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Publicly Available Published by De Gruyter September 11, 2017

Libyen: Warum die NATO nicht an allem Schuld ist

  • Florence Gaub EMAIL logo

Kurzfassung:

Der Artikel befasst sich mit der Kritik an dem NATO Einsatz Unified Protector in Libyen im Sommer 2011. Er setzt sich mit den fünf hauptsächlichen Argumenten der Kritiker auseinander. Diese sind: (1) Der Konflikt zwischen Bürgern und Regierung sei von außen induziert worden, (2) das Gaddafi Regime hätte den Konflikt politisch oder militärisch lösen können, wenn es nicht zur Intervention der NATO gekommen wäre, (3) das Gaddafi-Regime habe keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, tatsächlich sei es das Ziel der NATO gewesen Gaddafi zu stürzen; (4) die NATO habe mit den Luftangriffe das Land zerstört und Tausende Bürger getötet, und (5) die NATO habe keinen Plan für die Zeit nach Gaddafi gehabt und habe daher das Land lediglich ins Chaos gestürzt. Keines dieser Argumente hält einer kritischen Prüfung stand.

Abstract:

The article addresses the critique that was voiced after NATO's Operation Unified Protector in Libya had ended in October 2011. The author takes up in turns the main points of criticism: (1) the conflict between the Gaddafi Government and the population was instigated from outside, there were no major reasons for disagreement between government and population before; (2) without NATO's military intervention, the Gaddafi regime could have ended the conflict by either political or military means; (3) the Gaddafi regime did not commit any crimes against humanity, hence the real purpose of the intervention was to topple Gaddafi; (4) NATO's air attacks resulted in thousands of fatalities and in destruction of infrastructure and buildings; (5) NATO had no plans for the time after Gaddafi's demise and, hence, has thrown the country into chaos. None of these arguments is able to withstand an empirical test.

1 Einleitung

Die NATO Operation „Unified Protector“ diente dem Schutz der libyschen Bevölkerung gegen Gaddafis Truppen und Milizen. Sie dauerte vom März 2011 bis Ende Oktober des gleichen Jahres. Im Wesentlichen operierte die NATO in dieser Zeit mit Luftangriffen gegen die Gaddafi-treuen Verbände. Dies führte zwar nicht dazu, dass Gaddafi nachgab und zurücktrat. Die NATO konnte aber dazu beitragen, dass sich die Verhältnisse vor Ort zugunsten der Aufständischen änderten und das gewaltsame Regime des exzentrischen Diktators endete. Die Operation wurde zwar erfolgreich abgeschlossen, aber seither ist eine kritische Debatte entbrannt, bei der der NATO heftige Vorwürfe gemacht worden sind. Im Einzelnen wird der Nordatlantischen Allianz dabei vorgeworfen Tausende von Toten verursacht zu haben. Das Land sei als Folge der Intervention destabilisiert worden und befände sich seither im Chaos. Dadurch seien auch der Terrorismus und der illegale Waffenhandel in Nordafrika befördert worden. Außerdem habe die Operation Russland vergrämt und damit zur Verschlechterung der Beziehungen zum Kreml beigetragen. Als Folge der Destabilisierung Libyens sei dieses Land auch kein Bollwerk mehr gegen die massenweise Migration aus Afrika nach Europa übers Mittelmeer.[1] Manche Verschwörungstheoretiker gehen sogar so weit, zu behaupten, all dies sei absichtlich geschehen um Libyen ins Chaos zu stürzen, Nordafrika zu destabilisieren und an günstige Ölquellen zu kommen.[2]

Die Überlegungen der Kritiker lassen sich im Wesentlichen auf fünf Behauptungen zurückführen:

  1. Der Konflikt sei von außen induziert worden, ohne die Einmischung der NATO hätte es ihn entweder gar nicht gegeben bzw. wäre er nicht eskaliert.

  2. Das Regime hätte den Konflikt selber lösen können, und zwar entweder mit politischen oder mit militärischen Mitteln, doch die NATO habe Verhandlungen zwischen Gaddafi und der Opposition obsolet gemacht beziehungsweise aktiv untergraben.

  3. Das UN-Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung habe eine Scheinneutralität geschaffen. Das Gaddafi-Regime habe keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Tatsächlich sei das Ziel der NATO von Anbeginn an der Sturz Gaddafis gewesen.

  4. Die NATO habe Libyen lebensunfähig hinterlassen nachdem sie tausende von Zivilisten getötet und kritische Infrastruktur zerstört hätte.

  5. Die NATO hatte keine Pläne für die Zeit nach Gaddafis Sturz gehabt und damit ein Chaos geschaffen, welches bis heute anhält.

Eine Prüfung dieser Annahmen zeigt, dass keine von ihnen einer seriösen Prüfung standhält. Der Konflikt selbst ist sehr vielschichtig gewesen und sollte nicht durch holzschnittartige Analysen charakterisiert werden. Ebenso muss die Rolle der NATO in diesem Konflikt differenziert und abgewogen behandelt werden.

2 Ein grundloser Konflikt?

Die Behauptung, wonach der libysche Konflikt von außen induziert worden ist, basiert auf der Behauptung, dass die Bürger Libyens ein gutes Leben unter Gaddafis Regime gehabt hätten. Dieser sei ein guter Diktator gewesen. Das Bildungs- und Gesundheitssystem sei umsonst gewesen, und unter Gaddafi habe die Bevölkerung eine Alphabetisierungsrate von 90 % erreicht. Es wäre im Wesentlichen die Unterstützung des Westens für eine harmlose Demonstration in Benghazi gewesen, die dieses Aufbegehren in einen gewaltsamen Aufstand verwandelt hätte.

Dieses Argument greift schon mal konflikttheoretisch zu kurz: Zwischenmenschliche Auseinandersetzungen entzünden sich nicht allein an wirtschaftlichen und finanziellen Dingen. Hinzukommt, dass die staatlichen Dienstleistungen in Libyen, wenngleich gratis, keineswegs auf zufriedenstellendem Niveau waren. Das Bildungssystem war überpolitisiert mit Fächern wie ‚Jamahirya‘-Theorie (Gaddafis ureigene politische Theorie). Das Erlernen von Fremdsprachen war verboten. In der Praxis bedeutete dies, dass Libyer zwar mehr oder weniger gut Arabisch lesen und schreiben konnten, doch keinen Zugang zu Informationen auf Englisch oder in anderen entscheidenden Sprachen, etwa für Ingenieur- oder Naturwissenschaften, hatten.[3] Die Politisierung und die internationale Isolation wirkten sich auch auf den Gesundheitsbereich aus, der in der Tat (theoretisch) kostenfrei, doch weit von akzeptablen Standards entfernt war. Die Masseninfizierung von mehr als 400 Kindern mit HIV/Aids in einem Krankenhaus von Benghazi in den späten 1990er Jahren unterstrich den dramatisch niedrigen Wissensstand zu der Krankheit in Libyen; auch der Kampf gegen Tuberkulose in Libyen wurde 2010 als eine Priorität der Weltgesundheitsorganisation vermerkt.[4] Wirtschaftlich stand Libyen, nominell das reichste Land Afrikas, längst nicht so gut da wie oft vermutet: sein Ölreichtum versickerte in den Regierungszirkeln um Gaddafi. Privatwirtschaft existierte in Libyen nicht mehr, seit das Regime privaten Immobilienbesitz und Freiberufe für illegal erklärt hatte. Die Versuche Seif al-Islams, Gaddafis Sohn, mehr Marktwirtschaft einzuführen, fruchteten wenig.

Doch Libyens Hauptproblem war nicht sein Lebensstandard, welcher zumindest statistisch ungefähr auf gleicher Höhe wie Rumänien rangierte. Vielmehr war es das politische System, welches Grund zu Rebellion lieferte: In der Rangliste der gut regierten Staaten stand Libyen auf Platz 116 von 128.[5] Politische Repression war im Land allgegenwärtig und beinhaltete Hinrichtungen im Live TV, die Abschlachtung von Hunderten Gefängnisinsassen und Folter. Auf Straßenplakaten wurden Libyer täglich daran erinnert, dass „jeder, der sich einer Partei anschließt (…) ein Verräter“ ist, der mit dem Tod bestraft werden müsse.[6]

Opposition existierte dennoch daheim wie im Ausland, aber sie blieb erfolglos: Studentendemonstrationen wurden in den 70er und 80er Jahren brutal niedergeschlagen, religiöse Führer kritisierten Gaddafi öffentlich (jedoch keineswegs unbehelligt), das Militär versuchte insgesamt fünf Mal, ihn seines Amtes zu entheben. In den 90er Jahren formierten sich Jihadistengruppen in Afghanistan gegen Gaddafi, und in Europa und den USA bildeten sich zahlreiche säkulare Oppositionsgruppen wie die Libyan National Salvation Front oder die Libyan Liberation Organization. Zuletzt stieß das Regime 2006 mit Demonstranten in Benghazi zusammen, zehn Zivilisten kamen dabei ums Leben. Die Regierung um Gaddafi wandte dabei verschiedene Methoden an, um politischen Widerstand in den Griff zu bekommen: neben Haftstrafen und Hinrichtungen wurden Kopfgelder auf Oppositionelle (zum Teil von einer Million US Dollar) ausgesetzt. In den 80er Jahren verfolgten Gaddafis Schergen seine Gegner bis in europäische Hauptstädte um sie dort zu ermorden – eine Operation die in Regierungskreisen ‚Streunende Hunde‘ hieß. Auch im Militär wurden regelmäßig Massenverhaftungen vorgenommen.

Die Libyer hatten demnach mehr als genug Gründe, mit ihrem politischen System unzufrieden zu sein. Sie taten ihre Opposition auch immer wieder kund. Entscheidend für den Aufstand der im Februar 2011 ausbrach, war nicht die internationale Unterstützung (die sich ohnehin erst nach Wochen manifestierte), sondern die Situation im Land – sowie die Ereignisse in Libyens Nachbarländern Tunesien und Ägypten. Dass Massendemonstrationen dort das Undenkbare erreicht und jahrzehntelange Diktatoren gestürzt hatten, lieferte den eigentlichen Impuls für den libyschen Aufstand.

Der Aufstand begann nicht erst im Februar in Benghazi, sondern bereits in der zweiten Januarhälfte als in Tunesien Ben Ali bereits gestürzt war. Libyer begannen zu diesem Zeitpunkt, Baustellen und Regierungsgebäude zu stürmen aus Protest gegen unzureichenden sozialen Wohnungsbau – in Benghazi, aber auch in Tripoli, Al-Bayda, Bani Walid, Bidaa, Darna und Sabhaa. Auf sozialen Plattformen im Internet begannen sich Gruppen zu bilden, die den „Tag des Zorns“ für den 17. Februar ausriefen. Mehr als 200 Oppositionelle und 13 Gruppen unterschrieben eine gemeinsame Erklärung die unterstrich: „das libysche Volk lebt in Elend und einem Zustand des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verfalls“. Auch die Libysche Islamische Kampfgruppe (eine ehemalige Terrororganisation die sich in Libysche Islamische Bewegung für Wandel umbenannt hatte) kündigte an, sich an dem Aufstand „auf friedliche und zivilisierte Art“ zu beteiligen. „Wir verlangen heute nichts mehr als Freiheit, Menschenwürde… und das Recht zu wählen wer regiert, und ihn zur Rechenschaft zu ziehen sowie Meinungsfreiheit“.[7]

Im folgenden Monat breitete sich der Aufstand über das gesamte Land aus. Am 17. Februar 2011, dem Jahrestag der letzten niedergeschlagenen Demonstration, kam es in Benghazi, Bayda, Ajdabiya, Darnah and Zintan zu Ausschreitungen. Die erste internationale Stellungnahme dazu kam von 70 Libyschen Nichtregierungsorganisationen, welche sich am Rande des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zu einer gemeinsamen Erklärung zusammengefunden hatten. In dieser riefen sie zu „sofortigem Handeln“ gegen Gewalttaten der Regierung gegen die Demonstranten auf.[8] Erst Tage später folgte eine internationale Organisation: die Afrikanische Union, welche den „willkürlichen und exzessiven Gebrauch von Gewalt und tödlichen Waffen gegen friedliche Demonstranten“ verurteilte.[9] Erst am nächsten Tag befasste sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit Libyen und drückte in Resolution 1970 seine „schwere Besorgnis“ aus angesichts der „schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen“.[10] Die Resolution 1973, welche die Grundlage für den Eingriff der NATO schaffte, wurde schließlich am 17. März verabschiedet – über einen Monat nachdem libysche Demonstrationen begonnen hatten. Nicht die internationale Gemeinschaft oder gar die NATO haben den Ausbruch des libyschen Konfliktes zu verantworten, sondern Libyer, allen voran die Regierung selbst.

3 Wäre der Konflikt ohne die NATO früher und besser geendet?

Die Frage, wie der Konflikt ohne ein Eingreifen der NATO verlaufen wäre, ist spekulativer Natur. Hier stehen sich zwei unvereinbare Argumentationslinien gegenüber: In der Sicht der Interventionsgegner hätte das Regime den Aufstand selbst zu Ende gebracht – im besten Fall mittels einer politischen Lösung, im zynischeren schlechten Fall mit einer militärischen, die aber auch in dieser Logik weniger Opfer bedeutet hätte als der Krieg von 2011. Die Befürworter der Intervention argumentieren, ohne die NATO hätte der Konflikt wesentlich blutigere Dimensionen angenommen.

Die erste Annahme basiert allerdings auf zwei Denkfehlern: in beiden Fällen wird davon ausgegangen, dass politische oder militärische Lösungen für das Regime überhaupt realistische Optionen zu dem Zeitpunkt waren als die Operation Unified Protector begann. Die Analyse zeigt aber, dass dies nicht der Fall war.

Zu einer politischen Lösung zeigte sich das Regime während des gesamten Krieges schlicht nicht kompromissfähig genug. Nicht einmal, sondern gleich mehrfach riefen Italien, Griechenland, Russland, die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union beide Konfliktparteien zu Verhandlungen auf. Doch das Regime ignorierte die Unruhen zunächst: in Gaddafis letztem Fernsehauftritt vor dem Aufstand sprach er davon, dass die Bibel gefälscht sei und rief zu Angriffen auf amerikanische Militärbasen in der Region auf.[11] Erst nach einigen Tagen reagierte das Regime, indem es die Demonstranten diskreditierte und bedrohte. Gaddafi kündigte an bis „zum letzten Blutstropfen zu kämpfen“ und nannte die Demonstranten fettige, ölige Ratten, Mäuse, high von Drogen. Er lehnte einen Rücktritt kategorisch ab mit der Begründung, er habe keine offizielle Position. Während sein Sohn Seif al-Islam zugab, dass es Reformbedarf gäbe, bezeichnete er die Opposition als „Betrunkene“ und „Verräter“ und warnte vor den blutigen Konsequenzen sollten die Demonstrationen nicht aufhören.[12] Dieses Narrativ blieb bis zum Ende des Konfliktes bestehen: das Regime versprach gewalttätige Reaktionen, fand verschiedene Wege, die Opposition als Zionisten, Drogenabhängige und Terroristen zu diskreditieren, und schloss durchgehend grundlegende politische Veränderungen kategorisch aus.

Dennoch fanden, weit vom Licht der Öffentlichkeit, über den ganzen Frühling und Sommer hinweg Verhandlungen zwischen dem zwischenzeitlich gegründeten Nationalen Übergangsrat (NUR) und der Regierung statt. Nicht nur die Vereinten Nationen, auch die Afrikanische Union sowie später Frankreich und Großbritannien schickten Unterhändler, um bei der Suche nach einer politischen Lösung hilfreich zu sein.[13] Russland, welches die Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union unterstützte, erkannte dabei die Kompromissbereitschaft der Opposition ausdrücklich an: der russische Gesandte Mikhaïl Marguelov unterstrich, dass „niemand Gaddafis Kopf“ wolle und dass der Nationale Übergangsrat mit quasi jedem Szenario zufrieden sei außer einem, in dem Gaddafi und seine Familienmitglieder weiterhin politische Ämter inne hätten.[14] Dennoch kam der Gesandte frustriert aus Tripoli zurück: einem europäischen Kollegen teilte er mit, Gaddafi würde keinerlei Konzessionen machen.[15] Das Regime bestritt entweder, dass Gaddafi überhaupt ein Amt innehabe (es hieß er nehme ausschließlich eine symbolische Funktion ein) oder es stritt die Existenz einer substantiellen Opposition gegen Gaddafi ab.[16] Seif al-Islam behauptete, „die überwältigende Mehrheit des libyschen Volkes ist auf der Seite meines Vaters.“[17] Noch nicht einmal ein Waffenstillstand war verhandelbar: beide Seiten forderten die andere auf, zuerst die Waffen niederzulegen.[18] Die Option, Gaddafi straffrei ins Exil gehen zu lassen (eine Idee, die vor allem Italien befürwortete, aber auch Frankreich und Großbritannien guthießen) scheiterte nicht nur am Unwillen des libyschen Obersts, das Land zu verlassen, sondern auch an mangelnden Optionen: weder Venezuela noch Kuba oder afrikanische Länder boten sich als Gaddafis neues Heim an. Ugandas Präsident Museveni bezeichnete Gerüchte dieser Art als „totalen Blödsinn“.[19]

In diesem Kontext war eine politische Lösung für den Konflikt ganz offensichtlich nicht realisierbar – doch auch eine militärische Option war für das Regime nicht mehr umsetzbar. Die Sicherheitskräfte des Gaddafi-Regimes bluteten wesentlich schneller aus als vermutet wurde. Fünf Tage nach Beginn des Aufstandes hatten ganze Militäreinheiten in Benghazi mit der Zivilbevölkerung fraternisiert, und sowohl Justizminister Mustafa Abdeljalil als auch Innenminister Abdelfattah Junis hatten sich der Opposition angeschlossen. Beide riefen das Militär dazu auf ebenfalls zum „Volk überzulaufen“[20].

Im ersten Monat des Aufstandes waren bereits 8.000 Soldaten desertiert; nach vier Monaten war das libysche Militär von ursprünglich 51.000 auf 10.000–20.000 Mann geschrumpft, die meisten davon konzentrierten sich in der 32sten Brigade unter dem Kommando von Gaddafis Sohn Khamis.[21] Diese Brigade war besser ausgerüstet als der Rest des libyschen Militärs, verfügte über bessere Trainingsstandards, größeren Zusammenhalt und höhere Gehälter. Der Kampf gegen die Milizen der Opposition wurde vor allem von dieser Einheit angeführt, und zwar mit allen Mitteln – inklusive Landminen und Streubomben.[22]

Wenngleich diese Einheiten massiven Schaden anrichteten, waren sie nicht in der Lage, die Situation in Libyen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Rein rechnerisch benötigt eine Regierung nicht nur die zahlenmäßige Mehrheit, um einen Aufstand niederzuschlagen – sie muss auch genügend Truppen haben, um den Frieden im Land zu wahren. In solch einer Situation werden etwa 13 Sicherheitskräfte auf 1.000 Einwohner benötigt, das bedeutet bei Libyens 5,6 Millionen Einwohnern wären das insgesamt 85.800 Polizisten und Soldaten.[23] Während das Regime über ausreichend Truppen vor dem Aufstand verfügte, war dies spätestens seit März 2011 nicht mehr der Fall. Sowohl Polizei als auch Militär verzeichneten derart hohe Desertionsraten, dass das Regime zwar noch fähig war, zu kämpfen – doch nicht, Frieden, selbst mit Gewalt, wiederherzustellen. Wie der Fall Syrien zeigt, kann ein solches Kräfteverhältnis dazu führen, dass der Konflikt sich nicht nur über einen langen Zeitraum hinzieht, sondern unverhältnismäßig viele Opfer fordert.

Das Szenario, in dem eine Nicht-Intervention ultimativ zu entweder einer politischen oder zumindest zu einer schnellen militärischen Lösung geführt hätte, ist demnach unwahrscheinlich.

Das Alternativszenario, wonach eine passivere Haltung der internationalen Gemeinschaft zu einer massiven Verletzung der Menschenrechte geführt hatte, ist aber ebenfalls umstritten. Für diese Lesart gibt es zwei Gründe: erstens seien die Opferzahlen in den ersten Wochen des Konfliktes übertrieben gewesen und damit die Begründung für die Schutzverantwortung nicht hinreichend gewesen, und zweitens habe die Operation von Anfang an nicht den Schutz der Zivilbevölkerung zum Ziel gehabt, sondern den Sturz des Regimes.

Tatsächlich waren und sind die Opferzahlen des libyschen Konfliktes bis heute umstritten. Als gesichert gilt, dass die ersten zwei Tage der Aufstände 84 Menschenleben forderten – gesichert, weil dies sowohl von Human Rights Watch als auch von Seif al-Islams Zeitung Quryna bestätigt wurde; fünf Tage später hatte sich diese Zahl laut Human Rights Watch bereits fast vervierfacht.[24] Am 4. März, zwei Wochen nach Beginn des Aufstandes, erklärte das Regime es hätte 374 Opfer gegeben.[25] Gleichzeitig begannen verschiedene Quellen, wesentlich höhere Opferzahlen zu veröffentlichen: Italiens Außenminister Frattini sprach von über 1.000, die Internationale Föderation für Menschenrechtes schätzte 3.000, und Abdel Hafez Ghoga, der Sprecher des Übergangsrates, erklärte die Opferzahl läge über 8.000 und korrigierte diese Zahl eine Woche später auf 12.000 nach oben.[26] Im Juni 2011, nach vier Monaten Konflikt, schätzten die Vereinten Nationen die Opferzahl auf 15.000; im August 2011 sprach der Übergangsrat von 50.000 zivilen Opfern. Erst später, im Januar 2013, korrigierte die libysche Regierung diese Zahl nach unten – auf 4.700 tote Kämpfer, Zivilisten nicht eingeschlossen. Eine wissenschaftliche Studie kam auf insgesamt 21.490 Opfer.[27] Abgesehen von den politischen Motivationen der libyschen Beteiligten, die Zahl der Opfer hoch- oder herunterzuspielen, gab es strukturelle Gründe für den Mangel an Transparenz vor allem während des Krieges. Weder das Internationale Rote Kreuz noch „Ärzte ohne Grenzen“, zwei Organisationen, die in Konfliktzonen häufig Opferzahlen registrieren, waren zum Zeitpunkt des Konfliktes in den Kampfzonen aktiv. Außenstehende mussten sich daher auf Berichte aus Libyen verlassen. Nach dem Ende des Konfliktes kam hinzu, dass implodierende Institutionen in Libyen ihr Übriges taten, Unklarheit in die Opferzahl zu bringen.

4 Regimewechsel oder Schutz der Zivilbevölkerung?

Die ungeklärte Zahl der Opfer hat dem Narrativ der Schutzverantwortung erheblichen Schaden zugeführt. Es scheint den Vorwurf zu untermauern, dass die NATO die Opferzahlen nur als Vorwand genutzt habe, um eine Intervention und einen Regimewandel herbei zu führen. Sie hat aber auch Spekulationen über die tatsächlich zu erwartenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit in dem libyschen Konflikt angeheizt. Alles läuft auf die Frage hinaus: Wenn die Opferzahl so niedrig lag, war Gaddafi dann tatsächlich im Begriff einen Genozid zu verüben wie der desertierte libysche UN-Botschafter behauptete?[28]

Aus zwei Gründen ist diese Fragestellung schwierig zu beantworten: zum einen gibt es keine klare Definition dessen, was unter dem Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verstehen ist. Zum anderen sind derartige Verbrechen nicht vorhersehbar und es besteht häufig wenig Zeit zu reagieren.

Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs kennt mehrere Kriterien, die erfüllt sein müssen, um von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sprechen. Dazu gehört der Vorsatz, das heißt die klare Absicht zur massenweisen Tötung. Vor allem aber muss der Angriff gegen die Zivilbevölkerung systematisch oder ausgedehnt sein – doch es nicht klar, wie sich dies in Zahlen bemessen lassen sollte. Die Hinrichtung von 8.000 muslimischen Männern und Jungen in Bosnien-Herzegowina in Srebrenica etwa wurde 2001 vom Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien als ein Genozid bewertet, trotz der vergleichsweise niedrigen Zahl an Opfern. In Benghazi und Misurata, zwei Städte unter massivem Beschuss der libyschen Regierung, wären in jedem Falle höhere Opferzahlen zu erwarten gewesen, hätte die NATO nicht interveniert. Das Vorgehen der libyschen Truppen war zweifelsohne willkürlicher als das der serbischen Milizen in Srebrenica. Dies allein zeigt nicht nur, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit sich nicht leichter Hand numerisch festlegen lassen – sondern auch, dass die Verhinderung solcher Verbrechen zumeist nicht den zeitlichen Spielraum zulässt, um ausreichend Fakten über ein sich entwickelndes Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenzutragen. Fälle wie der Holocaust, in dem die Verbrechen über Jahre in einem ausgeklügelten und sichtbaren System begangen (und teilweise auch dokumentiert) wurden, sind in diesem Zusammenhang eher die Ausnahme. Zumeist müssen Entscheidungsträger schneller handeln, als dass das Verbrechen messbar wäre – so wurde auch in der Kosovo-Krise argumentiert, als mehrere Staaten die NATO-Operation als Maßnahme zur Verhinderung eines Völkermords verstanden.

Die Debatte um die libyschen Opfer und den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit untermauert aber gleichzeitig die Frage nach den ‚echten‘ Motiven der NATO in dem Konflikt. Wie hat die NATO ihre Ziele definiert? Und wie hat sie diese umgesetzt?

Die Sicherheitsratsresolution 1973, welche den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen jede Maßnahme erlaubte, um Zivilisten zu schützen, basiert auf der Norm der Schutzverantwortung (responsibility to protect). Diese geht davon aus, dass nationale Souveränität ausgesetzt werden kann, sofern ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, seine Zivilbevölkerung zu schützen oder diese aktiv bekämpft. Die Schutzverantwortung ist aber nicht grenzenlos: Laut der Erklärung des Gipfeltreffens der Vereinten Nationen im Jahr 2005 kommt sie nur dann zum Tragen, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen von Statten gehen, der Staat seine territoriale Integrität behält und die internationale Reaktion proportional zum Verbrechen ist.[29] Wie gingen die Akteure bei der NATO mit dieser Problematik um?

Der Kommandeur der Operation Unified Protector, Charles Bouchard, interpretierte sein Mandat militärisch entlang der oben aufgezeigten Linien. Regelmäßig bestätigte er in Interviews, dass er ausschließlich militärische Ziele angreife, keine Individuen, und dass sein Job nicht die Ermordung eines Staatsoberhauptes sei.[30] Dieses setzte er auch auf taktischer Ebene um: jedes Ziel wurde in einem mehrstufigen Verfahren auf seinen Beitrag zu Resolution 1973 geprüft. Während das operationelle Hauptquartier in Neapel ausschließlich auf den Schutz der Zivilbevölkerung hinarbeitete – definiert als der Moment, in dem die libyschen Truppen in ihre Kasernen zurückgekehrt wären – begannen verschiedene NATO-Mitgliedstaaten Gaddafi offen zu einem Rücktritt zu bewegen. Bouchard hielt an den Kriterien für Bombardierungen fest, auch nachdem einige Staaten versuchten, der Operation durch gezielte Zuspielung von potentiellen Zielen eine andere Richtung zu geben,

Trotz dieser Zurückhaltung hat die NATO-Operation selbstverständlich eine Rolle in dem Sturz des Regimes gespielt: dies darf jedoch nicht kausal verstanden werden. Die NATO hat nicht den Schutz der Zivilbevölkerung als Vorwand genutzt, um Gaddafi zu stürzen, sondern der Schutz der Zivilbevölkerung durch die NATO hat die Bedingungen geschaffen, unter denen das Regime durch die Bevölkerung selbst gestürzt wurde.[31] Dies kann, selbstverständlich, als Parteinahme mit der Zivilbevölkerung verstanden werden – doch genau dies ist die Essenz der Schutzverantwortung.

5 Der Luftkrieg der NATO

Vielleicht die schärfste Kritik an der NATO in der Libyen-Operation ist der Vorwurf, große zivile Opferzahlen herbeigeführt zu haben, wo es doch das Ziel der Operation war, Zivilisten zu schützen. Die Spekulationen über die Anzahl der Opfer von NATO-Luftangriffen variieren sehr stark: von 1.000 bis 60.000 – doch die Realität ist eine ganz andere.[32]

Wie oben bereits erwähnt, sind die meisten Opferzahlen in Libyen nicht durch die NATO entstanden, sondern durch innerlibysche Kämpfe auf dem Boden. Die Zahl der Todesopfer dürfte zwischen 8.000 und 21.490 gelegen haben.[33] Damit hat der libysche Krieg eine Sterblichkeitsrate von 5,1 pro 1,000 Einwohner. Zum Vergleich, 10,25 pro 1.000 Einwohner starben in den Jahren nach der Invasion des Irak, während diese Rate bei 10,9 für Syrien lag.[34]

Von diesen Opfern sind laut Untersuchungen der Vereinten Nationen, der New York Times sowie der Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch zwischen 40 and 72 Zivilisten infolge von NATO-Luftanschlägen ums Leben gekommen. Im Vergleich, während der NATO-Operation gegen Jugoslawien 1999 (von der Bevölkerungszahl etwa vergleichbar) soll die Allianz den Tod von 489 bis 528 Menschen verursacht haben.[35] Die Kontroverse betrifft vor allem fünf Luftangriffe, wo die NATO bis heute den Vereinten Nationen nachrichtendienstliches Material dafür schuldig ist, warum diese Ziele zum Zeitpunkt des Angriffes in den Augen der Entscheider legitime Ziele waren.[36]

Diese vergleichsweise niedrige Zahl bewog die Vereinten Nationen dazu, die Operation Unified Protector als vorbildlich zu bewerten. Sie habe die Entschlossenheit erkennen lassen, zivile Opfer zu vermeiden, da „weitreichende Vorsichtsmaßnahmen“ getroffen worden seien.[37] Unter anderem habe die NATO das Prinzip der Proportionalität berücksichtigt, wonach militärische Entscheider zu Vorsichtsmaßnahmen angehalten werden, wie etwa die Verwendung kleinstmöglicher Munition, zeitverzögerter Zündungen, Warnungen an die Zivilbevölkerung zum Beispiel in Form von Flugblättern und der Einschaltung mehrerer Kontrollinstanzen bei der Auswahl der militärischen Ziele.[38] Diese Bedingungen hat die NATO, laut den Vereinten Nationen, eingehalten.

Die Kontroverse entzündet sich vielleicht nicht so sehr an der Zahl der Opfer oder sogar dem rechtlichen Rahmen. Denn zivile Opfer in einem Konflikt sind nicht zwingend ein Verstoß gegen das Humanitäre Völkerrecht, so lange ihre Zahl nicht exzessiv ist in Relation zu dem konkreten und direkten militärischen Vorteil, der sich aus einer Operation ergibt.[39] Doch da die NATO Operation den Schutz von Zivilisten als Operationsziel hatte war (und ist) die öffentliche Meinung sensibel was zivile Opfer betrifft. Dennoch lenkt die Debatte von der Tatsache ab, dass keine Luftkampagne bisher so wenigen Zivilisten das Leben gekostet hat wie die Operation Unified Protector der NATO in Libyen.

6 Planlos? Die Post-Konflikt-Phase

Der größte Vorwurf an die NATO ist selbstverständlich die Verschlechterung der Lage in Libyen nach dem Fall von Tripolis im Oktober 2011. Seitdem ist Libyen progressiv in politische Instabilität und Gewalt abgeglitten, welche in der Eroberung von Sirte durch den Islamischen Staat 2014 kulminierte.

Zwei Elemente sind ausschlaggebend für die heutige Situation in Libyen, doch sie sind nicht in erster Linie im Verantwortungsbereich der NATO:

  1. Das erste ist das politische System, das der libysche Übergangsrat schuf – und welches in seiner flachen Hierarchiestruktur, seinem schwachen exekutiven Arm und der fehlenden Verzahnung mit Sicherheitsakteuren erstaunlich der Jamahirya ähnelt, dem System, welches Gaddafi geschaffen hatte. Dieses System ist jedoch nicht nur ungeeignet für post-Konflikt-Befriedung, es schafft keine Anreize für Parteien- oder Koalitionsbildungen. War die Lage bereits Ende 2011 heikel, wurde sie durch dieses System noch verschärft. Wie der damalige amerikanische NATO-Botschafter Ivo Daalder später schrieb, „leider zeigt die Entwicklung Libyens, dass ein Volk, welches die Gelegenheit hat, selbst seine Zukunft zu entscheiden, nicht immer das Beste tut oder richtig entscheidet… Doch die Tatsache, dass die Libyer über ihre Zukunft auf eine Art entschieden haben, welche sich als so verheerend herausstellt, ist nicht die Verantwortung der NATO, sondern zuerst einmal die Verantwortung dieses Volkes.“[40]

Der Übergangsrat lehnte gleichzeitig ein internationales militärisches Engagement jeder Form ab: Als Begründung wurde angegeben, es sei „kein Bürgerkrieg, kein Konflikt zwischen zwei Parteien“ gewesen, sondern „ein Volk, welches sich gegen eine Diktatur gewehrt“ hätte.[41] Der Rat händigte stattdessen die Wahrung der öffentlichen Sicherheit an diverse Milizen aus und schuf, mit Order No. 20, das Supreme Security Committee (SSC) – ein Ausschuss, welcher nicht Sicherheit, sondern Unsicherheit schuf. Bereits im Jahr 2012 war klar, dass Libyen nicht in der Lage sein würde, staatliche Sicherheitskräfte zügig wieder aufzubauen, die Milizen zu entwaffnen und die Waffen aus den ungesicherten Lagern sicherzustellen. Die polarisierten Wahlen von 2014, das umstrittene „Politische Isolationsgesetz“ oder Degaddafizierungsverfahren sowie die sukzessive Islamisierung libyscher Milizen taten ihr Übriges, um die Situation von heute zu schaffen.

Doch während die Verschlechterung der Sicherheitslage primär libysche Verantwortung ist, so ist die internationale Gemeinschaft, vor allem die Vereinten Nationen, nicht der Pflicht enthoben zur Stabilisierung beizutragen. Bereits im Sommer 2011 begannen NATO-Angestellte zusammen mit Teams der Vereinten Nationen Post-Konflikt-Planungen anzustellen – eine militärische Option eingeschlossen. Doch der Übergangsrat lehnte dies ab und weder die Vereinten Nationen noch die NATO kritisierten dies.[42] Stattdessen wurde eine kleine Mission nach Tripoli verlegt, welche den Ernst der Lage unterschätzte – auch weil die Situation in Libyen „noch lange nicht dem Irak ähnelt“, wie UN-Mitarbeiter 2012 erklärten.[43]

NATO-Generalsekretär Rasmussen sagte später, „ich hatte erwartet, dass die UN den neuen Behörden zur Seite stehen würden, aber das tat die UN nicht.“[44] Der Hauptgrund für diese Passivität war der mangelnde internationale Appetit, eine lange, kostspielige und unpopuläre Stabilisationstruppe für Libyen aufzustellen, die die Voraussetzung für Demobilisierung, Entwaffnung, Reintegration, Sicherheitssektorreform und ultimativ für geregelte Wahlen gewesen wären. NATO-Offizielle wie Admiral de Paola sahen diese Entwicklung mit Sorge: der Zustand des Sicherheitssektors war Anlass zum Pessimismus, doch gleichzeitig sah die NATO für sich selbst keine Rolle in Libyen, weil die führenden NATO Staaten (vor allem die USA) vor einer derartigen Intervention zurück scheuten.[45]

Erst später sahen Beteiligte, wie US Präsident Obama, den entscheidenden Fehler ein: „Ich glaube wir haben unterschätzt, unsere Europäischen Partner haben unterschätzt, dass man mit voller Kraft hätte hineingehen müssen – wenn man sowas macht, dann am Tag nachdem Gaddafi weg ist, und jeder fühlt sich gut, und jeder hält Poster hoch auf denen steht, ‚Danke Amerika‘. Das ist der Moment an dem man in wesentlich entschlossenerer Weise Gesellschaften wiederaufbaut, in denen es keine politischen Traditionen in diesem Sinne gibt.“[46] Auch der Berater des französischen Präsidenten Sarkozy, Jean-David Levitte, teilt diese Auffassung: „Es war ein großer Fehler, nicht zu bleiben. Wir hätten ihnen helfen sollen, eine richtige Polizei aufzubauen. Wie Colin Powell zu Präsident Bush zu sagen pflegte, wenn Du es kaputt machst gehört es Dir auch.“ Auch Ali Zeidan, Libyens Premierminister (2012–2014) kam zu dem gleichen Schluss: „Die Vereinten Nationen und die westlichen Mächte zögerten, sich zu stark zu engagieren… sie wollten nicht den Eindruck erwecken, als würden sie intervenieren oder etwas diktieren. Aber ich mag das nicht… Sich so schnell zurückzuziehen, wie sie es getan haben, war ein Fehler.“[47] Angesichts der Tatsache, dass die Truppenzahl bei lediglich 24.000 hätte liegen müssen (40 % der post-Dayton Truppe in Bosnien-Herzegowina), ist diese Einsicht besonders tragisch.[48]

Die Situation in Libyen heute ist das Ergebnis vielerlei Dynamiken: vier Jahrzehnte unter einem Regime, welches keinerlei politische Kultur kannte, ein blutiger Konflikt, welcher die existierenden (und schwachen) staatlichen Institutionen aushöhlte, sowie ein fehlendes Verständnis und Engagement der internationalen Gemeinschaft in einer heiklen post-Konflikt Situation.

Daraus zu schließen, dass die gesamte Operation ein Fehler war, ist jedoch zu einfach. Ein Szenario wie in Syrien (wo die Regierung die Bevölkerung mit militärischer Gewalt zügellos bekämpft) hätte in Libyen zu massiven Menschenverlusten geführt. Der echte Fehler ist das Wunschdenken, dass internationales Engagement mit dem Ende des Konfliktes endet. Tatsächlich bedarf es eines differenzierten Herangehens an die Problematik, die Chancen und Risiken einer Intervention im Auge behält.[49]

Literatur

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Bertelsmann Stiftung (2009): Bertelsmann Transformation Index 2010, Libya Country Report. Gütersloh.Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2017-9-11

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 19.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2017-0058/html
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