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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter September 24, 2015

Stufendiagnostik der Hämoglobinopathien

Stepwise diagnostics of hemoglobinopathies
  • Birgit Busse , Maria-Fatima Tepedino EMAIL logo , Wolfgang Rupprecht and Hanns-Georg Klein
From the journal LaboratoriumsMedizin

Zusammenfassung

Der Begriff Hämoglobinopathien umfasst genetisch bedingte Krankheiten, die entweder durch die Präsenz von anomalen Hämoglobinen oder Thalassämien gekennzeichnet sind. Sie zählen zu den häufigsten Erbkrankheiten der Weltbevölkerung. Aufgrund der steigenden Migrationrate spielen Hämoglobinopathien und deren Diagnose bzw. Behandlung auch in Nord- und Mitteleuropa und ebenso in Deutschland eine wichtige Rolle. Mit 200 Mio. Betroffenen gehören die Thalassämiesyndrome, hierbei hauptsächlich α- und β-Thalassämie, weltweit zu den am häufigsten auftretenden monogenen Erkrankungen. Neben den Thalassämieerkrankungen bilden die anomalen Hämoglobine die zweite große Gruppe innerhalb der Hämoglobinopathien. In diese Gruppe fallen Hämoglobine wie HbS, HbC und HbE. In dieser Arbeit wird auf die wichtigsten Hämoglobinopathien, ihrem hämatologischen Erscheinungsbild und ihrer genetischen Ursache eingegangen. Dabei liegt der Fokus insbesondere auf der Stufendiagnostik, die bei der Abklärung solcher Erkrankungen eine entscheidende Rolle spielt.

Abstract

Hemoglobinopathies belong to the most common monogenic hereditary diseases worldwide. A particularly high prevalence is seen in the Mediterranean countries, in parts of Asia, the Middle East and West Africa. Nevertheless, due to migration hemoglobinopathies play an increasingly important role in Germany as well. Basic testing consists of blood count and hemoglobin differentiation. In addition, an iron deficiency should be excluded if necessary. Molecular genetic testing is used for the verification of hematologic findings and serves in the assessment of risk for a severe form of a hemoglobinopathy in offspring. In order to ensure efficient diagnostics, family history and previous findings of the patient should be communicated to the laboratory. This is especially crucial in the case of prenatal diagnostics.

Rezensierte Publikation:

Klein H.-G.


Einleitung

Hämoglobine sind eisenhaltige Proteine, die in den Erythrozyten vorkommen und für den Sauerstofftransport innerhalb des menschlichen Organismus verantwortlich sind. Das Hämoglobin ist ein Heterotetramer aus jeweils zwei identischen Polypeptidketten. Jede der Ketten trägt eine Häm-Gruppe mit einem Eisenmolekül, an welches Sauerstoff reversibel binden kann.

Das adulte Hämoglobin (HbA) besteht aus 2 α- und 2 β-Ketten (α2β2). Fetales Hämoglobin (HbF) besteht hingegen aus 2 α- und 2 γ-Ketten (α2γ2). Das HbF weist eine höhere Sauerstoffaffinität auf, wodurch die in der Plazenta stattfindende Sauerstoffübertragung von Mutter zu Kind gewährleistet wird. Im Laufe des ersten Lebensjahres sinkt der Gehalt an fetalem Hämoglobin kontinuierlich und wird währenddessen durch die steigende Synthese des adulten Hämoglobins ersetzt [1].

Hämoglobinopathien sind Erkrankungen infolge einer gestörten Bildung von Hämoglobin. Sie zählen zu den häufigsten monogenen Erbkrankheiten weltweit und werden je nach molekularem Phänotyp den Thalassämien oder der Gruppe der anomalen Hämoglobine zugeordnet. Thalassämien sind durch Mutationen in den verschiedenen Globingenen bedingt, die zu einer reduzierten Synthese einer oder mehrerer normaler Globinketten führen. Die häufigsten und klinisch bedeutsamsten Thalassämien sind α- und β-Thalassämie. Anomale Hämoglobine entstehen durch Mutationen, die zu Strukturdefekten und damit zur Produktion abnormer Globinketten führen. Zu den häufigsten anomalen Hämoglobinen zählen HbS, HbC und HbE. Eine besondere Form der Hämoglobinopathie ist die sogenannte Hereditäre Persistenz fetalen Hämoglobins (HPFH), bei der die Synthese von HbF im Erwachsenenalter mäßig bis stark erhöht ist. Klinisch sind die Träger einer HPFH gesund. Eine Übersicht über die wichtigsten Hämoglobinopathien findet sich in Tabelle 1.

Tabelle 1

Übersicht über die wichtigsten Hämoglobinopathien [1].

Thalassämien
 – α- und β-Thalassämien
 – δβ-Thalassämie
Anomale Hämoglobine
 – Anomalien der β-Globinkette (HbS, HbE und HbC)
 – Anomalien der α-Globinkette (Hb Constant Spring)
 – Fusionshämoglobine (Hb Lepore)
Hereditäre Persistenz von fetalem Hämoglobin (HPFH)

Die verschiedenen Formen der Hämoglobinopathien können auch kombiniert auftreten [2]. Häufig finden sich Kombinationen von α- mit gleichzeitig bestehender β-Thalassämie, Thalassämien in Kombination mit anomalen Hämoglobinen oder das gleichzeitige Vorliegen zweier anomaler Hämoglobine (z.B. HbSC). Teilweise sind diese Kombinationsformen bereits im Blutbild und der Hämoglobindifferenzierung erkennbar.

Diagnostisches Vorgehen

Die Hämoglobinopathiediagnostik ist in der Regel nur bei mikrozytärer Anämie notwendig. Dies gilt auch für den Hydrops fetalis in Folge einer Hämoglobinopathie. Medikamenteninduzierte Methämoglobinophathien erfordert eine spezielle Diagnostik von MetHb, das gleiche gilt für unklare Zyanosen.

Die Diagnostik der Hämoglobinopathien erfolgt in Stufen. Die erste Stufe bildet das rote Blutbild und die Hämoglobindifferenzierung. Zur Verifizierung oder näheren Charakterisierung eines auffälligen Befundes kann in einer zweiten Stufe die molekulargenetische Untersuchung herangezogen werden Absatz.

Indikationen für eine Hämoglobinopathie-Diagnostik sind [2–4]:

  • Hypochromien und/oder Anämien bei vorherigem Ausschluss eines Eisenmangels

  • chronisch-hämolytische Anämien

  • durch Medikamente verursachte Anämien

  • Gefäßverschlusskrisen ungeklärter Ätiologie

  • hämatologisch bedingte Erythrozytosen und/oder Zyanosen

  • Hydrops fetalis-Syndrom ungeklärter Ätiologie

  • positive Familienanamnese

  • Pränataldiagnostik.

Ausgehend vom roten Blutbild aus frisch gewonnen EDTA-Blut sind folgende Parameter diagnostisch relevant [5]:

  • Erythrozytenzahl

  • Hämoglobinkonzentration

  • Hämatokrit

  • MCH (mittlerer Hämoglobingehalt)

  • MCV (mittleres Erythrozytenvolumen)

  • MCHC (mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration)

  • RDW (gibt die Abweichung der Erythrozyten von der normalen Größe an).

Zudem sollte der Eisenstatus abgeklärt werden, da Anämien häufig durch einen Eisenmangel hervorgerufen werden, der auch die Ergebnisse der Hämoglobindifferenzierung beeinflussen kann. Der Eisenmangel ist die wichtigste Differentialdiagnose der klinische asymptomatischen Thalassämie-Anlage (nicht der asymptomatischen Thalassämie). Die wichtigsten Parameter zum Nachweis eines Eisenmangels sind die Mikrozytose, das Serum-Ferritin und die RDW. Der beim Eisenmangel erhöhte lösliche Transferrinrezeptor erlaubt die Abgrenzung von einer Anämie chronischer Erkrankungen. Die anschließende Bestimmung des Hämoglobinmusters erfolgt für gewöhnlich entweder mit einer alkalischen bzw. sauren Elektrophorese oder chromatographisch mittels HPLC. Die HPLC nutzt Kationen- und Anionenaustauschsysteme zur Trennung normaler und abnormer Hämoglobine und ermöglicht eine quantitative Analyse aller trennbaren Hb-Fraktionen. Sie liefert exakte und reproduzierbare HbA2-Werte, denen vor allem in der Thalassämiediagnostik eine wichtige Rolle zukommt [6–9]. Auch hier wird als Material EDTA-Blut verwendet, das auch noch mehrere Tage nach der Entnahme aussagekräftige Ergebnisse liefert.

In der Regel sind β-Thalassämien und die meisten anomalen Hämoglobine bereits anhand der Hämoglobindifferenzierung und des Blutbildes nachweisbar. Eine molekulargenetische Untersuchung dient hier primär der Verifizierung des hämatologischen Befundes und der Bestimmung der Thalassämieform (β0 oder β+) sowie der Aufklärung uneindeutiger Ergebnisse. Da das Vorliegen einer α-Thalassämie nicht zwingend hämatologisch detektierbar ist, sollte hier der Nachweis immer mittels der molekulargenetischen Untersuchungen des α-Globin-Genkomplexes bzw. den α-Globin-Genen erfolgen.

Anomale Hämoglobine

Anomale Hämoglobine entstehen durch Mutationen in den Globingenen und führen zu einem Aminosäureaustausch in der entsprechenden Globinkette. Dadurch entstehen Veränderungen in der Sekundär- und Tertiärstruktur im Hb-Tetramer. Die Mehrzahl der bekannten Mutationen betrifft die β-Globinkette. Einige der beschriebenen anomalen Hämoglobine führen zu moderaten bis hin zu schwerwiegenden klinischen Symptomen, der Großteil ist jedoch von geringer klinischer Bedeutung. Die, verschiedenen Formen werden nach ihren pathophysiologischen Eigenschaften in folgende Gruppen eingeteilt:

  • Hämoglobine mit Aggregationsneigung (z.B. HbS und HbC)

  • Hämoglobine mit reduzierter Synthese des Gesamthämoglobins (z.B. HbE und Hb Lepore)

  • Hämoglobine mit erhöhter Präzipitationsneigung (z.B. Hb Köln)

  • Hämoglobine mit gestörter Funktion (z.B. Anomalien mit veränderter Sauerstoffaffinität, HbM)

  • stumme Hämoglobinvarianten.

Die anomalen Hämoglobine sind in den meisten Fälle bereits durch die Hämoglobindifferenzierung detektierbar. Eine molekulargenetische Untersuchung dient hier der Sicherung des hämatologischen Befundes, kann aber auch gegebenenfalls im Bereich der Pränataldiagnostik zum Einsatz kommen [7].

Sichelzellkrankheit

Unter diesen Begriff fallen sowohl die homozygote Sichelzellkrankheit (HbSS) als auch eine Reihe von gemischt heterozygoten Hämoglobinopathien wie z.B. HbS-β-Thalassämien, die HbSC- oder HbSD-Krankheit. Die Sichelzellkrankheit basiert auf einem Defekt der β-Globinkette, der zur Bildung eines als HbS bezeichneten anomalen Hämoglobins führt. Der Erkrankung liegt die Mutation p.Glu7Val (historisch Glu6Val) im β-Globingen (HBB) zugrunde. Die betroffene β-Globinkette ist im desoxygenierten Zustand instabil und weist eine erhöhte Aggregationsneigung auf. Heterozygote HbS-Träger (HbAS) zeigen ein normales Blutbild und sind in der Regel symptomfrei. Der prozentuale HbS-Anteil bewegt sich zwischen 35% und 45%. Der HbA2-Wert kann erhöht sein. Liegt der Anteil von HbS unter 30%, sollte ein bestehender Eisenmangel oder eine koexistierende α-Thalassämie in Betracht gezogen werden [2, 4, 6, 10].

In homozygoter Form führt die Mutation zur sogenannten homozygoten Sichelzellkrankheit, die durch eine chronische hämolytische Anämie, akute Krisen durch Gefäßverschlüsse und die dadurch verursachten Gewebe- und Organschäden gekennzeichnet ist. Charakteristisch ist die sichelartige Verformung der Erythrozyten bedingt durch die veränderten Eigenschaften des Hämoglobin S im desoxygenierten Zustand. Das Blutbild weist einen deutlich erniedrigten Hämoglobingehalt von 6–9 g/dL auf. Das Hämoglobinmuster zeigt in diesem Fall >90% HbS, einen variablen HbF-Anteil von <10% und einen HbA2-Anteil von <3,5%. HbA ist nicht nachweisbar (Tabelle 2) [4, 6].

Tabelle 2

Übersicht der wichtigsten hämatologischen Parameter zum Nachweis verschiedener anomaler Hämoglobine [1, 2, 4, 6, 11].

DiagnoseRotes BlutbildHämoglobinmustera
HbS-HeterozygotieKeine AuffälligkeitenHbS: 35%–40%
HbA2 ≥3,5%
HbS-Homozygotie (Sichelzellanämie)Hb: 6–9 g/dLHbS: >90%

HbA2 <3,5%

HbF ≤10%
HbC-HeterozygotieNormalHbC≈50%
HbA≈50%
HbC-KrankheitHb: 10–12 g/dLHbC ≥95%
MCV <75 flHbA2 <4%
MCHC >35 g/dLHbF≈0,5%
Targetzellen
HbE-HeterozygotieHb: normal, leicht erniedrigtHbE=30%–45%
MCV≈73 fl
MCH≈25 pg
HbE-KrankheitHb: 10–14 g/dLHbE >95%
Erythrozytenzahl erhöhtHbA2≈2,5%
MCV≈62–67 flHbF <3%
MCH≈20 pg
Targetzellen

aDie Referenzbereiche sind Durchschnittswerte und können in Abhängigkeit der verwendeten Messmethode variieren.

Die HbS-Anomalie kann auch in Kombination mit anderen anomalen Hämoglobinen bzw. Thalassämien auftreten, wodurch seltenere Sonderformen der Sichelzellkrankheit entstehen. Bei gemischten Heterozygotien spielen insbesondere die Kombination mit einer β-Thalassämie oder HbC eine wichtige Rolle. Die Kombination von HbS mit einer β0-Thalassämie weist einen ähnlichen Schweregrad wie die homozygote Variante (HbSS) auf. Neben einer hypochromen Mikrozytose findet man bei diesen Patienten einen Anteil von HbS >80%, HbF <20% und HbA2 >3,5%. Die Hämoglobinkonzentration ist ähnlich erniedrigt wie bei Patienten mit einer homozygoten Sichelzellkrankheit [2, 4].

Das Hämoglobinmuster eines Patienten mit HbS in Kombination mit einer β+-Thalassämie zeigt einen Anteil von HbS >55%, HbF >20% und HbA2 >3,5%. Anders als bei der homozygoten Sichelzellkrankheit oder der Kombination HbS-β0-Thalassämie liegt hier der Anteil von HbA bei ca. 20% [4].

HbC-Krankheit

Der HbC-Krankheit liegt die Mutation p.Glu7Lys (historisch Glu6Lys) im HBB-Gen zugrunde. Die betroffene β-Globinkette ist im desoxygenierten Zustand instabil und weist eine erhöhte Aggregationsneigung auf. Heterozygote HbC-Träger (HbAC) sind klinisch unauffällig. Lediglich der MCHC-Wert ist erhöht. Der Anteil von HbC am Gesamthämoglobin beträgt ungefähr 50% während der Rest aus HbA besteht [1]. Bei homozygoten HbC-Mutationsträgern (HbCC) und bei Patienten mit einer Kombination aus HbC mit einer β-Thalassämie oder anderen anomalen Hämoglobinen spricht man von der sogenannten HbC-Krankheit. Ausnahme hiervon ist die Kombination mit HbS (HbSC-Krankheit). Patienten mit der HbC-Krankheit zeigen je nach molekularer Grundlage eine leichte bis mittelschwere hämolytische Anämie. In Tabelle 3 sind die wichtigsten diagnostischen Parameter bei Homozygotie für HbC und der HbC-β-Thalassämie zusammengefasst [4].

Tabelle 3

Diagnostische Parameter bei Homozygotie für HbC und der HbC-β-Thalassämie [4].

LaborparameterHbCCHbC-β+-ThalassämieHbC-β0-Thalassämie
Anämieleicht bis mäßigleichtmäßig bis stärker
MCV70–72 fl60–70 fl55–70 fl
Hb-Varianten
 HbA0%20%–30%0%
 HbC (inkl. HbA2)>97%65%–80%90%–95%

HbE-Krankheit

Der HbE-Krankheit liegt die Mutation p.Glu27Lys (historisch Glu26Lys) im HBB-Gen zugrunde. Diese Mutation bewirkt einerseits einen Aminosäureaustausch in der β-Globinkette, andererseits wird eine kryptische Spleißstelle aktiviert, wodurch die betroffene β-Globinkette im Sinne einer β+-Thalassämie vermindert exprimiert wird.

Heterozygote Anlageträger von HbE zeigen in der Regel keine klinischen Symptome, weisen aber im Blutbild meistens eine leichte, variable Hypochromie (MCH≈25 pg) und Mikrozytose (MCV ca. 73 fl) auf. Der prozentuale Anteil von HbE am Gesamthämoglobin kann stark schwanken. Im Regelfall liegt er bei 30%–45%. Falls die Konzentration an HbA2 erniedrigt ist, sollte die Möglichkeit eines gleichzeitig bestehenden Eisenmangels oder die Kombination mit einer α-Thalassämie in Betracht gezogen werden [4].

Im Falle einer homozygoten Erkrankung findet man bei Betroffenen eine hypochrome, mikrozytäre Anämie, deutlich erkennbar am MCH-Wert (≈20 pg) sowie MCV-Wert (≈62–67 fl) und einer Hämoglobinkonzentration zwischen 10 und 14 g/dL. Das Hämoglobinmuster besteht zu mehr als 95% aus HbE und der Rest aus HbF und HbA2. In Tabelle 2 sind die wichtigsten diagnostischen Parameter zusammengefasst [2, 4, 6].

Thalassämien [12–14]

Bei den Thalassämien handelt es sich um eine klinisch und genetisch heterogene Erkrankungsgruppe, die in der Regel autosomal rezessiv vererbt werden. Sie entstehen durch eine reduzierte Globinkettensynthese, die zu einem Defizit der betroffenen Globinkette führt und dadurch zu einem gleichzeitigen Überschuss von nicht betroffenen Globinketten. Das Ausmaß der Imbalance der Globinketten im Kontext des genetischen Defekts bestimmt den Schweregrad der Erkrankung. Das Hämoglobinmolekül besteht aus einem Tetramer aus 4 Globinketten, das aus zwei verschiedenen (jeweils in doppelter Form vorliegenden) besteht (HbA: α2β2, HbA2: α2δ2, HbF: α2γ2). Entsprechend den verschiedenen Globinketten gibt es vier Grundformen der Thalassämie, von denen die α- und β-Thalassämien auf Grund ihrer Häufigkeit in der Bevölkerung und der klinischen Relevanz von größerer Bedeutung sind als die eher seltenen δ- und γ-Thalassämien. Obwohl die meisten Patienten entweder an einer α- oder β-Thalassämie leiden, sind auch Kombinationen zwischen verschiedenen Thalassämien und Hämoglobinanomalien möglich.

β-Thalassämie

Die β-Thalassämie beruht auf einer quantitativen Störung der β-Globinketten-Synthese, die zum großen Teil durch Punktmutationen im β-Globingen (HBB) verursacht wird. Diese Mutationen bewirken eine verminderte Expression eines strukturell normalen β-Globins. Durch eine gesteigerte Erythropoese kommt es zu einem Ungleichgewicht in der Synthese der Globinketten und somit zu einem Überschuss an freien α-Globinketten, die aufgrund ihrer Instabilität rasch denaturieren. Je nach molekularem Phänotyp eines teilweisen oder vollständigen Ausfalls der β-Ketten-Synthese werden β+- oder β0-Thalassämien unterschieden. In Abhängigkeit der schwere des Krankheitsbildes werden die β-Thalassämien in die klinischen Formen Thalassaemia minor, Thalassaemia intermedia und Thalassaemia major eingeteilt, denen jeweils eine unterschiedliche genetische Konstellation zu Grunde liegt [1]. Ein auffälliges Blutbild (Hypochromie, Mikrozytose) in Kombination mit einer auffälligen Hämoglobindifferenzierung (erhöhtes HbA2) ist der typische Laborbefund bei einer heterozygoten β-Thalassämie.

In den meisten Fällen liegt eine hypochrome, mikrozytäre Anämie vor. Bei einem MCH-Wert <25 pg (in der Regel zwischen 19 und 23 pg) in Kombination mit einem erhöhten HbA2-Wert ab 3,5% (im Allgemeinen zwischen 4,0 bis 6,0%) liegt der Verdacht auf eine zugrundeliegende heterozygote β-Thalassämie (Thalassaemia minor) nahe. Jedoch kann in einzelnen Fällen der HbA2-Anteil auch zwischen 6,5 und 8,0% liegen. Der Anteil an HbF variiert. Bei ca. 30% der Patienten findet man eine HbF-Vermehrung auf bis zu 3%. In seltenen Fällen kann der Wert für HbF sogar bei 3%–15% liegen. Bei einem bestehenden Eisenmangel muss beachtet werden, dass dieser zu einem erniedrigten HbA2-Wert führen kann, wodurch eine bestehende heterozygote β-Thalassämie ohne typische HbA2-Wert-Erhöhung (>4%) maskiert sein kann [4].

Bei einer β-Thalassaemia major findet man ein stärker ausgeprägtes mikrozytäres, hypochromes Blutbild. In der Regel liegt der MCH-Wert bei 14–20 pg und der MCV-Wert bei 50–60 fl. Zudem leiden die Betroffenen typischerweise unter einer transfusionsbedürftigen Anämie, was sich in einer Hämoglobinkonzentration von unter 7 g/dL widerspiegelt. Das resultierende Hämoglobin-Muster nach der chromatographischen Trennung zeigt eine deutliche Erhöhung des HbF-Werts mit ca. 70%–90% und einem variablen HbA2-Wert [2, 5].

Die Unterscheidung zwischen β-Thalassaemia intermedia und β-Thalassaemia major sollte aufgrund des ähnlichen hämatologischen Erscheinungsbildes und Hämoglobinmusters immer molekulargenetisch gesichert werden [5]. Die vorliegende Anämie bei der β-Thalassaemia intermedia (Hb-Wert von 6–10 g/dL) ist in der Regel nicht so stark ausgeprägt wie bei der Majorform, das MCH (15–23 pg) und das MCV (55–70 fl) sind hingegen vergleichbar erniedrigt. Die Hämoglobindifferenzierung zeigt einen erhöhten HbF-Anteil (bis zu 100%) mit variablem HbA2-Anteil [2, 4].

Molekulargenetische Diagnostik von β-Thalassämien

Die molekulargenetische Diagnostik im β-Globin-Genkomplex erfolgt in Stufen, wobei zunächst eine Mutationssuche im HBB-Gen mittels Sequenzanalyse durchgeführt wird. Ist keine Mutation nachweisbar, wird eine Deletionsdiagnostik im β-Globin-Genkomplex angeschlossen. Bei entsprechenden hämatologischen Vorbefunden kann der Nachweis von großen Deletionen im β-Globin-Genkomplex zuerst erfolgen (z.B. bei V.a. δβ-Thalassämie). Die molekulargenetische Diagnostik dient der Sicherung der hämatologischen Befunde sowie der Abschätzung des Risikos für Nachkommen, an einer schweren Form einer Hämoglobinopathie zu erkranken.

α-Thalassämie

Die α-Thalassämie beruht auf einer quantitativen Störung der α-Globinketten-Synthese. Durch das Defizit an α-Globinketten kommt es zur Bildung von Überschusshämoglobinen, die maßgeblich am Krankheitsbild der α-Thalassämie beteiligt sind. Die häufigste molekulargenetische Ursache für α-Thalassämie sind große Deletionen im a-Globin-Genkomplex, die zum Verlust eines oder mehrerer α-Globingene führen. Da in der normalen menschlichen Zelle der α-Globin-Genkomplex aus 4 α-Globingenen besteht (je ein HBA1- und ein HBA2-Gen auf jedem Chromosomen 16), ist der Schweregrad des Krankheitsbildes abhängig von der Anzahl der deletierten α-Globingene. Die häufigsten Deletionen sind -α3.7, -α4.2, --SEA, --FIL, --MED, -α20.5 und --THAI. In seltenen Fällen können auch Punktmutationen bzw. kleinere Deletionen und Insertionen in den α-Globingenen für eine α-Thalassämie ursächlich sein. Triplikationen des α-Globingens führen nur in Kombination mit einer gleichzeitig bestehenden heterozygoten β-Thalassämie zum Phänotyp einer Thalassaemia intermedia oder Thalassaemia major.

Klinisch lässt sich die Symptomatik in 4 Schweregrade einteilen [15]:

  • α-Thalassaemia minima (asymptomatische Form): nur ein α-Globingen ist deletiert (-α/αα); diese Form wird meist nur zufällig entdeckt, da alle hämatologischen Parameter unauffällig sind.

  • α-Thalassaemia minor: Deletion von zwei α-Globin-Genen (--/αα, -α/-α), geringe hämatologische Veränderungen (Hypochromie, Mikrozytose)

  • HbH-Krankheit: es ist nur noch ein funktionelles α-Globin-Gen vorhanden (--/-α), Ein wesentliches Kennzeichen ist die unterschiedlich stark ausgeprägte hypochrome, mikrozytäre Anämie und der Nachweis von Hämoglobin H (HbH), einem Tetramer aus vier β-Globinketten (β4).

  • Hb-Bart’s-Hydrops-fetalis-Syndrom: vollständiger Verlust der α-Globin-Gene (--/--), ist in der Regel nicht mit dem Leben vereinbar. Die betroffenen Kinder sterben meist noch im Mutterleib oder kurz nach der Geburt.

Die Formen minima und minor zeigen im Blutbild keine bzw. nur geringfügige Veränderungen. Der Hämoglobinwert liegt im Normalbereich, kann allerdings bei der heterozygoten α0-Thalassämie und der homozygoten α+-Thalassämie etwas erniedrigt sein. Der MCV- und MCH-Wert variiert je nach Form. Im Fall der Thalassaemia minima liegt der MCH-Wert im Normbereich, jedoch meistens unter 27 pg. Bei der Thalassaemia minor liegt der Wert deutlich unterhalb des Normbereiches (siehe Tabelle 4 und 5). Bei Patienten mit HbH-Krankheit findet man Hb-Werte von 8–10 g/dL und einen MCV-Wert von unter 22 pg [1, 2, 6, 16]. Im Blutbild von Trägern einer Thalassaemia minima sind die entscheidenden Parameter (Hämoglobin, MCV, MCH, MCHC) kaum erniedrigt bzw. liegen im Normbereich (Tabelle 4).

Tabelle 4

Typische Laborbefunde bei einer heterozygoten α+-Thalassämie.

LaborparameterReferenzbereich (Mann)Resultate (Mann)Referenzbereich (Frau)Resultate (Frau)
Hämoglobin13,7–17,5 g/dL1511,2–15,7 g/dL11,7
Hämatokrit40,1%–51,0%43,434,1%–44,9%37,5
MCV79,0–92,2 fl7779,4–94,8 fl88,7
MCH25,7–32,2 pg26,625,6–32,2 pg27,7
MCHC32,3–36,5 g/dL34,632,2–35,5 g/dL31,2
Hb-Varianten (HPLC)
 HbF<2,0%<0,1<2,0%<0,1
 HbA21,5%–3,5%3,21,5%–3,5%2,1

Auffällige Blutwerte sind hervorgehoben.

Tabelle 5

Typische Laborbefunde einer Frau mit homozygoter α+-Thalassämie (α-Thalassaemia minor).

LaborparameterReferenzbereich (Frau)Resultate (Frau)
Hämoglobin11,2–15,7 g/dL12
Hämatokrit34,1%–44,9%37,4
MCV79,4–94,8 fl76,0
MCH25,6–32,2 pg24,4
MCHC32,2–35,5 g/dL32,1
Hb-Varianten
 HbF<2,0%0,4
 HbA21,5%–3,5%2,8

Auffällige Blutwerte sind hervorgehoben.

Bei Patienten mit einer α-Thalassaemia minor sind der MCV- und MCH-Wert deutlich erniedrigt (Tabelle 5) [1, 4].

Die Hämoglobindifferenzierung mittels HPLC ist bei allen drei Patienten unauffällig. Dadurch ist das Vorliegen einer β-Thalassämie weitestgehend ausgeschlossen und es besteht der Verdacht auf eine α-Thalassämie oder eine Eisenmangelanämie. Zur Differenzierung von Thalassämie und Eisenmangel kann neben der Bestimmung des Eisenstatus auch die Huber-Herklotz-Formel (gilt nur bei MCH <27 pg) herangezogen werden: HH=(MCH×RDW)/(10×Ec)+RDW Werte unter 21 weisen auf eine α-Thalassämie hin, während Werte über 23 für einen Eisenmangel sprechen. Um die Verdachtsdiagnose auf eine α-Thalassämie zu bestätigen, ist eine molekulargenetische Untersuchung notwendig [17].

Molekulargenetische Diagnostik von α-Thalassämien

Die molekulargenetische Diagnostik im α-Globin-Genkomplex erfolgt in Stufen, wobei zunächst die Diagnostik hinsichtlich der häufigen Deletionen mittels Gap-PCR oder MLPA durchgeführt wird. Bei Bedarf kann der Nachweis von Mutationen in den α-Globin-Genen mittels Sequenzanalyse angeschlossen werden. Die Diagnostik spielt eine wichtige Rolle bei Anlageträgern mit Kinderwunsch, um ein Risiko für schwere Hämoglobinopathien bei Nachkommen abzuschätzen. Nur die heterozygote alpha null Deletion hat eine klinische Bedeutung und kann bei Betroffenheit beider Eltern zum Hydrops fetalis Syndrom führen.

Schlussfolgerung

Hämoglobinopathien zählen zu den häufigsten monogenen Erbkrankheiten weltweit. Eine besonders hohe Prävalenz besteht in den Mittelmeerländern, in Teilen Asiens, im Nahen Osten und in Westafrika. Aufgrund der Migration spielen Hämoglobinopathien aber auch in Deutschland mittlerweile eine zunehmende Rolle in der Praxis. Die Basisdiagnostik erfolgt mittels Blutbild und Hämoglobindifferenzierung. Zudem sollte gegebenenfalls ein Eisenmangel ausgeschlossen werden. Die molekulargenetische Diagnostik dient der Verifikation der hämatologischen Befunde sowie der Abschätzung des Risikos für Nachkommen, an einer schweren Form einer Hämoglobinopathie zu erkranken. Im Vorfeld einer molekulargenetischen Diagnostik sollten bereits vorhandene Vorbefunde und eine Familienanamnese dem untersuchenden Labor mitgeteilt werden, um eine zielgerichtete und kosteneffiziente Diagnostik zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere bei der zeitkritischen Pränataldiagnostik. Die Einführung eines Hämoglobinopathie-Screenings für Risikopopulationen ist auch in Deutschland sinnvoll und derzeit in Vorbereitung.

Interessenkonflikt:

Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.


Korrespondenz: Maria-Fatima Tepedino, Zentrum für Humangenetik und Laboratoriumsdiagnostik (MVZ) Dr. Klein, Dr. Rost und Kollegen, Lochhamer Str. 29, Martinsried/Planegg Bayern 82152, Deutschland, Phone: +089-8955780, Fax: +089-895578780, E-Mail:
aBirgit Busse und Maria-Fatima Tepedino haben zu gleichen Teilen zu diesem Artikel beigetragen.

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Erhalten: 2015-5-29
Angenommen: 2015-8-27
Online erschienen: 2015-9-24
Erschienen im Druck: 2015-10-1

©2015 by De Gruyter

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