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Publicly Available Published by De Gruyter June 8, 2017

Soziale und gesundheitliche Ungleichheit im Alter und die Morbiditätskompression

Social and health inequality in old age and the compression of morbidity
  • Matthias Meinck EMAIL logo
From the journal Public Health Forum

Zusammenfassung

Soziale und gesundheitliche Ungleichheit im mittleren Lebensalter setzt sich auch im Alter (65+) fort. Verschiedene Untersuchungen liefern Hinweise für eine relative Morbiditätskompression in Deutschland, berücksichtigen dabei jedoch nicht immer Hochaltrige (90+) und Bewohner von stationären Betreuungseinrichtungen. Der Einfluss sozialer Determinanten auf die Morbiditätskompression im Alter sollte noch gezielter untersucht werden.

Abstract

Social and health inequality in the middle age also sustains into in old age (65+). Several studies provide indication for a relative compression of morbidity in Germany but do not always take into account the oldest old (90+) and residents of inpatient care facilities. Further investigations should specifically focus on social determinants of compression of morbidity.

Einleitung

Die Lebenserwartung ist in den westlichen Ländern und damit auch in Deutschland über einen langen Zeitraum deutlich gestiegen, ohne dass ein Ende dieses Anstiegs derzeit absehbar ist. Damit verbunden ist die Frage, in welchem Umfang es sich bei der steigenden Lebenserwartung um zusätzliche Jahre in Gesundheit bzw. in Krankheit handelt. Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen war hierbei die Expansions-/Medikalisierungsthese nach Gruenberg [1] bzw. die gegensätzliche These einer Morbiditätskompression nach Fries [2], die nachfolgend näher betrachtet werden soll. Diese Thematik ist insgesamt von großer Bedeutung für die weitere Ausgestaltung unserer Sozial- und Gesundheitssysteme, da die Wirkungen von präventiven, kurativen, rehabilitativen und pflegerischen Bemühungen für einen möglichst langen Erhalt von Gesundheit und Wohlbefinden bis ins höchste Lebensalter daran indirekt abgeschätzt werden können. Zugleich stellt sich die Frage des Einflusses sozialer Faktoren auf den Umfang einer möglichen Morbiditätskompression und ihrer gezielten Beeinflussung.

Indikatoren von Gesundheit im Alter

Die Betrachtung der allgemeinen Lebenserwartung ist für die Fragestellung nach einer Morbiditätskompression allein nicht hinreichend aussagefähig [3]. Aufgrund der Zunahme chronischer Erkrankungen und damit auch von Multimorbidität im höheren Lebensalter [4], [5], [6] rücken zu vermeidende Krankheitsfolgen im Sinne von Behinderungen und Beeinträchtigungen in den Fokus von Gesundheit. Mittlerweile werden in empirischen Untersuchungen vermehrt – jedoch konzeptionell noch sehr uneinheitlich [7] – diese Krankheitsauswirkungen als ergänzende Gesundheitsindikatoren für diese Altersgruppe herangezogen. Mit Berücksichtigung der Fähigkeit zur selbständigen und selbstbestimmten Lebensführung z.B. anhand basaler Alltagsaktivitäten kann zudem eine ressourcenorientierte Perspektive eingenommen werden. Routinedaten von Kranken- und Pflegekassen können diese Indikatoren in Deutschland derzeit nur sehr eingeschränkt abbilden [8]. So werden weiterhin direkte Datenerhebungen für die Bestimmung dieser Indikatoren gesunder Lebenserwartung erforderlich bleiben.

Ergebnisse zur Morbiditätskompression

Aktuelle Übersichtsarbeiten berichten über Forschungsergebnisse, die entweder eine Kompression oder eine Expansion von Morbidität nahelegen [7], [9]. Gerade in Ländern mit hohen Einkommen tendieren die Ergebnisse aus den letzten zwei bis drei Dekaden jedoch eher zu einer Morbiditätskompression und weniger zu einer Morbiditätsexpansion [7]. Dabei handelt es sich ganz überwiegend um Belege für eine relative Morbiditätskompression. Hierbei steigt die Lebenszeit in Gesundheit stärker als die in Krankheit bzw. Behinderung. Für Deutschland weisen aktuelle Ergebnisse von Kohortenvergleichen auf eine verbesserte funktionale Gesundheit und auf eine Zunahme von Lebensjahren mit guter selbsteingeschätzter Gesundheit hin [3], [8], [10], [11]. Eine absolute Morbiditätskompression (Lebenszeit in Gesundheit steigt stärker als die allgemeine Lebenserwartung) wurde hingegen bislang nur vereinzelt und für wenige bevölkerungsrelevante Gesundheitsindikatoren wie z.B. kognitive Beeinträchtigungen berichtet [12], [13].

Für Deutschland wurden überwiegend Studien ohne adäquate Berücksichtigung von Personen in Pflegeheimen und in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie von Hochaltrigen durchgeführt, was mit einem relevanten Verzerrungspotenzial im Hinblick auf eine Überschätzung der Morbiditätskompression einhergehen dürfte [14].

Morbiditätskompression und soziale Ungleichheit

Auch für Deutschland zeigen sich im höheren Lebensalter zum Teil deutliche soziale Ungleichheiten in der Mortalität, Morbidität und anderen Gesundheitsindikatoren [10], [11], [15], [16]. Unterschiede zeigten sich insbesondere anhand von Bildungsunterschieden. Auch wenn die Ergebnisse zur Morbiditätskompression selbst noch weiterer Bestätigung bedürfen, sollte hierbei auch zu fördernden wie hemmenden sozialen Einflüssen auf eine Morbiditätskompression weiter geforscht werden. Erste Studien haben in diesem Zusammenhang Hinweise auf unterschiedliche Entwicklungen innerhalb einer Population geliefert: Expansion der Morbidität bei Personen mit niedriger Bildung und Kompression der Morbidität bei Personen mit höherer Bildung [17], [18]. Zumeist sind empirische Forschungsprojekte jedoch auf die Überprüfung einer möglichen allgemeinen Morbiditätskompression kalibriert, so dass multiple Gruppenvergleiche für unterschiedliche soziale Faktoren wie Geschlecht, Ethnie, Bildung, Einkommen und Region nicht durchgeführt werden können. Zudem wird der Indikator Einkommen im Alter für die Abbildung von Statusunterschieden kritisch diskutiert, da hier ergänzende Faktoren wie Vermögen oder Immobilienbesitz zusätzlich Bedeutung haben könnten [19], [20].

Diskussion

Die vorliegenden empirischen Daten zur Situation in Deutschland sprechen auch bei Menschen im hohen Alter eher für eine Verbesserung von Gesundheitsindikatoren über die letzten Dekaden im Sinne einer relativen Morbiditätskompression. Da aktuelle Ergebnisse von Kohortenvergleichen (Deutscher Alterssurvey und Sozio-oekonomisches Panel) allerdings auf keine weitere anhaltende positive Entwicklung der Gesundheit der deutschen Bevölkerung im mittleren Alter (bis 65 Jahre) hindeuten [10], [11], könnten sich diese Entwicklungen aber im Alter auch wieder umkehren. Vorausschauende Förderung von Gesundheit im hohen Alter beginnt bereits in früheren Jahren. Neben der Frage nach einer allgemeinen Morbiditätskompression sollte möglichen sozialen Unterschieden in den Veränderungen relevanter Gesundheitsindikatoren zwischen einzelnen Kohorten zukünftig noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.


Korrespondenz: Dr. P.H. Matthias Meinck (Dipl.-Soz.), Kompetenz-Centrum Geriatrie des GKV-Spitzenverbandes und der MDK-Gemeinschaft, c/o MDK Nord, Hammerbrookstr. 5, 20097 Hamburg

  1. Autorenerklärung

  2. Autorenbeteiligung: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

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Published Online: 2017-6-8
Published in Print: 2017-6-27

©2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 19.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2016-2173/html
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