung in die Nähe des „1000$ Genoms“ gebracht [3].

Die Verwendung von genomweiten Analysen ist jedoch nicht nur für die Grundlagenforschung interessant, sondern breitet sich auch zunehmend in der kliniknahen Forschung aus [4]. Ob sie sich soweit durchsetzen wird, dass sie in der zukünftigen medizinischen Versorgung nationaler Gesundheitssysteme oder auch nur in bestimmten Teilbereichen wie der Onkologie zur Routinediagnostik gehören wird, ist derzeit noch nicht sicher absehbar.

In jedem Fall gewinnen mit dem zunehmenden Einsatz ethische und rechtliche Herausforderungen, die mit der Genomsequenzierung auf das Engste verbunden sind, an Bedeutung. Die wichtigsten Fragen, die auf ethischer Seite in Deutschland und international diskutiert werden, sind die folgenden:

  • Wie soll mit (Zusatz-)Befunden aus der Genomsequenzierung umgegangen werden?

  • Wie lassen sich Schutz der Privatsphäre und Forschung mit Daten („data sharing“) vereinbaren?

  • Welche Verantwortung tragen Forscher in der Genomforschung?

  • Wie ist der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess für Patienten bzw. Probanden zu gestalten?

Diesen normativen Fragen widmet sich in Heidelberg das EURAT Projekt zu „Ethischen und rechtlichen Aspekten der Totalgenomsequenzierung“. Es vereint Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Heidelberg inklusive des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen, des Universitätsklinikums, des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL), des Max-Planck-Instituts (MPI) für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie des Center for Health Economics Research Hannover (CHERH) an der Leibniz Universität Hannover. Ziel des Projektes ist es, gemeinsam Antworten auf die ethischen und rechtlichen Fragen zu erarbeiten. Die bereits erarbeiteten Lösungen wurden in Form einer Stellungnahme im Juni 2013 publiziert und werden derzeit im Sinne einer Best-Practice-Leitlinie als gute Heidelberger Praxis in die bestehenden Strukturen am Standort implementiert [5].

Im vorliegenden Artikel wird zunächst der Problemkreis der vier ethisch-rechtlichen Fragen vorgestellt und vor dem Hintergrund der aktuellen ethischen Debatte erläutert. In einem zweiten Schritt sollen mögliche Lösungen aufgezeigt werden, wobei die Lösungsansätze aus dem Gesamtkonzept der interdisziplinären Heidelberger EURAT-Projektgruppe im Vordergrund stehen werden.

A. Wie soll mit (Zusatz-)Befunden aus der Genomsequenzierung umgegangen werden?

Bei der Genomsequenzierung wird das gesamte Genom einer Person sequenziert. Die Sequenzdaten umfassen damit theoretisch alle genetischen Informationen über alle genetischen Bedingungen und Veranlagungen, die gesundheitsrelevant sind. Die Interpretation und Nutzung der Sequenzdaten im Sinne von gesundheitlich relevanten „Informationen“ ist jedoch aus mehreren Gründen komplex. So handelt es sich in den aller meisten Fällen nicht um die Diagnostik einer bereits bestehenden Erkrankung, sondern um Veranlagungen für das mögliche zukünftige Auftreten von (mehrheitlich multifaktoriellen) Krankheiten. Im Mittelpunkt steht also das prädiktive Aussagepotenzial von Genomdatensätzen, das wesentlich auf Wahrscheinlichkeiten fußt. Neben der weiten Skala an Penetranz, mit der eine Erkrankung ausbricht, unterscheiden sich Krankheitsanlagen auch bezüglich ihrer Expressivität, bezüglich den Erfolgschancen einer Therapie vor Ausbruch der Erkrankung (Prävention) und nach Ausbruch der Erkrankung (Heilung) sowie bezüglich der Schwere und Bedrohlichkeit einer möglichen Erkrankung.

Vor diesem Hintergrund sind mit der Sequenzierung eines Genoms mehrere anspruchsvolle ethisch-rechtliche Fragen bezüglich des Umgangs, der Nutzeneinschätzung und der Weitergabe genetischer „Befunde“ bzw. genetischer Forschungsergebnisse verbunden. Diese Problematik ähnelt teilweise der bereits bekannten Problematik von Zufallsbefunden [6]. Zufallsbefunde sind Befunde, nach denen bei einer diagnostischen Fragestellung nicht gesucht wurde. Sie kommen z.B. bei modernen bildgebenden Verfahren vor und werden in der medizinethischen Literatur zunehmend diskutiert [7–10]. Das Neue bei der kompletten Sequenzierung eines menschlichen Genoms ist, dass man bereits vor dem Sequenzieren eines Genoms damit rechnen kann und muss, dass es unter den Sequenzdaten eine Vielzahl potenziell gesundheits-relevanter Daten und Informationen geben wird, die außerhalb der primär intendierten wissenschaftlichen oder diagnostischen Fragestellung liegen. Es ist daher angebracht, von „Zusatzbefunden“ anstatt von „Zufallsbefunden“ zu sprechen.

Welche Zusatzbefunde dürfen oder müssen an den Patienten zurückgemeldet werden? Zusatzbefunde müssen auf ihre Relevanz für den Patienten befragt werden. Wer soll jedoch die Einschätzung der Relevanz vornehmen und aufgrund welcher Kriterien? Die Einschätzung eines Arztes, ob eine bestimmte Information über eine Krankheitsveranlagung für den Patienten nützlich ist, kann von der persönlichen Nutzeneinschätzung des Patienten selbst abweichen. Wie kann der Patient als Laie in die Entscheidung über Rückmeldungen von Zusatzbefunden ex ante einbezogen werden? In der humangenetischen Versorgung gilt das Prinzip „erst aufklären, dann testen“ [11]. Was kann und soll jedoch die Aufklärung von Patienten in Genom-Forschungsprojekten angesichts der Vielzahl möglicher Zusatzbefunde und ihrer enormen medizinischen Komplexität leisten? Eine gute Aufklärung ist notwendig, damit der Patient kompetent von seinen Rechten auf Wissen bzw. auf Nichtwissen bezüglich der Zusatzbefunde Gebrauch machen kann, stellt gleichzeitig aber auch eine beachtliche Herausforderung dar.

Darüber hinaus sind genetische Eigenschaften einer Person nicht nur von potenziellem Interesse für die sequenzierte Person selbst, sondern auch für die nahen Anverwandten und mit Blick auf die Familienplanung des Patienten. Dies wirft die ethisch-rechtlichen Fragen auf, ob ein Forscher oder Arzt die Pflicht hat, auch auf bestimmte Risiken für Verwandte des Patienten bzw. Probanden und für die Fortpflanzung hinzuweisen. Was darf und was soll der Arzt machen, wenn ein Patient es ablehnt, einen Verwandten über die Gefahr einer möglichen bedrohlichen aber präventiv behandelbaren genetischen Krankheitsveranlagung zu informieren? Welche Pflichten hat der Patient gegenüber seinen Verwandten, unter wahrscheinlicher Beeinträchtigung der eigenen gesundheitlichen Privatsphäre Hinweise auf mögliche Risiken an Verwandte weiterzugeben?

B. Wie lassen sich Schutz der Privatsphäre und Forschung mit Daten („data sharing“) vereinbaren?

Bei der Genomsequenzierung werden Daten erzeugt. Diese Daten können vervielfältigt und weitergegeben werden. Genetische Daten bzw. das sequenzierte Genom sind selbstidentifizierend und enthalten ein großes, bisher nicht erschöpfend bekanntes Aussagepotenzial über eine Person. In der Forschung entfalten die Daten ihren Wert umso mehr, je mehr sie mit weiteren Daten derselben Person, z.B. klinischen Daten zum Krankheitsverlauf, und mit Genomdaten und klinischen Daten anderer Personen kombiniert und abgeglichen werden. In der Krebsforschung ist es z.B. wichtig, von bestimmten Entitäten und Subentitäten möglichst große Datenkohorten zu bilden, um in diesen nach (statistischen) Zusammenhängen und Auffälligkeiten zu suchen. Um große und aussagekräftige Kohorten zu bilden, sind Forscher darauf angewiesen, Daten gemeinsam zu sammeln bzw. untereinander auszutauschen oder zu teilen („data sharing“). Je nach Forschungsprojekt geschieht dies auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Hierfür haben sich internationale Forschungskonsortien wie das International Cancer Genom Consortium (ICGC) gebildet, die die Genomdaten von Tumorpatienten aus vielen Ländern sammeln und unter gezielten Fragestellungen gemeinsam auswerten.

Die Daten werden somit auch in unterschiedlichen Rechts- und Kulturräumen mit ganz unterschiedlichen ethischen und gesetzlichen Datenschutzstandards ausgetauscht. Das Forschen mit Genomdatensätzen birgt neben den Chancen auf neue Erkenntnisse auch ethisch-rechtliche Probleme und Risiken bezüglich des Datenschutzes [12]. Selbst wenn Genomdaten nur pseudonymisiert oder gar anonymisiert in die Forschung gelangen, bleiben sie „selbstidentifizierend“. Schon 80 SNPs (single nucleotid polymorphism – Variationen von Einzelnukleotiden) aus dem Genom eines Menschen reichen aus, um ihn von einem anderen Menschen zu unterscheiden oder den kompletten Genomdatensatz einem einzigen Menschen zuzuordnen und ihre individuelle Einzigartigkeit festzustellen. Für viel Aufsehen hat daher die Studie von Gymrek et al. zur Re-Identifizierung von Genomdatensätzen und deren Trägern gesorgt. Den Autoren gelang es, Personen, die ihren Genomdatensatz anonym in einer öffentlichen Datenbank der Forschung zur Verfügen gestellt hatten, zu identifizieren [13]. Dabei benutzten die Autoren einzig frei im Internet zugängliche Informationen, unter denen Einträge aus öffentlich zugänglichen genetischen Datenbanken zur Ahnensuche eine wichtige Rolle spielten.

Die Re-Identifzierbarkeit von Genomdaten, d.h. die Möglichkeit, dass ein Genomdatensatz trotz Anonymisierung oder Pseudonymisierung derjenigen Person, von der er stammt, wieder zugeordnet werden kann, ist aufgrund der Aussagekraft eines Genoms eventuell folgenreich. Wie bereits unter Punkt A betont, lassen sich aus dem Genom eines Menschen eine Vielzahl von Informationen über diesen Menschen gewinnen, angefangen von seinen Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnissen bis zu seinen genetischen Veranlagungen und Risiken für Krankheiten. Zur Wahrung der Vertraulichkeit und des Schutzes der genetischen Privatsphäre einer Person, deren Genom sequenziert wurde und in der Forschung verwendet wird, sind daher besondere Anstrengungen notwendig. Hierbei ist grundsätzlich abzuwägen zwischen dem Forschungsnutzen und dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen (und seiner Verwandten). Diese beiden Güter stehen in erheblicher Spannung zu einander, da der Forschungsnutzen eines Genomdatensatzes umso höher ist, je leichter die Daten für Forscher (aus aller Welt) einsehbar, zugänglich und nutzbar sind, womit jedoch gleichzeitig die Risiken für die Geheimhaltung der Identität des Genomträgers steigen. Die klassischen Regeln des Datenschutzes wie Datensparsamkeit, Datentrennung und Zweckbindung (siehe [14]) stehen den Interessen der Forschung meistens diametral gegenüber. Im idealen Interesse der Forschung wäre es in der Tat, Daten ungefiltert weltweit ohne Zugangsbeschränkungen und ohne zeitliche Grenzen in maximaler Offenheit und Transparenz verfügbar zu machen und niemals zu löschen.

C. Welche Verantwortung tragen Forscher in der Genomforschung?

Die komplexen und arbeitsteiligen Verfahren der Genomsequenzierung und der Analyse und Interpretation der erzeugten genetischen Daten stützen sich wesentlich auf Tätigkeiten von nicht-ärztlichen Spezialisten wie Bioinformatikern und Molekularbiologen. Aufgrund ihrer tragenden Rolle und ihrer spezifischen Fähigkeiten und Kenntnisse erwächst diesen Forschern eine neuartige und besondere Verantwortung, insbesondere hinsichtlich der bereits erwähnten Bereiche des Umgangs mit Zufallsbefunden und des Schutzes genetischer Daten.

Bei ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und Forschung mit Daten aus der Sequenzierung des Genoms eines Patienten können nicht-ärztliche Forscher Kenntnisse über genetische Merkmale und Veranlagungen des Patienten gewinnen, die erstens nur sie haben und verstehen und die zweitens für den Patienten wichtig sein können, z.B. für eine laufende Therapie. Hat der Forscher dann die Pflicht, diese Information weiterzugeben? Stellt es, falls er dies nicht tut, eine unterlassene Hilfeleistung dar, die nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch rechtlich relevant ist? Hat der Forscher auch gegenüber Verwandten eines Patienten oder Probanden Verantwortung für die Mitteilung bestimmter Ergebnisse? Insgesamt rücken nicht-ärztliche Forscher bei der Genomsequenzierung nah an die Patienten und den klinischen Bereich heran, wodurch sie mit sensiblen Fragen konfrontiert werden, für deren Handhabung sie kaum eine angemessene Vorbereitung oder institutionelle Anleitung haben. Neben der Problematik des Umgangs mit Befunden gehört zu diesen Fragen insbesondere die erwähnte Herausforderung des Datenschutzes.

D. Wie ist der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess für Patienten bzw. Probanden zu gestalten?

Um das Genom eines Menschen sequenzieren zu dürfen und die erzeugten Genomdaten daraufhin zu Therapie- oder Forschungszwecken nutzen zu dürfen, ist die informierte Einwilligung („informed consent“) des Patienten bzw. Probanden ethisch und rechtlich unverzichtbar. Die Idee, dass die Einwilligung der Betroffenen ein wichtiges Element für die rechtliche und ethische Legitimität medizinischer Forschung an Menschen darstellt, und dass vor allem Humanversuche ohne die freiwillige Einwilligung des betroffenen Patienten bzw. Probanden (oder seiner Stellvertreter) ethisch und rechtlich verwerflich und verboten sind, geht auf den sogenannten Nürnberger Kodex zurück [15]. Die Erklärung der freiwilligen Einwilligung zu einer notwendigen normativen Voraussetzung war eine Lehre aus den systematischen Zwangsversuchen an Menschen, in erster Linie an Häftlingen, durch Ärzte während des Nationalsozialismus. Es ist vor diesem Hintergrund naheliegend, eine wichtige Funktion des informed consent im elementaren Schutz vor Zwang und Betrug zu sehen [16]. Der Weltärztebund übernahm das Instrument des informed consent in der Deklaration von Helsinki [17]. Wichtige Gründe dafür, dass eine vorherige Einwilligung einer Person bezüglich der Genomsequenzierung ihres Genoms geboten ist, sind zudem die (potenzielle) Tragweite der Genomsequenzierung als Eingriff in das gesundheitliche Selbstverständnis und die informationelle Privatsphäre einer Person und die mit diesem Eingriff verbundenen Implikationen.

Für den richtigen Umgang mit Zusatzbefunden ist es unerlässlich, die Präferenzen des Patienten zu kennen und zu wissen, ob er von seinem Recht auf Wissen oder von seinem Recht auf Nichtwissen Gebrauch machen will. Der Patient sollte daher die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob und wenn ja, welche Zusatzbefunde er eventuell durch Rückmeldung erfahren möchte. Im Idealfall liegt also einem Forscher oder Arzt, der auf einen Zusatzbefund stößt, eine vorher getroffene Willenserklärung des Patienten vor, in der der Patient seine Präferenzen bezüglich der Rückmeldung von Befunden festhält. Eine informierte und im Ernstfall belastbare Einwilligung des Patienten setzt jedoch ein angemessenes Verständnis des Patienten voraus. Dieses Verständnis muss dem Patienten im Aufklärungsprozess vermittelt werden. Angesichts der Komplexität möglicher Zusatzbefunde stellt der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess eine große Herausforderung dar [18]. Darüber hinaus muss u.a. auch der Datenschutz angesprochen werden. Es stellt sich die Frage, ob und wie diese Themen im Rahmen eines Aufklärungsprozesses überhaupt adäquat vermittelt werden können. Welcher Beratungsaufwand und welche Belastungen für den Patienten, aber auch für das aufklärende Ärzteteam oder das Forschungsprojekt sind den Beteiligten zumutbar und geboten, um eine angemessene Aufklärung zu leisten?

Lösungsvorschläge von EURAT

Generell ist mit Blick auf die vier genannten Fragekomplexe erstens zu beachten, dass die Probleme nicht alle ganz neu sind. Sie sind teilweise aus anderen Bereichen der Medizin und medizinischen Forschung bereits bekannt [19] und treten in der genombasierten Medizin nur unter geänderten Vorzeichen oder in neuer Intensität auf. Zweitens ist generell zu beachten, dass die vier genannten ethisch-rechtlichen Fragen eng miteinander verflochten sind. Die Frage, wie Forscher mit Zusatzbefunden umgehen sollen, kann z.B. sowohl dem Bereich der Zusatzbefunde als auch der Frage nach der Verantwortung der Forscher zugeordnet werden und spielt außerdem auch für die Aufklärungsgestaltung eine Rolle.

Im nun folgenden zweiten Teil des Artikels sollen Lösungen vorgestellt werden, wie sie von EURAT mit Blick auf die genannten Problembereiche ausgearbeitet und in der „Stellungnahme“ [5] publiziert wurden (die folgenden Verweise auf EURAT beziehen sich auf diese Stellungnahme). Ziel der interdisziplinären EURAT-Gruppe war es dabei stets, konkrete Lösungsvorschläge zu machen, die sich in der Praxis anwenden lassen. Die enge Verflochtenheit der vier genannten ethisch-rechtlichen Fragekomplexe bedeutet dabei, dass die vorzustellenden Lösungsansätze ebenfalls nicht isoliert voneinander bestehen, sondern teilweise voneinander wechselseitig abhängen und gemeinsam im Rahmen eines Gesamtkonzepts verstanden werden müssen.

Ad A) Wie soll mit (Zusatz-)Befunden aus der Genomsequenzierung umgegangen werden?

Bezüglich der Rückmeldung von Befunden aus der Forschung gibt es ein breites Spektrum von Ansichten, die in der Literatur vertreten werden. Dieses Spektrum reicht von der Position, dass alle Zusatzbefunde zurückgemeldet werden sollten, bis hin zu der These, dass keinerlei Zusatzbefunde an Patienten oder Probanden berichtet werden sollten [20]. Die EURAT-Gruppe plädiert bei Krebspatienten zunächst für eine Unterscheidung zwischen Befunden aus dem Zusammenhang der spezifischen Krebserkrankung des Patienten und solchen, die für andere Krankheiten relevant sein können (Zusatzbefunde). Befunde aus dem Krebskontext, die für die Therapie oder Prognose der individuellen Krebserkrankung potenziell relevant sind, sollen aus dem Forschungsbereich an den Patienten weitergegeben werden. Über die Frage, ob eine solche medizinische Relevanz vorliegt, entscheidet der behandelnde Arzt. Im Krankheitskontext wird demnach an einer ärztlichen Einschätzungsprärogative festgehalten. Bei validierten krebsbezogenen Befunden, die für Prävention oder Therapie relevant sein können, werden Patienten kontaktiert. Ein systematisches Screening aller Datensätze auf Tumormutationen, für die weltweit zielgerichtete Therapien entwickelt wurden, soll hierzu langfristig entwickelt werden und der Behandlung des Patienten zugutekommen.

Was die Zusatzbefunde, d.h. die Befunde zu anderen (möglichen) Erkrankungen betrifft, plädiert die EURAT-Gruppe für einen Mittelweg, in dessen Zentrum der Patientenwille steht. EURAT lehnt die Forderung nach einer obligatorischen Rückmeldung von Zusatzbefunden, wie sie zeitweise vom American College of Medical Genetics vertreten wurde [21], ab. Eine Rückmeldung ohne vorherige Erkundung des Patientenwillens verstößt gegen die Rechte des Patienten auf Wissen bzw. auf Nichtwissen. Diese Rechte, die sich aus dem grundsätzlichen Recht des Patienten auf Autonomie und informationelle Selbstbestimmung herleiten, gilt es auch bezüglich des schwierigen Umgangs mit Zusatzbefunden zu achten. Um das Recht des Patienten auf Wissen und Nichtwissen zu berücksichtigen, muss ihm die Gelegenheit gegeben werden, zu bestimmen, ob und, wenn ja, welche Zusatzbefunde er zu erfahren wünscht und welche nicht. Auf dieses Weise wird der Patient als Subjekt mit eigenem Willen und persönlichen, individuellen Präferenzen geachtet.

Die Erfragung der Patientenpräferenzen ist auch deshalb ethisch geboten, da die Einschätzung des Nutzens, den eine Befundrückmeldung für einen individuellen Patienten haben könnte, oft sehr schwierig ist. Laufende sozial-empirische Untersuchungen, die im Rahmen von EURAT am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen durchgeführt werden, weisen darauf hin, dass die Nutzeneinschätzungen von Patienten bezüglich Veranlagungen zu nicht-behandelbaren Krankheiten stark variieren. Einige Patienten möchten für die Lebensplanung auch diese Befunde erfahren, andere möchten sich nicht mit Wissen um Risiken belasten, gegen die sie ohnehin machtlos sind. Ebenfalls individuell unterschiedlich ist der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Indem der Patient seine Präferenzen bezüglich der Rückmeldung von Zusatzbefunden äußern kann und diese dann auch respektiert werden, soll einer paternalistischen Einstellung gegenüber dem Patienten und einer Fremdbestimmung des Nutzens eventueller Zusatzbefunde für den einzelnen Patienten eine Absage erteilt werde. Grundlage dafür ist jedoch, dass der Patient sich eine wohlinformierte und autonome Meinung bilden kann. Daher muss der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess den Patienten in diese Lage versetzen, womit beachtliche Herausforderungen verbunden sind (siehe unten ad D).

Solange die Genomsequenzierung noch kein anerkanntes medizinisches Diagnoseverfahren darstellt, sollte zudem jeder Befund aus der Forschung vor seiner Rückmeldung in einem zertifizierten Verfahren validiert werden. Außerdem empfiehlt EURAT, dass anfallende Zusatzbefunde und erfolgende Rückmeldungen systematisch registriert werden, um als Erfahrungsgrundlage für die Evaluierung und eventuelle Verbesserungen der Rückmeldepraxis zu dienen.

Ad B): Wie lassen sich Schutz der Privatsphäre und Forschung mit Daten („data sharing“) vereinbaren?

Beim Datenschutz hat sich EURAT mit seinen Empfehlungen das Ziel gesteckt, eine angemessene und praxisfähige Balance zwischen den sich widerstreitenden Werten der freien, transparenten und unbeschränkten Forschung einerseits und dem Schutz der Privatsphäre andererseits zu erreichen. EURAT setzt bei der Einstufung von genetischen Daten als personenbezogene Daten an und sieht die Sensibilität genetischer Daten in deren Aussagekraft über ihren Träger und in ihrer inhärenten Re-Identifizierungskraft. Bezüglich des Schutzes genetischer Daten richtet EURAT Empfehlungen an nicht-ärztliche Forscher. Nicht-ärztliche Forscher haben aufgrund ihres Berufsethos eine wertgestützte Sicht auf den Umgang mit Daten, die von denen der Ärzte abweicht. Für Ärzte sind die Vertraulichkeit des Arzt-Patienten-Verhältnisses und der Umgang mit Patientendaten im Sinne der ärztlichen Schweigepflicht ein Grundpfeiler ihres normativen Berufsverständnisses. Die Schweigepflicht und das Recht auf Aussageverweigerung sind nicht nur eine ethische Selbstverpflichtung der Ärzteschaft, sondern in der Bundesrepublik sowie in vielen anderen Rechtssystemen auch juristisch verankert. Forscher hingegen fühlen sich beim Umgang mit Daten gemäß ihres Berufes und dem Ziel der durch jedermann überprüfbaren wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung eher zu Offenheit, Transparenz und dem unbeschränkten Teilen verpflichtet. Soweit es sich um Forschung mit genetischen Daten und anderen personenbezogenen Patientendaten handelt, kann diese Grundeinstellung der Forscher nicht ohne Gegengewicht bleiben. EURAT schlägt daher in seinem Kodex für nicht-ärztliche Forscher konkrete Empfehlungen für den Schutz der Vertraulichkeit genetischer Daten vor:

  1. Risikoeinschätzung: Forscher sollen vor Beginn eines Forschungsprojekts eine Abschätzung der Risiken für die Vertraulichkeit der Daten und eine Risiko-Nutzenabwägung vornehmen.

  2. Einwilligung und Ethik-Votum: Forscher haben die Pflicht, sich zu vergewissern, dass für die Genomsequenzierung die Einwilligung des Patienten vorliegt sowie ein Votum der zuständigen Ethik-Kommission. (Die Vergewisserung seitens der Forscher kann auch darin bestehen, dass sie sich das Vorliegen gültiger Patienteneinwilligungen von Forschungspartnern belegen oder versichern lassen.) Die Verwendung von Genomsequenzierungsdaten ist nur mit Einwilligung des Patienten erlaubt.

  3. Pseudonymisierung: Es darf nur mit pseudonymisierten oder anonymisierten Daten geforscht werden. Die wirkungsvollste Maßnahme, um zu verhindern, dass Genomdaten einer Person zugeordnet werden (Re-Identifizierung), ist die – irreversible und definitive – Anonymisierung der Daten. Diese macht jedoch auch die Rückmeldung von Befunden aus der Forschung, die für den Patienten nützlich sein könnte, sowie jede Rekontaktierung unmöglich. EURAT empfiehlt daher die Pseudonymisierung aller Daten, die aus dem klinischen Bereich in den Forschungsbereich übergeben werden.

  4. Datenbanken: Die (pseudonymisierten oder anonymisierten) Genomdatensätze bzw. Gendatensätze mit Re-Identifizierungspotenzial dürfen zu Forschungszwecken nur an Datenbanken mit kontrolliertem Zugang und Zugriffsbeschränkung weitergegeben werden. Ihre Speicherung in öffentlichen Datenbanken ist verboten.

  5. Widerruf: Um den Patienten einen Widerruf ihrer Einwilligung in die Forschung mit ihren Genomdaten zu ermöglichen, muss dokumentiert werden, wohin die Daten übermittelt werden. Alle Daten des Patienten müssen dann, wenn möglich, gelöscht werden.

  6. Hinwirkungspflicht: Die Leiter der Forschungseinrichtungen müssen darauf hinwirken, dass sich auswärtige Kooperationspartner, denen pseudonymisierte Genomdaten übermittelt oder zugänglich gemacht werden („data-sharing“), bei der Verwendung und Handhabung der Daten an ähnliche ethisch-rechtliche Richtlinien halten wie im Kodex formuliert.

  7. DTA und DaKo: Die Weitergabe von Daten an nationale und internationale auswärtige Kooperationspartner soll des Weiteren von einem Data-Transfer-Agreement (DTA) werden. Als weitere institutionelle Maßnahme soll ein Data-Access-Komitee (DaKo) eingerichtet werden, das sich mit Fragen der Datenweitergabe und entsprechenden Überprüfungen auseinandersetzen kann.

Ad C) Welche Verantwortung tragen Forscher in der Genomforschung?

Die Überlegungen der EURAT Gruppe, die sich vor allem in der Erarbeitung eines Kodex für nicht-ärztliche Forscher niederschlägt, fußen auf einigen grundlegenden Feststellungen: a) Nicht-ärztliche Forscher haben eine wesentliche Rolle bei der Genomsequenzierung und operieren dabei aufgrund der Implikationen der Genomsequenzierung (Zusatzbefunde, Datenschutz) und der Nähe zum Klinischen Bereich in einem ethisch und rechtlich sehr sensiblen Bereich – in stärkerem Maß als z.B. bei der Grundlagenforschung mit tierischen Zellen. b) Es gibt für die Forschungstätigkeiten auf diesem Feld bisher keine einschlägigen gesetzlichen Regelungen [10]. Das GenDiagnostikgesetz (§ 2 Abs. 2, Nr.1) schließt z.B. Forschung explizit aus seinem Anwendungsbereich aus [22]. c) Bezüglich anderer als gesetzlich festgeschriebener Normen kommt hinzu, dass nicht-ärztliche Forscher über kein generell verankertes Berufsethos verfügen, das für die ethisch-rechtlichen Implikationen der Genomsequenzierung genügend Aussagekraft hätte – im Unterschied zu Ärzten, die über ein traditionsreiches, anschlussfähiges und stark kodifiziertes Berufsethos verfügen. Daraus ergab sich d) die Einsicht, dass es im Sinne aller Beteiligten ist, die Verantwortung der Forscher bei der Genomsequenzierung genauer zu benennen und in konkreten Empfehlungen für die lokale Heidelberger Praxis festzuhalten.

Geeignet als Instrument und Medium für die Klärung der Verantwortlichkeiten und Pflichten der nicht-ärztlichen Forscher erschien ein Verhaltenskodex. Ein Ziel der Ausarbeitung eines Verhaltenskodex war es, die mit der Genomsequenzierung in der Praxis aufkommenden ethischen und rechtlichen Fragen „pro-aktiv“ anzugehen. Es schien weder eine wünschenswerte Alternative, auf Regelungen durch den Gesetzgeber zu warten, noch, den Dingen (bis zum Eintreten eventueller gesetzlicher Regelungen) ihren Lauf zu lassen und die als kritisch und klärungsbedürftig empfundenen Implikationen unbeantwortet zu lassen.

Es bestand die Absicht, das „many hands-Problem“ im komplexen und hochgradig arbeitsteiligen Prozess der Forschung mit Genomsequenzierung zu adressieren und insgesamt Forscher, Patienten und Institutionen zu schützen. Unter dem sogenannten „many-hands-Problem“ versteht man das Problem, dass in einer Organisation oder Struktur verschiedene Personen zum Zustandekommen einer Entscheidung oder Tätigkeit beitragen und dadurch die Verantwortlichkeiten nicht mehr klar feststellbar sind [23]. Zum Schutz für nicht-ärztliche Forscher selbst kommt es, indem für sie mit der Bestimmung ihrer Verantwortlichkeiten ein institutionalisierter Rahmen geschaffen wird. Den Forschern werden dabei zwar einige Pflichten auferlegt, gleichzeitig wird aber auch explizit oder implizit definiert, was jenseits ihrer Pflichten und Verantwortung liegt. Die Forscher gewinnen somit einen Rahmen, der ihnen (bei Einhaltung des Verhaltenskodex) ethisch-rechtliche Sicherheit und Bestimmtheit garantiert. Bedingung dafür war und ist aber, dass der anfänglich nur als Vorschlag bzw. Stellungnahme erarbeitete Kodex Anerkennung und Geltung findet.

Der Verhaltenskodex eignet sich über eine ideelle bzw. „weiche“ Wirkung hinaus auch dazu, konkrete bzw. „harte“ Wirkkraft zu gewinnen, indem er für verbindlich erklärt wird. Verbindlichkeit ist dabei so zu verstehen, dass Verstöße gegen den Kodex direkte arbeitsrechtliche, haftungsrechtliche oder andere (sanktionierende) Konsequenzen haben können. Der von EURAT ausgearbeitete Verhaltenskodex hat in kurzer Zeit einen erfolgreichen Weg zur konkreten Verbindlichkeit zurückgelegt. Obwohl die EURAT-Gruppe den Kodex ohne offiziellen institutionellen Auftrag ausarbeitete, wurde der Kodex bereits kurz nach seiner Veröffentlichung von der Medizinischen Fakultät sowie, durch offiziellen Senatsbeschluss, von der Universität Heidelberg als allgemein verbindlich anerkannt. Auch im Deutschen Krebsforschungszentrum gibt es ähnliche Anstrengungen.

Neben den oben genannten konkreten Empfehlungen zum Datenschutz enthält der Kodex auch Empfehlungen für den Umgang mit Zusatzbefunden: der Forscher hat gegenüber jedem Patienten die Sorgfaltspflicht, aufgetretene Forschungsergebnisse, die für die Gesundheit oder Behandlung des Patienten im Sinne der Leidens- und Schadensvermeidung wichtig sein können, dem behandelnden Arzt zu melden. Dem Forscher wird hingegen keine generelle Pflicht zur aktiven Suche nach Zusatzbefunden außerhalb des Forschungskontexts zugesprochen.

Ad D): Wie ist der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess zu gestalten?

Ähnlich wie der Kodex die Verantwortlichkeiten der Forscher mit Blick auf die normativ sensiblen Problembereiche der Genomsequenzierung (Datenschutz und Zusatzbefunde) klärt, so muss auch der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess diese Bereiche gegenüber den Patienten thematisieren. Es kann gegenüber dem dafür üblichen Instrument des „informed consent“ die Kritik erhoben werden, dass es sich um ein formales Ritual zur haftungs-juristischen Absicherung der Ärzte und Forscher handelt [24], und dass der Patient durch den Aufklärungsprozess gewöhnlich nicht in die Lage versetzt wird, sich einen wohl informierten und autonomen Willen zu bilden und diesen auszudrücken. Letzteres ist bei der Genomsequenzierung aufgrund der komplexen Implikationen besonders schwierig. Der Aufwand für einen Aufklärungsprozess, der als Basis für eine wohlinformierte und belastbare Einwilligung des Patienten dienen kann, ist angesichts der Komplexität der Genomsequenzierung erheblich. Dabei ist zu bedenken, dass es sich nicht nur um eine Belastung der (forschenden) Ärzte bzw. des Forschungsprojekts handelt. Auch für die Patienten kann ein langes Aufklärungs- und Einwilligungsverfahren über komplizierte Zusammenhänge und Fragen eine beachtliche zeitliche und psychische Belastung darstellen. Dies gilt besonders für Krebspatienten, die gewöhnlich in einer existenziell bedrohlichen Situation sind und deren Kraft und Aufmerksamkeit ihrer Erkrankung und Therapie gilt und den damit verbundenen Problemen und Emotionen, nicht aber abstrakten Fragen der (uneigennützigen) Forschung mit Genomsequenzierung.

Die EURAT-Gruppe hat sich trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten und Bedenken aus mehreren Gründen dazu entschlossen, am Instrument des sogenannten informed consent grundsätzlich festzuhalten. Es gibt derzeit keine generell anerkannte und ethisch wie vor allem rechtlich praktikable Alternative zur informed-consent-Praxis. EURAT betont daher, dass trotz aller Schwierigkeiten der Versuch einer angemessenen Aufklärung unternommen werden muss. Dem Forschungsprojekt ist angesichts der hohen Sensibilität und des massiven Eingriffs in die genetische Privatsphäre eines Patienten durch Genomsequenzierung [25] ein überdurchschnittlicher Aufwand an Ressourcen und Kosten zuzumuten. EURAT plädiert dafür, dem Patienten angesichts der Tragweite vieler Themenbereiche abgestufte Fragen zu stellen und dem Patienten mehrere abgestufte Einwilligungsmöglichkeiten anzubieten („tiered consent“) [26]. Der Patient hat dadurch mehrere Wahlmöglichkeiten und kann unterschiedlich weitreichende Verwendungsweisen seiner Daten autorisieren.

Der Aufklärungs- und Einwilligungsprozess muss die richtige Balance finden zwischen einem möglichst umfangreichen Informieren über die wichtigsten Implikationen und Fragen einerseits und möglichst großer Verständlichkeit und Zugänglichkeit für den Patienten andererseits. EURAT hat hierfür Musteraufklärungsdokumente entworfen und hält explizite und substantielle Hinweise zu den Themen Zusatzbefunde und Daten für geboten. Speziell Erwähnung finden sollten dabei: Maßnahmen der Pseudonymisierung der Anonymisierung, die Weitergabe („data sharing“) von Daten an nationale und internationale Forschungseinrichtungen und Datenbanken, Möglichkeiten und Grenzen der Datenlöschung im Falle des Widerrufs der Einwilligung, Formen der Zugänglichmachung zu Überprüfungszwecken (Review) von Daten bei Publikationen. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass gewisse Risiken für die definitive und langfristige Vertraulichkeit der Daten nicht ausgeschlossen werden können. Was die Problematik möglicher Zusatzbefunde angeht, so bewegt sich der Aufklärungsprozess in einem anspruchsvollen Spannungsfeld: zum einen soll der Patient selbst entscheiden, ob und wenn ja, welche Zusatzbefunde er erfahren möchte. Zum anderen ist eine detaillierte Aufklärung zu allen möglichen Zusatzbefunden und deren eventueller Relevanz für den Patienten nicht möglich. Es ist daher angebracht, vereinfachend und schematisch vorzugehen und mögliche Zusatzbefunde nach Kategorien zu ordnen und anhand von Beispielen zu erklären. Chorea Huntington gehört demnach z.B. in die Kategorie der unheilbaren und gewiss auftretenden Erkrankungen.

Die Aufklärung sollte nicht auf das schriftliche Aufklärungs- und Einwilligungsformular beschränkt bleiben. Weitere Medien und vor allem Gespräche und Gelegenheiten für Nach- und Rückfragen sollten angeboten werden. Dabei sollten die Informationsbedürfnisse und Verständnismöglichkeiten der Patienten, die u.a. in sozial-empirischen Studien erforscht und festgehalten werden [18, 27], der prozessualen und inhaltlichen Gestaltung der Aufklärung zugrundgelegt werden.

Projektgruppe und Mitwirkende an der EURAT-Stellungnahme

Prof. Dr. Claus R. Bartram (Humangenetik); Prof. Dr. Roland Eils (Bioinformatik), Prof. Dr. Christof von Kalle (Onkologie), Prof. Dr.Dres.h.c. Paul Kirchhof (Verfassungsrecht); Dr. Jan Korbel (Tumorgenetik, Genomsequenzierung), Prof Dr. Andreas E. Kulozik (Kinderonkologie), Prof. Dr. Peter Lichter (Tumorgenetik, Genomsequenzierung), Prof. Dr. Peter Schirmacher (Pathologie); Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg (Gesundheitsökonomie), Prof. Dr. Klaus Tanner (Theologie, Ethik); Prof. Dr. Stefan Wiemann (Genomsequenzierung), PD Dr. Dr. Eva Winkler (Ethik, Onkologie); Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum (Völkerrecht, Verfassungsrecht); Dr. Grit M. Schwarzkopf (Ethik), Dr. Christoph Schickhardt (Philosophie), Martin Frank, Dipl.-Ök. (Gesundheitsökonomie); Gösta Gantner, M.A. (Ethik); Fruzsina Molnár-Gábor (Rechtswissenschaften); Dr. Anne Prenzler (Gesundheitsökonomie).

Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Interessenkonflikte bestehen


Korrespondenz: PD Dr.med.Dr.phil. Eva C. Winkler, Medizinische Onkologie, Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 460, 69120 Heidelberg, Tel.: +49 6221 5636049, Fax: +49 6221 567225, E-Mail:
aGleichberechtigte Autorenschaft.

Literatur

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Erhalten: 2014-6-20
Angenommen: 2014-7-9
Online erschienen: 2014-8-6
Erschienen im Druck: 2014-7-2

©2014 by De Gruyter

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