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Publicly Available Published by De Gruyter February 21, 2017

Russia changes the game: Bilanz der russischen Militärintervention in Syrien

  • Tomisha Bino EMAIL logo and Joachim Krause EMAIL logo

Kurzfassung:

Die seit Herbst 2015 laufende russische Militärintervention in Syrien hat nicht nur die Lage vor Ort verändert, sondern auch die strategische Lage im Nahen und Mittleren Osten auf den Kopf gestellt. Russland hat demonstriert, dass es im östlichen Mittelmeerraum über militärische Handlungsfähigkeit verfügt. Mit ihrer zögerlichen Haltung hat die Regierung in Washington Russland ein Window of Opportunity eröffnet. Die Russen im Nachhinein zu einer Aufgabe ihres Einsatzes zu zwingen, ist für die USA kaum möglich, es sei denn sie sind zu einer massiven Eskalation bereit. Die Intervention hat das scheinbar unvermeidliche Ende des Assad-Regimes abwenden können und hat das Bündnis zwischen Russland und dem Iran gestärkt, was innerhalb der sunnitischen arabischen Welt zu großer Besorgnis beiträgt.

Abstract:

The Russian military intervention in Syria from fall 2015 has not only changed the local situation, it has also fundamentally altered the strategic balance in the Middle East. Russia has demonstrated that it is capable of pursuing independently military options in the region. Russia was able to proceed militarily in Syria, because the hesitant attitude of the US Administration provided for a window of opportunity. To undo the Russian strategic gains, the US would have to be ready for a major escalation – which seems very unlikely. The Russian intervention has saved the Assad-regime from its demise; it also has strengthened the alliance between Russia and Iran, and, hence, has increased the concerns among Sunni Arab states about the future regional balance.

1 Einleitung

In dem nunmehr fast sechs Jahre andauernden Krieg in Syrien, stellt die seit September 2015 anhaltende russische Militärintervention eine der wichtigsten Entwicklungen dar. Dieser Krieg hat bereits über 470.000 Menschen das Leben gekostet,[1] er hat rund 6,6 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen werden lassen[2] und in Europa die schwerwiegendste Flüchtlingsbewegung seit Jahrzehnten ausgelöst.[3] Der Anlass für den Krieg war die schiere Überlebensnot des Assad Regimes. Die US-amerikanische Zurückhaltung bot Russland die Möglichkeit, das geostrategische Vakuum zu füllen.[4] Die Frage ist: war diese Militärintervention ein game changer? Oder wird sie ein weiteres Beispiel dafür sein, dass sich militärische Gewalt nicht auszahlt?

Das aktive Eingreifen Russlands mit Streitkräften in den syrischen Bürgerkrieg kam für viele nicht überraschend. Russische Militärhilfe für das Assad-Regime gibt es seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts.[5] Als Bashar Assad im Sommer 2011 angesichts der großen Demonstrationen innenpolitisch unter Druck geriet, war Russland rasch mit Waffenhilfe zur Stelle. Syrien wurde 2011 zum einem der größten Waffenkunden Russlands und erhielt neben Handfeuerwaffen, Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen vor allem Kampfhubschrauber der Typen Mi-17 und Mi-25. Russische Techniker und Militärberater halfen Syrien, die neu gelieferten Waffen und die bereits vorhandenen Bestände kampfbereit zu halten. Kampfhubschrauber sind reaktionsfähig, flexibel einsetzbar und können große Räume abdecken. Sie bieten daher ein effektives Mittel zur Bekämpfung von kleinen Milizen aber auch zur gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen. Amnesty International und Human Rights Watch verurteilten damals diese Lieferungen,[6] was in Russland keinen weiteren Eindruck hinterließ. Viel wichtiger war für die russische Regierung sicher zu stellen, dass es keine militärische Intervention des Westens in Syrien gibt.[7] Daher verbesserte Russland die bereits schon schlagkräftige syrische Luftabwehr mit Abwehrsystemen des Typs Buk-M2, lieferte zudem ein Raketenabwehrsystem zur Küstenverteidigung und verstärkte die Ausbildung syrischer Piloten für den Luftkampf.[8]

Wegen der jahrzehntelangen engen militärischen Zusammenarbeit war es auch keine Überraschung, dass die russische Militärdoktrin im Bereich der Aufstandsbekämpfung von den syrischen Streitkräften übernommen wurde. Schon in den 80er Jahren hatte sich dies gezeigt als ein Aufstand der Moslembruderschaft brutal niedergeschlagen wurde. Die russische Doktrin der Aufstandsbekämpfung läuft anders als westliche Konzepte auf eine repressive Strategie hinaus. Westliche Counterinsurgency-Doktrinen propagieren die Bevölkerung für sich zu gewinnen, zu schützen und die politischen Ursachen des Aufstands zu beheben. Sie wollen die Aufständischen isolieren und dadurch zur Aufgabe zwingen. Kollateralschäden sollen bei kinetischen Einsätzen gegen bewaffnete Aufständische weitgehend vermieden werden (etwa indem Flugzeuge mit ungelenkten Bomben durch hochpräzise Kampfdrohnen ersetzt werden), um die Bevölkerung nicht gegen die eignen Truppen aufzuwiegeln. Die russische Doktrin schlägt hingegen einen anderen Weg ein.[9] Hier werden aufständische Kämpfer immer dort aggressiv bekämpft, wo sie sich gerade aufhalten. Von den Aufständischen gehaltene Räume werden mit massiven Artilleriefeuer und Bombardements aus der Luft unter Beschuss genommen, wobei der Schutz der Zivilbevölkerung bewusst missachtet wird. Dabei sollen die Kriegskosten nicht allein für die Aufständischen, sondern auch für die Bevölkerung in die Höhe getrieben werden, um die öffentliche Unterstützung des Aufstands möglichst kostspielig zu machen. Ferner ist die Massenumsiedlung von Menschen in befriedete Räume ein konstitutives Element dieser Doktrin. Da jedoch nicht alle Zivilisten die Möglichkeit haben, rechtzeitig in derartige Räume zu flüchten und weil auch viele von ihnen als Verdächtige gelten und unter Beschuss geraten, ist diese Doktrin für Unbeteiligte erkennbar verlustreich.[10] Dieses Vorgehen ist nicht nur aus einer moralischen und rechtlichen Perspektive höchst fragwürdig, sondern es besteht die Gefahr, dass sich die Bevölkerung erst recht radikalisiert und den Aufständischen in die Arme läuft.[11] Charles Lister, der sich ausgiebig mit dschihadistischen Gruppen in Syrien beschäftigt hat, argumentiert, dass diese Entwicklung in Syrien beobachtet werden konnte. [12] Die russische Militärintervention hat auch dazu geführt, dass mehr Oppositionsgruppen ein Bündnis mit radikalen dschihadistischen Kräften eingingen.

Der Krieg, den das syrische Regime Bashar Assads im Sommer 2011 gegen seine eigene Bevölkerung begann und der sehr bald in einen bewaffneten Aufstand von Teilen der Bevölkerung gegen dessen Herrschaft überging, wurde von Anbeginn an von der Regierung in brutaler und repressiver Weise geführt. Alle Informationen und Hinweise aus dem syrischen Kriegsgebiet lassen diese Strategie erkennen. Die hohe Zahl der Binnenflüchtlinge und der Toten legt beredtes Zeugnis von den Auswirkungen dieser Form der Aufstandsunterdrückung ab. In der Folge stärkte die damit einhergehende Brutalität die radikaleren Kräfte unter den Aufständischen, besonders den Islamischen Staat und die al-Nusrah-Front.

Trotz weiterer massiver Unterstützung seitens Russlands und des Irans, einschließlich der Entsendung von Beratern und technischem Personal, geriet die syrische Regierung immer stärker unter Druck. Die Truppen und Milizen des Assad Regimes verfielen in immer brutalere und perfidere Taktiken, um ihre Lage zu verbessern, darunter Massaker, Fassbomben, Giftgas und die unmenschlichen Behandlungen von Gefangenen. Die Folge war, dass das russische Beraterkontingent immer größer wurde. Auch wenn offizielle russische Stellen sich weitgehend in Schweigen hüllten, ließen die entsprechenden Truppenbewegungen sich nicht verbergen und wurden in den Medien aufgegriffen.[13]

Der Übergang zu einer offenen russischen Militärintervention im September 2015 erfolgte nach einem vorherigen Hilfeersuchen der syrischen Regierung, deren Lage immer verzweifelter wurde. Die Operation wurde im Sommer 2015 intensiv vorbereitet. Erst erfolgte der Abschluss eines Stationierungsvertrags mit der syrischen Regierung. Dann wurde zuerst ein Kontingent von Armee- und Luftabwehreinheiten sowie Logistiker in den Hafen von Tartus verschifft, um von dort aus zur Luftwaffenbasis Hmeimim bei Latakia aufzubrechen. Die Luftwaffenbasis wird seither exklusiv von der russischen Luftwaffe genutzt und entsprechend geschützt. Sie kann bis zu 50 Flugzeuge aufnehmen. Ende September 2015 verlegte Russland umfangreiche Luftwaffeneinheiten nach Syrien, die über den iranischen und den irakischen Luftraum einflogen. Das russische Militärkontingent in Syrien umfasst seither etwa 4.000 Soldaten sowie eine unbekannte Zahl von privaten militärischen Dienstleistern. Seit September 2015 sind 34 Kampfflugzeuge auf dem Luftwaffenstützpunkt Hmeimim bei Latakia stationiert, darunter vier Mehrkampfflugzeuge vom Typ SU-30, ein Dutzend taktische Jagdbomber vom Typ SU-24 („Fencer), ein weiteres Dutzend Erdkampfflugzeuge vom Typ Su-25 („Frogfoods“) sowie sechs weitere schwere Jagdbomber vom Typ SU-34.[14] Im Januar 2016 wurden mehrere SU-35 Jagdflugzeuge in Hmeimin stationiert, deren Aufgabe es ist, die Flüge der Jagdbomber und Erdkampfflugzeuge zu schützen. Zuvor war nach dem Abschuss einer SU-24 durch die Türkei im November 2015 das modernste russische Luft- und Raketenabwehrsystem S-400 auf dem Luftstützpunkt stationiert worden. Mit dem Abwehrsystem und den SU-35 Abfangjägern hat Russland die Luftüberlegenheit im syrischen Luftraum, theoretisch bis in die Türkei hinein.

Hauptaufgabe der russischen Soldaten sollte es sein, die syrischen Truppen bei Bodeneinsätzen zu unterstützen. Allerdings wurden recht bald auch Spezialeinheiten nach Syrien entsandt, die offenbar auch Aufgaben der direkten Kampfunterstützung übernehmen sollten. Dafür sprach, dass schon von Anfang an Hubschrauber der Typen Mi-17 und Mi-24 ins Land gebracht wurden. Erstere sind Truppentransporter, letztere sind Kampfhubschrauber. Aber offensichtlich sind auch recht bald private Sicherheitsdienste eingeflogen worden, deren Aufgabe es war, „heikle“ Missionen zu erfüllen, für die regulären Truppen nicht verwendet werden sollten.[15] Zudem wurden gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und Raketenwerfer auf die russische Luftwaffenbasis gebracht.[16]

Seit September 2015 hat die russische Militärintervention drei Phasen durchmacht: in der ersten Phase bis Februar 2016 wurde mittels einer massiven Angriffswelle versucht den syrischen Regierungstruppen und den mit ihnen verbündeten Milizen und ausländischen Truppen weitgehende Territorialgewinne zu ermöglichen. In der zweiten Phase wurden die Luftangriffe zumindest in der Selbstdarstellung zurückgefahren und mit politischen Mitteln versucht die Front der Regimegegner aufzuweichen, indem die „gesunde Opposition“ (Putin) von den Terroristen (IS, al-Nusrah und andere Islamisten) getrennt werden sollte. Zu diesem Zweck wurden gemeinsam mit den USA Waffenstillstandsabkommen entworfen, die jedoch scheiterten. Seit dem Herbst 2016 hat eine dritte Phase eingesetzt, in der offenbar angestrebt wird eine militärische Entscheidung zugunsten des Assad-Regimes zumindest im Westen des Landes zu erzwingen.

Zu Beginn der russischen Militärintervention in Syrien wurde dies von Seiten der US-Regierung als ein weiterer Schritt der Eskalation angeprangert und von US Verteidigungsminister Ashton Carter mit dem Gießen von „Öl in das Feuer“ des Konflikts verglichen.[17] Die Reaktion der arabischen Welt folgte den bekannten politischen Spannungslinien. Während in Syrien Politiker das Vorgehen Russlands als richtigen Schritt begrüßten,[18] bezeichneten andere die russische Intervention als „Besatzung“.[19]

2 Die erste Phase der militärischen Operationen

Am 30. September 2015 erfolgten die ersten, von der syrischen Regierung angeforderten Angriffe der russischen Luftwaffe in der Gegend um Homs und um Hama.[20] Das erklärte Ziel war es Stellungen der Terrororganisation IS zu bekämpfen. Tatsächlich griffen die russischen Kampfflugzeuge primär Ziele im Westen und Süden des Landes an, wo keine IS Milizen operierten, sondern Rebellengruppen, die der von den USA unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA) angehörten.[21] Im Laufe des Oktobers 2015 nahm die Zahl der russischen Luftangriffe massiv zu. Der Großteil der Angriffe diente der Unterstützung der syrischen und iranischen Bodentruppen bei ihren Versuchen Territorium zurück zu gewinnen. Zum Zweck der Koordination der Luft- und der Bodenoperationen wurde in Bagdad ein gemeinsames Operationszentrum Russlands, Syriens, Iraks, des Irans und der Hisbollah Miliz eingerichtet.[22] Der Iran verstärkte sein – weitgehend aus Pasdaran-Kämpfern bestehendes – Kontingent an Bodentruppen in Syrien.[23] Die russischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Frontabschnitte. Hier standen die syrische Armee und regierungsnahe Milizen im Kampf mit Oppositionstruppen, die allerdings nicht dem IS angehörten. Nur einzelne Schläge richteten sich gegen IS Einrichtungen tief im Hinterland des IS, wobei Erdölfördereinrichtungen und Transportkapazitäten zerstört wurden.[24] Während Angriffe gegen den IS medial aufwändig kommuniziert wurden, richtete sich der militärische Einsatz tatsächlich weitgehend gegen andere Kräfte der Opposition.

Am 7. Oktober 2015 beschoss Russland, zeitgleich mit dem Beginn einer größeren Bodenoffensive der syrischen Regierungstruppen und ihrer Verbündeten, Positionen der syrischen Opposition mit 24 Marschflugkörpern, die von russischen Kampfschiffen aus der Kaspischen See abgefeuert worden waren. Mit ihren 500 kg schweren Sprengköpfen sollten offenbar fixe Positionen und Bunker angegriffen werden. Die Einsätze dienten aber auch dem Zweck, die USA und andere westliche Mächte in der Region zu beeindrucken und sie von Handlungen abzuhalten, die der syrischen Regierung hätten schaden können. Vier Marschflugkörper sollen über iranischem Territorium angestürzt sein – eine Meldung die Moskau sofort entrüstet zurück wies.[25]

Dass die meisten russischen Luftangriffe gegen vergleichsweise gemäßigte Rebellengruppen durchgeführt wurden und weniger gegen den IS oder den al-Qaida Ableger al-Nusrah ‚wurde von der amerikanischen Regierung sowie von unabhängigen Beobachtern und syrischen Oppositionsgruppen scharf kritisiert.[26] Ein Kurswechsel erfolgte erst, nachdem der IS am 31. Oktober 2015 einen Bombenanschlag auf ein russisches Verkehrsflugzeug über dem Sinai verübte, bei dem 224 Personen ums Leben kamen. Zwei Wochen später griff Russland das IS-Zentrum in Raqqa an, dieses Mal mit 25 Langstreckenbombern der Typen TU-160, TU-95MSM sowie TU-22M3, die von Russland aus starteten und Marschflugkörper abfeuerten.[27]

Einen der kritischsten Momente der Militärintervention stellte der Abschuss eines russischen Su-24 Jets durch die Türkei am 24. November 2015 dar. Die Türkei behauptete, dass zwei russische Flugzeuge den türkischen Luftraum verletzt und dabei Aufforderungen zum Richtungswechsel ignoriert hätten. Eines der Flugzeuge habe schließlich den türkischen Luftraum verlassen, das andere wurde durch eine türkische F-16 unter Beschuss genommen. Russland hat dem widersprochen und eine Verletzung des türkischen Luftraums geleugnet.[28] Die russische Reaktion auf den Zwischenfall folgte prompt. Russland stationierte weitere Luftabwehrsysteme in Syrien.[29] Zudem legte Moskau das Gaspipeline-Projekt Turkstream auf Eis und warnte seine Bürger vor Reisen in die Türkei. Außerdem verhängte die russische Regierung ein Importverbot für türkische Lebensmittel.[30] Der Zwischenfall schürte die Angst vor einer regionalen Eskalation, in die auch die NATO hereingezogen werden könnte.[31] Auch wenn sich die Gemüter abkühlten, verschlechterten sich die bereits angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und Russland. Beide Staaten unterstützen unterschiedliche Parteien im Syrienkonflikt. Während Moskau an Amtsinhaber Assad festhält, fordert Ankara dessen Rücktritt. Russlands Unterstützung für syrisch-kurdische Gruppierungen in den Syrien-Friedensgesprächen ist ein weiterer Streitpunkt, da die türkische Regierung diese kurdischen Gruppen als Bedrohung ansieht.[32] Mittlerweile haben sich die russisch-türkischen Beziehungen verbessert, aber die grundsätzlichen Unterschiede bleiben bestehen.

Im Dezember 2015 kam es zu einer weiteren Intensivierung der russischen Luftangriffe sowohl auf IS-Stellungen wie auf Positionen der Freien Syrischen Armee. Während die Angriffe bislang auf den Norden beschränkt waren, griffen die russischen Streitkräfte nun auch Ziele im Süden des Landes an. Dabei unterstützen sie die syrische Armee, die gemeinsam mit Einheiten der Hisbollah und Pasdaran eine Rückeroberungsaktion im Süden Syriens durchführten und die strategisch wichtige Stadt Sheikh Maskin zurück gewannen.[33] Diese war zuvor eine Hochburg von gemäßigten Rebellengruppen, die von den USA unterstützt wurden. Die Stadt liegt an der Hauptversorgungsroute, die Damaskus mit der Stadt Daraa im Süden verbindet. Die Einnahme von Sheikh Maskin durch Regierungstruppen war eine erhebliche Niederlage für die Rebellen und wurde von einem der Rebellenführer der Region als „Verlust des gesamten Südens“ bezeichnet.[34]

Die Luftangriffe wurden im Januar und Februar 2016 trotz der gleichzeitigen Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit großer Intensität fortgesetzt. Sie wurden Ende Februar mit dem Inkrafttreten des Waffenstillstandsabkommens von Genf (s. unten) vorübergehend eingestellt. Die damals von russischer Seite gelieferten Informationen vermittelten eine Vorstellung von der Intensität der Bombardierungen. Bereits in den ersten 3 Monaten flog die russische Luftwaffe 5.240 Einsätze.[35] Im März 2016 erklärte der russische Verteidigungsminister Sergej Shogui, dass von September 2015 bis Ende Februar 9.000 Einsätze stattgefunden hätten.[36] Das waren im Schnitt 60 Kampfeinsätze pro Tag. Zum Vergleich: die USA führten im gleichen Zeitraum weniger als 10 Flugeinsätze pro Tag gegen den IS durch. Die russischen Luftangriffe konzentrierten sich nach eigenen Angaben hauptsächlich auf den Nordwesten Syriens und richteten sich gegen Stellungen der Jabhat al-Nusra (nunmehr bekannt als Jabhat Fateh al-Sham) in den Provinzen Idlib, Latakia, Homs und Hama. Dies ermöglichte den Truppen des Assad-Regimes ihre Position im Inneren des Landes, auch „nützliches Syrien“[37] genannt, zu stärken und auszuweiten. Allerdings ließen die russischen Angaben auch eine gewisse Ernüchterung erkennen. Allein die Flugoperationen dürften bis Ende Februar 2016 zwischen 450 und 550 Millionen US Dollar gekostet haben, die Gesamtkosten des Einsatzes dürften weit darüber gelegen haben. Verlautbarungen des russischen Verteidigungsminister Shoigu zufolge konnten die syrischen Regierungstruppen aufgrund der russischen Luftunterstützung 10.000 km2 Territorium zurück erobern – was gemessen am Einsatz ein eher bescheidener Erfolg war.[38] Zurückzuführen ist diese nüchterne Bilanz offenbar auf die mangelnden Fähigkeiten der syrischen Streitkräfte, aus den russischen Luftangriffen Kapital zu schlagen. In russischen Armeekreisen gelten die syrischen Streitkräfte als unfähig, korrupt und extrem brutal gegenüber der eigenen Bevölkerung.[39] Weniger glaubhaft waren die bombastischen Zahlen hinsichtlich der russischen Angriffe auf den IS und die dabei erreichten Ziele. Angeblich hätten die russischen Luftangriffe über 2.000 IS-Kämpfer getötet, darunter über 100 Feldkommandeure.

3 Die internationalen Bemühungen um einen Waffenstillstand

Die russischen Luftangriffe wurden Ende Februar 2016 vorübergehend eingestellt, nachdem auf diplomatischer Ebene ein Waffenstillstand vereinbart werden konnte, der die syrische Regierung auf der einen Seite sowie jene Rebellenmilizen auf der anderen Seite umfasste, die nicht zum IS oder zu al-Nusrah gehörten. Entsprechende Verhandlungen hatte es schon seit 2012 gegeben, sie waren aber ohne Ergebnis geblieben. Nun wollten sich die USA im direkten Kontakt mit Russland um Fortschritte bemühen. Am 23. Oktober 2015 trafen in Wien Vertreter der USA, Russlands, Saudi-Arabiens und der Türkei zu ersten Vorgesprächen zusammen. Am 30. Oktober 2015 begannen Friedensgespräche unter der Ägide Russlands und den USA, an denen die Außenminister von 20 Staaten teilnahmen. Die Gespräche auf Ebene der Außenminister blieben aber ohne Ergebnis. Hauptstreitpunkt blieb die Rolle Assads in einem zukünftigen Syrien.[40] Sie endeten mit der Aufforderung an die Vereinten Nationen, zwischen der syrischen Regierung und der syrischen Opposition zu vermitteln und nach einer politischen Lösung des Syrienkonflikts zu suchen.[41] Ein weiteres Ergebnis der Gespräche war die Einigung, den Iran in zukünftige Verhandlungen mit einzubinden. Es markierte die Anerkennung Seitens der USA, dass eine politische Lösung der Syrienkrise ohne die Beteiligung von Assads Verbündeten unmöglich ist.[42]

Ein zweites Treffen der nunmehr als International Syria Support Group (ISSG) bekannten Vermittlergruppe fand am 14. November 2015 statt. Auch wenn die USA und Russland nicht in der Lage waren, die Streitfrage des Verbleibs Assads zu lösen,[43] gelang es doch, eine Einigung über einen gemeinsamen Friedensplan für Syrien zu erzielen. Die Mitglieder des ISSG stimmten überein, einen Waffenstillstand zwecks Vorbereitung weiterer Schritte zur Bildung einer Übergangsregierung zu unterstützen.[44] Die ISSG verabschiedete eine Zeitlinie für den Beginn von Verhandlungen über einen politischen Übergangsprozess mit dem Zieldatum 1. Januar 2016. Jordanien wurde damit beauftragt, in Gesprächen mit Geheimdiensten und Armeeverantwortlichen zu eruieren, ob unter den beteiligten Parteien eine Übereinkunft darüber getroffen werden könne, welche im Syrienkrieg aktiven Personen und Gruppierungen als Terroristen einzustufen sind und welche nicht.[45]

Am 10. Dezember 2015 traten in Saudi-Arabien Vertreter oppositioneller syrischer Milizen und Bewegungen zusammen, ohne IS und al-Nusrah, aber unter Mitwirkung der salafistischen Milizen Jaish al-Islam und Ahrar al-Sham. Beide Milizen zählen zu den größten bewaffneten Oppositionsgruppen in Syrien und werden sowohl von Einheiten der FSA als auch al-Nusrah als wichtige Bündnispartner betrachtet. Die Teilnehmer beschlossen Prinzipien und Bedingungen für Gespräche mit der syrischen Regierung.[46] Von Russland und Syrien wurden die Ergebnisse zurückgewiesen. Man verhandele nicht mit Terroristen.[47]

Die Ergebnisse des ISSG-Treffens wurden dennoch am 18. Dezember 2015 durch die Resolution 2254 (2015) des UN-Sicherheitsrats bestätigt, wodurch sie ein größeres politisches Gewicht erhielten.[48] Die Resolution schuf zudem Klarheit hinsichtlich der Rahmenbedingungen für eine angestrebte Wahl in Syrien und betonte die Notwendigkeit, die staatlichen syrischen Institutionen zu erhalten. Am Interessantesten war jedoch, was die Resolution nicht thematisierte. Die zukünftige Rolle Assads in Syrien bleibt unerwähnt. Stattdessen wurde betont, dass das syrische Volk über die Zukunft Syriens entscheiden wird.[49] Die Handschrift der russischen Diplomatie war hier deutlich erkennbar.

Eine Zeitlang schien es als ob die Bemühungen der ISSG Früchte tragen würden. Besonders die dritte Runde der Gespräche in Genf, die am 1. Februar 2016 begannen, wurde mit viel Optimismus begonnen. Es sollte jedoch anders kommen. Bereits zu Beginn entbrannte ein Streit über die Frage, welche Oppositionsgruppen einen Platz am Verhandlungstisch bekommen sollten. Während Russland zunächst Gesprächsbereitschaft mit Jaish al-Islam und Ahrar al-Sham signalisierte, wurden die Salafisten kurz darauf von Russland und Syrien als Terroristen bezeichnet und ihre Teilnahme an den Verhandlungen zurückgewiesen.[50] Syrien und Russland behielten sich vor, weiterhin gegen die von ihnen als terroristisch betrachteten Milizen vorzugehen, auch während der Gespräche. Bei den anhaltenden Militäroperationen kamen jedoch auch Stellungen der FSA unter Beschuss. Zwei Tage später entschied sich die Delegation der syrischen Opposition wegen der andauernden russisch-syrischen Militäraktivitäten in Aleppo den Saal zu verlassen und die Gespräche auszusetzen.[51] Im Rahmen der Aleppo-Offensive gelang es der syrischen Armee mit der Unterstützung der russischen Luftwaffe die Belagerung zweier Städte des pro-Assad Lagers zu durchbrechen und die Nachschublinie der Rebellen aus der Türkei zu kappen.

Am 12. Februar 2016 übernahmen Russland und die USA im Einklang mit der Resolution des UN-Sicherheitsrats 2254 (2015) den Ko-Vorsitz einer Task Force zur „Erarbeitung der Modalitäten“[52] eines Waffenstillstands in Syrien. Dieser trat am 27. Februar 2016 in Kraft.[53] Bereits binnen 24 Stunden prangerte jedoch Saudi-Arabien das Vorgehen Russlands an und beschuldigte die russische Armee den Waffenstillstand gebrochen zu haben. Vergleichbare Berichte von Verstößen beider Seiten gegen das Waffenstillstandsabkommen folgten. Sowohl die USA als auch Russland bekräftigten, dass der Waffenstillstand weitgehend eingehalten werde, um so die politischen Einigungsbemühungen voranzutreiben. Trotz einiger Schwächen und Verstößen ermöglichte das Waffenstillstandsabkommen das Leid der Bevölkerung zu mildern, humanitäre Hilfe in zahlreiche belagerte Städte zu bringen und ein gewisses Gefühl der Ruhe in der syrischen Bevölkerung einkehren zu lassen.[54] Der Waffenstillstand führte sogar dazu, dass in einigen Regionen wieder Demonstrationen gegen das Regime stattfanden.[55] Öffentliche Proteste richteten sich aber auch gegen die Präsenz von al-Nusrah.[56] Dies kann als Anzeichen dafür gewertet werden, dass die Dschihadisten, die in Oppositionskreisen ein gewisses Ansehen für ihre militärische Schlagkraft erlangten, die gewonnene Sympathie in Friedenszeiten schnell wieder verlieren.[57] Beobachter betonten jedoch, dass der Waffenstillstand die syrische Regierung bevorteile, weil die ihnen loyal gegenüber stehenden Landesteile mit Nahrungsmitteln, Wasser und Medizin versorgt werden können, die anderen jedoch ums Überleben kämpfen müssten[58].

Auch wenn das Waffenstillstandsabkommen brüchig blieb, versammelten sich Vertreter der syrischen Regierung und der Opposition am 14. März 2016 erneut in Genf, um die Friedensgespräche fortzusetzen. Am selben Tag erklärte der russische Präsident Vladimir Putin überraschenderweise, dass die Ziele der Militärmission erreicht seien und ordnete den Rückzug des „Hauptteils“ der russischen Streitkräfte aus Syrien an. Dieser für alle Seiten überraschende Schritt bot Anlass zu zahlreichen Erklärungsversuchen. Einige sahen darin einen wohlkalkulierten Schritt zur Vermeidung russischer Verluste, andere erblickten in ihm ein Signal an Assad, dass dieser nicht um jeden Preis auf die Unterstützung durch Russland zählen könne.[59] Es wurde aber auch als ein Zeichen der De-Eskalation an die USA interpretiert. Was immer es war: Einen wirklichen Rückzug der russischen Truppen hat es nicht gegeben. Viel eher war dies ein Täuschungsmanöver. Der Luftwaffenstützpunkt Hmeimin und die Marinepräsenz in Tartus blieben weiterhin einsatzfähig und die russischen Luftangriffe wurden auch nach der Ankündigung des Rückzugs fortgesetzt, wenngleich nicht mehr in der hohen Intensität wie zuvor.[60]

Die kommenden Monate sahen eine Erosion des Waffenstillstandsabkommens infolge ständiger Verletzungen. Einer der Gründe für die mangelhafte Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens war dessen Widersprüchlichkeit. Dieses konnte nur jene Milizen einbeziehen, die nicht zum Islamischen Staaten oder der al-Nusrah-Front und deren Umkreis gehörten. Das gab den radikalen Islamisten jederzeit die Möglichkeit, durch Angriffe auf syrische Truppen oder mit ihnen verbündeter Einheiten diese zum Reagieren zu zwingen. Sie hatten jeden Anreiz, den Waffenstillstand zu stören, weil sie bei einer über den Waffenstillstand vermittelten Annäherung der moderateren Milizen an das Regime die Verlierer gewesen wären. Da die Lage an vielen Stellen in Syrien so ist, dass nicht klar erkennbar ist, welche Milizen an welchen Orten kämpfen und wo sich welche Streitkräfte miteinander verzahnt haben, war das Scheitern des Waffenstillstands geradezu vorprogrammiert. Zudem standen und stehen die Oppositionsgruppen den Verhandlungen skeptisch gegenüber, weil sie dadurch eine Festigung der Position des Assad-Regimes sehen. Sie wünschen sich eine entschlossene Unterstützung ihres Kampfes durch den Westen.

Der Hauptgrund für die Erosion des Waffenstillstandsabkommens war aber das mangelnde Interesse der syrischen Regierung an einem Waffenstillstand. Sie befürchtete, dass der Status quo möglicherweise dauerhaft werden kann. Die Regierung Assad ließ daher keine Gelegenheit aus darauf zu verweisen, dass sie beabsichtige ihre Herrschaft über ganz Syrien wiederherzustellen. Die territorialen Gewinne, die durch die russischen Einsätze geschaffen wurden, bestärkten Assad offenbar in dessen Absicht, ganz Syrien zurückzuerobern.

Die Bereitschaft der Regierung Syriens an Verhandlungen wurde daher geringer, sobald sich die Lage am Boden zu ihren Gunsten entwickelte. Die offizielle Reaktion der russischen Seite auf derartige Aussagen war zurückhaltend. Tatsächlich begannen syrische Truppen mit Hilfe von Hisbollah Milizen und russischer Luftunterstützung schon während der Laufzeit des Waffenstillstands damit, die im Osten Syriens gelegene Stadt Palmyra vom IS zurückzugewinnen, der dort nur eine kleine Präsenz hatte.[61] Auch wenn das eine militärische Operation betraf, die sich gegen den IS als Nichtpartei des Genfer Waffenstillstandsangebots richtete, ließ es erkennen, dass es primäres Ziel der syrischen Regierung und der sie unterstützenden Russen war, den territorialen Status quo ante wieder herzustellen. Der Waffenstillstand blieb in den kommenden Monaten prekär und wurde immer wieder gebrochen. Aufgrund der andauernden Kämpfe am Boden, wurden die von der UN initiierten Verhandlungen ausgesetzt und die ambitionierten Pläne für die Zukunft Syriens im Mai 2016 damit erst einmal zum Halten gebracht.[62]

4 Die zweite Phase der russischen Intervention

Im März 2016 zeichnete sich ab, dass die russische Militärintervention in eine neue Phase eingetreten war. Anders als in den Monaten zuvor wurden jetzt keine Erfolgsmeldungen und Angaben über Stärke, Umfang und Bewaffnung der in Syrien befindlichen russischen Kräfte veröffentlicht (mit Ausnahme von Meldungen, die den Kampf gegen den IS betrafen). Die Flugzeuge und die Soldaten blieben, aber wenn es Bombenangriffe gegen die syrische Opposition und vor allem gegen syrische Städte gab, dann stritten russische Offizielle die eigene Beteiligung ab und stellten die Existenz der Angriffe selbst in Frage. Hier wurde ein Muster erkennbar, welches auch schon in der Ostukraine zu beobachten war. Russland verhielt sich so, als ob es selber gar nicht in den Konflikt involviert war, sondern eigentlich nur da sei, um den IS zu bekämpfen. Gleichzeitig bot es sich den USA als Vermittler und Verhandlungspartner an. Die USA verfolgten mit den bilateralen Gesprächen das Ziel, das Abkommen vom Februar wieder zu beleben. Das Hauptinteresse Russlands war hingegen anders gelagert. Ziel der russischen Politik war es, durch Verhandlungen den Zusammenhalt innerhalb der syrischen Oppositionsgruppen zu schwächen und gleichzeitig am Boden zusammen mit den syrischen Truppen und den Einheiten der Hisbollah und Pasdaran Fakten zu schaffen. Die zögerliche Haltung der Obama-Administration sowie die sich abzeichnende Lähmung der amerikanischen Politik durch den Wahlkampf hat der russischen Regierung dabei das Spiel leichtgemacht.

Im Verlauf des Sommers 2016 wurde immer offensichtlicher, wie sehr Russland tatsächlich in die Kämpfe involviert war. Es häuften sich Meldungen über den Tod von Soldaten oder den Abschuss von Hubschraubern, die als Teil angeblich „humanitärer Missionen“ über Syrien kreisten.[63] Zudem nahmen Berichte zu, wonach die russische Luftwaffe bunkerbrechende Bomben und Brandbomben einsetzte. Während die Zivilisten vor herkömmlichen Bomben noch in die Untergeschosse und Keller ihrer Wohnhäuser fliehen konnten, waren sie diesen Waffen schutzlos ausgeliefert.[64]

Die Folgen bekamen die Menschen in Homs und in Aleppo zu spüren. In Homs wurden im Sommer 2016 – ganz im Sinne der russischen Doktrin der Aufstandsbekämpfung – diejenigen Stadtteile gnadenlos bombardiert, die noch von der Opposition gehalten worden waren. Am 25. Juni 2016 begann eine erneute russisch-syrische Großoffensive auf die Millionenstadt Aleppo. Die Offensive wurde ohne Rücksicht auf die dort befindliche zivile Bevölkerung geführt und brachte der russischen Regierung deutliche Kritik von internationalen Hilfsorganisationen und westlichen Regierungen ein. Den russischen und syrischen Truppen wurde der Vorwurf gemacht, Kriegsverbrechen in Syrien begangen zu haben.

Vor dem Hintergrund der immer dramatischer werdenden Situation für die Bevölkerung in Aleppo konnten sich der amerikanische Außenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Lawrow am 10. September 2016 überraschenderweise auf einen neuen, umfassenden Waffenstillstand für ganz Syrien einigen, der auch Regelungen für die Stadt Aleppo vorsah. Diese Vereinbarung umfasste die syrische Regierung und die sie unterstützenden Milizen auf der einen Seite und eine Gruppe von „moderaten“ Milizen der syrischen Opposition auf der anderen. Zudem wurde vereinbart, dass alle Beteiligten des Abkommens den Kampf gegen den IS und Jabhat Fateh al-Sham (die Nachfolgeorganisation von al-Nusrah) aufnehmen werden.[65]

Doch weder hielten sich alle Rebellengruppen an den Waffenstillstand, noch waren Russland und Syrien dazu bereit. Hinzu kam ein folgenschweres Missverständnis: Amerikanische Flugzeuge griffen am 17. September 2016 syrische Regierungstruppen an, die irrtümlich für IS-Kämpfer gehalten wurden. Zwei Tage später wurden ein UN Hilfskonvoi sowie ein Lager für Hilfsgüter in Aleppo bombardiert mit Dutzenden toten und verletzten Zivilisten.[66] Die USA beschuldigten Russland, für den Angriff verantwortlich zu sein, weil einer Auswertung der Luftlage zufolge ausschließlich russische und syrische Flugzeuge zum Zeitpunkt des Angriffs über Aleppo operierten. Russland und Syrien wiesen jedoch jegliche Schuld von sich.[67] Wenige Tage drauf erfolgte ein weiterer Angriff auf zwei Krankenhäuser in Aleppo durch syrische oder russische Flugzeuge.[68] Die USA haben daraufhin die Verhandlungen am 3. Oktober 2016 für gescheitert erklärt und Russland vorgeworfen ein falsches Spiel zu spielen.

5 Die dritte Phase der russischen Militärintervention

Seit Oktober 2016 ist die russische Militärintervention in eine neue Phase übergegangen. Die Strategie heißt jetzt offenkundig: Eskalation und Erhöhung des Einsatzes mit dem Ziel die Gegner Präsident Assads nachhaltig, wenn nicht gar entscheidend zu schlagen. Zu diesem Zweck wurde der russische Flugzeugträger Admiral Kusnezow Mitte Oktober in Richtung Syrien gesandt, mit 12 SU-33 sowie 20 MIG-29K Kampfflugzeugen und 24 Helikoptern an Bord. Damit erfolgte fast eine Verdoppelung der russischen Luftwaffenpräsenz in Syrien und eine bedeutsame Verschiebung der maritimen Kräfteverhältnisse in der Region. Die Admiral Kusnezow wird von sieben russischen Kriegsschiffen begleitet, darunter der nuklear-angetriebene Schlachtkreuzer Pjotr Velikiy und zwei Zerstörer der Udaloy-Klasse.[69] Auch diese Schiffe erhöhen die Feuerkraft der russischen Streitkräfte in Syrien. Ziel ist es, die Großstädte unter die Kontrolle der Regierung Assad zu bekommen und den westlichen Teil des Landes zu stabilisieren. Nach dem Wahlsieg Donald Trumps scheint die russische Führung darauf zu setzen, in Syrien so viele Fakten wie möglich zu schaffen. Die ersten Luftangriffe von Bord der Admiral Kusnezow wurden bezeichnenderweise wenige Tage nach dem 8. November 2016 geflogen – dem Tag der amerikanischen Präsidentschaftswahl. Mitte Dezember 2016 übernahmen die syrische Armee und verbündete Milizen nach monatelangen russischen und syrischen Luftangriffen auf die Stadt die Kontrolle über den östlichen Teil Aleppos. Die Millionenstädte Homs und Aleppo sehen heute aus wie die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts. Es ist zu erwarten, dass Russland und Syrien versuchen werden, weitere Geländegewinne zu erzielen und sich dabei noch weniger als bisher um die internationale Kritik kümmern werden.

6 Die Motive Russlands

Ein Großteil der bisherigen Analysen der russischen Intervention in Syrien befasst sich mit den Motiven und Zielen Putins. Russland selbst betont, dass das zentrale Ziel der Kampf gegen den Terrorismus sei. Diese Behauptung wird von den meisten Beobachtern in Zweifel gezogen, denn das Hauptaugenmerk der russischen Militärintervention lag und liegt auf den Milizen, die im Westen Syriens präsent sind. Da ist der Islamische Staat kaum aktiv, eher schon andere radikal-islamistische Milizen. Aber es ist nicht immer leicht einzuschätzen, welche Gruppierungen in Syrien als terroristisch einzustufen sind und welche nicht.[70]. Den Kampf gegen den Terrorismus sollte man daher als Motiv nicht ganz abtun und Russland hat sich auch an den Bombardierungen des IS beteiligt und zu dessen Schwächung beigetragen. Das Land hat schmerzhafte Erinnerungen an Terroranschläge in den 1990er Jahren und dem nachfolgenden Jahrzehnt.[71] Zudem kämpfen auf Seiten des Islamischen Staates mehrere Tausend russische Staatsbürger, die meisten Tschetschenen, die früher dem Kaukasus Emirat angehörten.[72] Allerdings wiederholen sich in Syrien die typischen Mängel der russischen Strategie der Aufstandsbekämpfung. Russland hat mit seiner politischen Unterstützung des Assad Regimes und mit entsprechenden Waffenlieferungen wesentlich dazu beigetragen, dass der Bürgerkrieg in Syrien überhaupt eskalieren konnte. Die vor allem von syrischen Truppen und Geheimdiensten begangenen Kriegsverbrechen und Grausamkeiten gegen die eigene Bevölkerung haben zur Radikalisierung des bewaffneten syrischen Widerstandes entscheidend beigetragen und somit bewirkt, dass der Islamische Staat, die ebenso radikale al-Nusrah Front sowie andere Islamisten in Syrien so stark werden konnten. In gewisser Weise hat Russland die Schlange selber genährt, gegen die es jetzt zu kämpfen vorgibt.

Das primäre Ziel der russischen Militäroperation dürfte aber die Stabilisierung des Assad-Regimes sein. Man mag sich die Frage stellen, was der russische Präsident an diesem extrem brutalen und hoch-korrupten Regime so interessant findet, dass er dafür das Leben von Hunderttausenden Menschen ebenso aufs Spiel setzt wie die Reputation seines Landes in der arabischen Welt, im Westen und insbesondere in den USA? Syrien verfügt nicht einmal über viele Rohstoffe und Ressourcen. Auch ist der geopolitische Wert der russischen Militärpräsenz in der Region begrenzt. Die Erklärung für das Eingreifen dürfte primär in der russischen Innenpolitik zu suchen sein. Für die russische Führung wäre jede erfolgreiche „bunte Revolution“ (und nichts anderes war der zivile Widerstand gegen das Assad-Regime im Frühjahr 2011) bei einem Freund und Verbündeten eine Gefährdung der eigenen Herrschaft. Von daher war und ist es das Ziel Russlands, den demokratischen Regimesturz zu verhindern – egal zu welchem Preis. Zudem ist die Pflege eines strategischen Konflikts mit dem Westen und insbesondere den USA ein weiteres Instrument um innenpolitisch die Unterstützung für das hochkorrupte und ineffektive System Putin zu kräftigen.

Man könnte auch argumentieren, dass es das Ziel Putins gewesen sei, Anerkennung, Respekt und Einfluss zu gewinnen.[73] Ob die dafür eingesetzten Mittel dafür angemessen sind, ist allerdings fraglich. Die Brüskierung der amerikanischen Administration durch Russland im September und Oktober 2016 war von einer Art, die man sie in Washington lange nicht vergessen wird – auch wenn die Obama-Administration nicht mehr im Amte ist. Russlands Ressourcen reichen für eine wirkliche Konfrontation mit den USA nicht aus und nur darauf zu setzen, dass der neue US-Präsident Donald Trump die Annäherung an Russland suchen wird, weil er aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie Putin, ist keine besonders kluge strategische Politik.

7 Die unmittelbaren strategischen Auswirkungen

Abgesehen von diesen langfristigen strategischen Perspektiven hat die russische Militärintervention in Syrien die strategische Lage im Nahen und Mittleren Osten erst einmal weitgehend auf den Kopf gestellt. Russland hat demonstriert, dass es im östlichen Mittelmeerraum über militärische Handlungsfähigkeit verfügt. Solange sich die USA – die weitgehende Optionen im östlichen Mittelmeerraum haben – zurückhalten geht das. Mit ihrer zögerlichen Haltung haben die USA den Russen ein Window of Opportunity eröffnet, um in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen. Die Russen im Nachhinein zu einer Aufgabe ihres Einsatzes zu zwingen ist für die USA kaum möglich, es sei denn sie sind zu einer massiven Eskalation bereit. Der Handlungsspielraum des Westens ist daher extrem begrenzt. Insofern war die Intervention ein game-changer. Sie hat das scheinbar unvermeidliche Ende des Assad-Regimes abwenden können. Sie hat auch das informelle Bündnis zwischen Russland und dem Iran gestärkt, was innerhalb der sunnitischen arabischen Welt zu großer Besorgnis beiträgt. Viele arabische Regierungen – wie Saudi-Arabien, Ägypten – aber auch die Türkei warten derzeit ab, wie sich die neue US-Administration in dieser Sache aufstellt. Bleibt es bei einer isolationistischen Positionierung, ist nicht auszuschließen, dass die Türkei und andere Länder die Nähe zu Russland suchen, weil sie hier das nächstgelegene powerhouse sehen. Immerhin hat Russland gezeigt, dass es über beeindruckende militärische Fähigkeiten verfügt. Mit der russischen Flotte im Kaspischen Meer und U-Booten im Mittelmeer vermag Russland auch Cruise-Missiles in Syrien einzusetzen.[74] Der Einsatz modernster Technologie hat auf Seiten der USA und NATO teilweise überrascht. Die russischen Fähigkeiten der elektronischen Kampfführung wurden von einem US-General gar als „atemberaubend“ bezeichnet.[75]

Das russische militärische Engagement in Syrien hat auch Konsequenzen für die europäische und die deutsche Politik. Zum einen ist der enorme Flüchtlingsstrom des Jahres 2015 mehr oder weniger eine direkte Folge der russischen Aufstandsbekämpfungsstrategie. Die Menschen, die durch russische Bombenangriffe und syrische Fassbomben vertrieben werden, landen auch in Deutschland und anderen Ländern Europas als Flüchtlinge. Diese Kausalität wird hierzulande wenig reflektiert, am allerwenigsten von denjenigen politischen Kräften, die sich einerseits kritisch zu den Flüchtlingsströmen äußern, andererseits die außenpolitische Nähe zu Russland propagieren. Zum Zweiten gibt die erhöhte militärische Risikobereitschaft des russischen Präsidenten Anlass zur Sorge. Seit dem russischen Angriff auf Georgien im Jahr 2008 ist eine deutliche Zunahme der Bereitschaft Russlands zur Inkaufnahme militärischer Risiken zu beobachten gewesen. Die Intervention in Syrien war und ist riskanter als andere Abenteuer zuvor und die Frage ist nur, wo der nächste militärisch unterstützte Akt der strategischen Herausforderung des Westens geschieht? Die deutsche Debatte über die Ereignisse in Syrien ist primär durch die Betroffenheit über das große menschliche Elend charakterisiert. Das ist nachvollziehbar, aber es wird Zeit, dass auch hierzulande eine aufgeklärte Debatte über die strategischen Konsequenzen geführt wird. Vor allem zeigt die russische Intervention in Syrien, dass sich westliche Politik nicht einfach auf die Formel zurückziehen darf, wonach militärische Mittel politische Probleme nicht lösen können.

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Online erschienen: 2017-2-21

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2017-0005/html
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