“The food systems we have inherited from the 20th century have failed … a new paradigm, focused on wellbeing, resilience and sustainability must be designed to replace the productivist paradigm”.
(Olivier De Schutter, UN Special Rapporteur on the right to food. Final Report 2014, S. 4, 13)
1 Impressionen
Bio, fair, regional, saisonal, vegetarisch oder sogar vegan, unverpackt, unbehandelt … unübersichtlich? In Zeiten, in denen sich „bio“ von der Ausnahme zur akzeptierten Alternative entwickelt hat und in denen biologisch-organisch produzierte Lebensmittel sowie ‚Fleischersatzprodukte‘ nicht länger nur in Nischenmärkten wie Reformhäusern oder Bioläden zu finden sind, interessieren sich immer mehr Menschen für Produkte, deren Verzehr ein gutes Gewissen mit sich bringt. Dies betrifft insbesondere Produkte, die aus ökologischem Landbau, fairer Produktion und fairem Handel, und/oder aus der Region und aktuellen Saison stammen oder die frei von Tierprodukten und klimafreundlich sind. Diesbezüglich motivierte Konsument*innen finden sich vor allem in den urbanen Regionen des Globalen Nordens. Sie wollen frische und gesunde Produkte genießen, Verpackungsmüll vermeiden, Nahrungsmittelverschwendung eindämmen und zugleich die regionale und nachhaltige (Land-)Wirtschaft unterstützen. Zur Verwirklichung sind sie aktiver Teil von Urban Gardening-, Allmende- oder Foodsharing-Initiativen, kaufen auf Wochenmärkten oder in stadtnahen Hofläden ein, haben eine so genannte Biokiste abonniert oder treten einer Solidarischen Landwirtschaftskooperative bei und teilen dabei die Ernteerträge wie auch das Risiko des Ertragsverlusts. Und vielleicht engagieren sie sich auch im Rahmen der seit 2016 in Deutschland nach britischem und nordamerikanischem Vorbild gegründeten städtischen Ernährungsräte, welche städtisch-regionale Ernährungssysteme nachhaltiger, gesünder und gerechter machen wollen.
Für kleine Erzeugergemeinschaften oder Familienbetriebe wiederum sind genau diese Produktions- und Vermarktungsstrukturen existenzsichernd in der inzwischen global organisierten und von wenigen Konzernen dominierten Lebensmittelindustrie, wie auch im hart umkämpften Markt des ökologischen Landbaus. Diesen Erzeuger*innen und ihren Kund*innen geht es um eine Relokalisierung der Ernährung sowie um ein verändertes Zusammenspiel von Stadt und Land, von Mensch, Tier und Umwelt. Darüber hinaus verweisen ihre Anliegen auf die dringend notwendige Transformation der sozialökologischen und ökonomischen Strukturen des derzeitigen globalen Ernährungssystems. Sie thematisieren bzw. kritisieren, als eine Art Gegenbewegung zur industrialisierten Lebensmittelwirtschaft bzw. dem „corporate food regime“ (Friedmann 1993; McMichael 2009) des späteren 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Entfremdung vom Essen (als Produkt), explizit die räumlichen, sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen und Verantwortungsbeziehungen. Auch im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise lässt sich ein wieder erstarkendes Interesse an alternativen Formen des solidarischen „Land“-Wirtschaftens erkennen. Wesentlich ist, dass sich diese Gegenbewegungen nicht nur über klassische Formen des Protestes manifestieren, sondern v. a. auch über neue eigeninitiierte und weitgehend selbstbestimmte Formen des Wirtschaftens und Konsumierens. Letztere stehen im Zentrum dieses Themenheftes.
2 Dimensionen
Kern dieses Themenheftes sind Alternative Ökonomien und Ernährungspraktiken in urbanen Räumen des Globalen Nordens. Dies schließt sowohl alternative Wirtschaftsformen als auch die Selbstsorgepraktiken des Essens und daran gebundene Nachhaltigkeits- und Verantwortungsdiskurse ein. Nahrungsmittel und Essen – als Rohstoffe und Waren, die produziert und gehandelt werden – sind etablierte wirtschaftsgeographische Forschungsgegenstände, sei es im Rahmen der Agrargeographie oder der geographischen Handelsforschung, der klassischen Standorttheorien oder der neueren Forschungen zu globalen Wertschöpfungsketten (vgl. Rosol 2018). Aspekte wie Verantwortung und Gerechtigkeit im Globalen Norden sowie die Notwendigkeit sozialökologischer Transformationen standen lange Zeit jedoch kaum im Fokus – oder werden als konträr zu wirtschaftlichen Belangen ins Feld geführt. Exemplarisch dafür steht das Themenheft zur Agrargeographie der Geographischen Rundschau, in dem bereits im Einleitungsaufsatz (Klohn/Voth 2017) konventionell arbeitende landwirtschaftliche Betriebe als ‚Opfer‘ einer möglichen sozialökologischen Transformation dargestellt und insgesamt Quantität, d. h. eine auf Produktivitätsmaximierung ausgerichtete Landwirtschaft, gegenüber Qualität favorisiert wird. Eine solche Sichtweise ist unserer Einschätzung nach – im Einklang mit Expert*innen wie dem Special Rapporteur der UN on the Right to Food (vgl. Eingangszitat) – jedoch angesichts der derzeitigen ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen (wie z. B. Klimawandel, Bodendegradation, Wasserverknappung und Land Grabbing, sich verschärfenden sozioökonomischen Ungleichheiten, Strukturwandel im Einzelhandel und im Agrarsektor) wenig zukunftsfähig.
Diese Probleme, wie auch die Potenziale Alternativer Ernährungsinitiativen spannen einen thematischen Rahmen auf, der wissenschaftlich-interdisziplinär im Rahmen der Agro-Food-Studies und disziplinär als Food Geographies erforscht wird (siehe Atkins 1988; Goodman/Watts 1997 für frühere Arbeiten; Ermann et al. 2018; Reiher/Sippel 2015 für aktuelle deutschsprachige Publikationen). In den Agro-Food-Studies wird Ernährung als komplexes System verstanden, das von der Produktion über die Verarbeitung, den Transport, die Distribution, die Zubereitung und den Konsum von Nahrungsmitteln bis zur Entsorgung von Nahrungsresten, eingebunden in komplexe Regulationssysteme reicht – und somit (sub)disziplinäre Grenzen notwendigerweise überschreitet.
Daran anknüpfend widmen sich im vorliegenden Themenheft einzelne Beiträge explizit dem transformativen Wirtschaften und alternativen Ernährungspraktiken sowie den daran gebundenen Gerechtigkeits- und Verantwortungsbeziehungen. Was dies genau bedeutet, wird empirisch recht unterschiedlich definiert (vgl. die einzelnen Beiträge im Heft). Wir verstehen Ungerechtigkeit als Rahmung und im Anschluss an verschiedene feministische Konzeptionen als Verschränkung sozioökonomischer, soziokultureller sowie politischer Differenzachsen und Ungleichheiten (Young 1990; Klinger/Knapp 2008; Fraser 2013), die es offen zu legen und kritisch zu hinterfragen gilt (für eine aktuelle Publikation, die am Beispiel von Alternative Food Systems Fragen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit aus der Perspektive einer wirtschaftsgeographischen Umweltforschung thematisiert vgl. Braun et al. 2018). Zudem führt das Heft in einige der Dimensionen und Theoriebezüge ein, mit denen sich die o. g. aktuell zu beobachtenden Entwicklungen besser in den Blick nehmen und verstehen lassen. Der Fokus auf diese bisher meist vernachlässigten Dimensionen soll darüber hinaus einige der Leerstellen der klassischen auf (konventionelle) Produktion und Handel ausgerichteten Wirtschaftsgeographie verdeutlichen und somit auch die fachwissenschaftliche Debatte voranbringen.
Relevant für die Wirtschaftsgeographie sind die eingangs genannten ernährungsbezogenen Gegenbewegungen, da es sich bei ihren Tätigkeiten auch bzw. vor allem um wirtschaftliche Aktivitäten handelt, auch wenn sie darüber hinaus politische und soziale Ziele verfolgen. Forschungsgegenstand sind jedoch nicht konventionelle Produktion und Distribution, sondern Formen alternativen und transformativen Wirtschaftens im Rahmen von Alternativen Ernährungsnetzwerken (Rosol 2018) und (urbanen) Ernährungsbewegungen, welche nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Räume transformieren (Kropp/Müller 2018; Fladvad 2018). So richten sich Alternative Food Networks (AFN) mit dem Ziel, qualitativ hochwertige, biologisch-organisch und/oder lokal und gerecht produzierte Nahrungsmittel bereitzustellen, gegen die Industrialisierung der Ernährung und die Trennung von Produktion und Konsum. Alternative Food Initiatives (AFI) wie Ernährungsräte, Allmendegärten oder Foodsharing-Initiativen wollen zu sozioökonomischer Gerechtigkeit beitragen, indem sie – z. T. selbst angebaute – Nahrungsmittel verkaufen, zubereiten und verteilen oder aber politische Rahmenbedingungen zu beeinflussen suchen.
In diesem thematischen Kontext wird auch die lange Zeit vorgenommene strikte Trennung zwischen Nahrungsmittel-Produktion (Essen) und Konsum (essen) aufgeweicht. Fokussiert werden u. a. die sozialen, ökologisch-nachhaltigen und moralischen Implikationen des Nahrungsmittelkonsums sowie Raum- und Sozialbezüge des (sich und andere) Versorgens. Entsprechend widmen sich drei Beiträge der Ebene des verkörperten Subjekts im Zusammenhang mit gouvernementaler Selbstführung und Konsumpraktiken (Linnemann 2018; Krüger/Strüver 2018; Idies 2018). Dies beinhaltet eine Reflexion aktueller gesellschaftlicher Verantwortungsdiskurse und Subjektivierungsprozesse sowie eine Kritik an der Vorstellung von ökonomisch rational handelnden Konsument*innen. Denn Essen (das Produkt) wie essen (die Praktik) waren in den Städten des Globalen Nordens seit den Wirtschaftswunderjahren selbstverständlich geworden – aktuell machen sie jedoch eher das Selbst verständlich (Marquardt/Strüver 2018). So verweisen bestimmte Produkte und Praktiken einerseits auch auf politisches Engagement und Aktivismus (z. B. in Form von Guerilla Gardening, Containern bzw. Dumpster Diving) sowie andererseits auf diverse Schönheits- und Gesundheits-„Ideale“, die die Gefahr potenzieller Sucht- und Krankheitsbilder bergen (Ermann et al. 2018, 139 ff.).
Fragen von Ernährungsgerechtigkeit gewinnen v. a. in den städtischen Räumen der postindustriellen Regionen zunehmend an Bedeutung. Anders als die Mehrzahl geographischer Forschungen zu Nahrungsmitteln, die sich oft auf Länder des Globalen Südens konzentrieren, fokussieren die Beiträge deshalb primär den post-industriellen Globalen Norden mit einem Schwerpunkt in der Bundesrepublik Deutschland. Zudem spielt, entgegen des ruralen Fokus der Agrargeographie, die urbane Dimension eine besondere Rolle – sowohl im Zusammenhang mit urbanen Ernährungsbewegungen (Kropp/Müller 2018) als auch bezüglich der hohen Bedeutung der städtischen Nachfrage nach alternativen Produkten (Rosol 2018; Krüger/Strüver 2018; Idies 2018). Mit diesem Schwerpunkt möchten wir zunächst in Erinnerung rufen, dass „Städte zu keiner Zeit passive ‚Lebensmittelabnehmer’ waren, sondern immer schon Orte, an denen kulinarische Bedeutungen erzeugt, verhandelt, verändert und den produzierenden ‚Lieferanten’ zur Vorgabe gemacht wurden“ (Kropp/Müller 2018: in der Vorabversion S. 2). Darüber hinaus stellen wir die Vielfalt und neuen Ansätze der urbanen Ernährungsbewegung vor, welche nicht nur Stadt-Land-Beziehungen verändern, sondern auch wesentlich zu einer Agrar- bzw. Ernährungswende beitragen können.
Als wichtige theoretische Bezugspunkte für alternative Ernährungsansätze werden im vorliegenden Heft Postwachstumskonzepte diskutiert (insbesondere Fladvad 2018; Rosol 2018; Krüger/Strüver 2018). In der Wirtschaftsgeographie werden diese z. T. im Rahmen einer umweltorientierten Wirtschaftsgeographie (Environmental Economic Geography – EEG) aufgegriffen (Schulz 2012). Allerdings sind in der EEG durchaus auch wachstumsbejahende Ansätze, z. B. eines green growth oder grünen Kapitalismus vertreten (vgl. für eine Kritik auch Friedmann 2005). Diese schreiben tendenziell das herkömmliche Anliegen der Produktionsmaximierung als Effizienzsteigerung durch Ressourcenoptimierung fort, wohingegen sich Post- oder De-Growth-Ansätze als dezidierte Wachstums- und Kapitalismuskritik verstehen und sozioökonomische wie ökologische Gerechtigkeit einfordern.
Konzeptionell wird der Bezugsrahmen zudem um politische Theorien von Ernährungssouveränität, Ernährungsgerechtigkeit und Ernährungsdemokratie als normative Grundlagen alternativer Ernährungsbewegungen erweitert. Mit der Idee der Ernährungssouveränität können z. B. die sozial und ökologisch gerechte Ernährungssicherung und das Recht auf selbstbestimmte Nahrungsmittelproduktion wieder ins Zentrum gerückt werden (vgl. insbesondere Fladvad 2018). Fladvad (2018) thematisiert jedoch auch die Widersprüchlichkeit und die Komplexität des Begriffs der Souveränität (der historisch mit staatlich legitimierter Machtausübung verbunden ist). Passend dazu zeigt Idies (2018) in seinem Beitrag, dass das Pendant einer „Konsumentensouveränität“ einer ordoliberalen Logik entspringt. Statt auf Souveränität wird in den urbanen Zentren des Globalen Nordens stärker auf den Begriff der Food Justice bzw. Ernährungsgerechtigkeit oder auch Ernährungsdemokratie rekurriert. Die mit diesen Begriffen verbundenen Bewegungen richten sich gegen Ungerechtigkeiten im Nahrungssystem und setzen sich für eine demokratischere und gerechtere Gesellschaft insgesamt ein. Entscheidend ist, dass die Forderung nach einem gerechten Zugangs zu Lebensmitteln um Forderungen nach demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten und fairen und sicheren Arbeitsbedingungen im gesamten Nahrungsmittelsektor ergänzt wird (Rosol 2015), was auch in den Beiträgen von Fladvad (2018); Kropp/Müller (2018) und Rosol (2018) diskutiert wird. Im globalen Maßstab gehört dazu auch das Aufbrechen des Nord-Süd-Dualismus, ein „Caring at a distance“ (Silk 1998, siehe auch Idies 2018), die elementare Berücksichtigung der Gerechtigkeitsfrage (Fladvad 2018) sowie eine Kritik an der imperialen Lebensweise, die auf dem global ungleichen Zugriff auf Arbeits- und Naturressourcen basiert (Krüger/Strüver 2018; Linnemann 2018).
Schließlich durchzieht alle Beiträge die zentrale Frage nach der Alternativität oder Alterität der neuen (urbanen) Ernährungsbewegungen. Denn der Marktanteil von bspw. Biolebensmitteln in Deutschland wächst zwar stetig, bewegt sich mit ca. 5% jedoch weiterhin auf niedrigem Niveau (Umweltbundesamt 2017, 22f). Dies bedeutet, dass diese Lebensmittel trotz der zunehmenden Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit erstens weiterhin ein Nischenprodukt bleiben. Zweitens werden biologisch-organische Produkte nicht zwangsläufig auch lokal/regional und saisonal sowie unter sozial und ökonomisch fairen Bedingungen hergestellt, sondern teilweise tausende von (Flug-)Kilometern transportiert, klimaschädigend gelagert oder unter Missachtung von Sozial- und Gesundheitsstandards sowie ohne gerechte Entlohnung produziert – die geographische Forschung spricht hier von der „local trap“ (Born/Purcell 2006; vgl. auch Fladvad 2018 und Rosol 2018). Drittens zeichnet sich mittlerweile die Tendenz ab, dass im Rahmen eines entstehenden „corporate-environmental food regimes“ (Friedmann 2005) die stärkere Orientierung an qualitativen Merkmalen, insbesondere an ökologischen und sozialen Gütekriterien, zunehmend durch den global agierenden Einzelhandel vereinnahmt wird. Die Folge sind „class-based diets“ und damit eine sich vergrößernden Kluft zwischen privilegierten und benachteiligten Konsument*innen, wohingegen das industrielle Ernährungssystem selbst nicht in Frage gestellt oder gar verändert wird (Friedmann 2005, 229; siehe auch McMichael 2009, 142). Angesichts dieser Befunde ist es sinnvoll, genauer zu betrachten, ob sich Alternativität auf die Produkte, auf die Produktions-Konsum-Beziehungen oder aber die Formen der Arbeit und Betriebsorganisation bezieht (vgl. auch Rosol 2018). Linnemann (2018) bspw. interpretiert Projekte wie Food-Coops oder Solidarische Landwirtschaft mit Hilfe von Foucault als contre-conduite, welche hegemoniale Produktions- und Konsumpraktiken untergraben wollen, ohne von diesen völlig losgelöst zu sein. Entsprechend stellen Forschungen zu alternativen und diversen Ökonomien (Gibson-Graham 2008; Hillebrand/Zademach 2013) bedeutende Referenzen für die Erforschung von Geographien Alternativer Ernährung und Ernährungsgerechtigkeit dar und werden nicht zufällig in allen Beiträgen des Themenheftes aufgegriffen.
3 Transformationen
Ein Food-Systems-Zugang wird zunehmend auch in den Beiträgen der deutschsprachigen Humangeographie aufgegriffen, die sich mit Essen (als Produkt) und essen (als Praxis) dezidiert auseinandersetzen. Am deutlichsten sichtbar wird dies an den gut besuchten Tagungen 2015 in Bayreuth („Raum is(s)t Nahrung“) und 2017 in Köln („Food Systems“) zu Geographien des Essens, welche keiner konkreten geographischen Teildisziplin zuzuordnen sind, sondern vielmehr gleichzeitig in der Stadt- und Sozialgeographie, der Politischen und der geographischen Entwicklungsforschung wie auch der Wirtschaftsgeographie verortet sind und diese zusammenführen. Ähnliches zu beobachten war auch während der „Foodscapes“-Konferenz 2013 in Graz, des „Geographien der Ernährung“-Symposiums 2014 in Hamburg und spiegelt sich in aktuellen Sammelbänden wider (Ermann et al. 2018; Reiher/Sippel 2015; Strüver 2015).
Daran wollen wir mit diesem Themenheft anschließen – und gleichzeitig die wirtschaftsgeographische Relevanz verdeutlichen, denn (alternatives) Wirtschaften, Handel und Konsum sind Kern vieler dieser Aktivitäten und Debatten. Wir sehen es allerdings als notwendig an, die etablierten wirtschaftsgeographischen Perspektiven um Konsum(-verhältnisse) und das essende Subjekt, um normative, moralische, ethische und Gerechtigkeits-Fragen, um Selbstsorge und Weltsorge, um diverse economies und alternative food networks zu ergänzen.
Ziel einer solchen wissenschaftlich-geographischen Auseinandersetzung mit aktuellen Problemlagen rund um Nahrungsmittel-Produktion und Konsum ist es, komplexe Zusammenhänge zu erforschen und zu erklären sowie die Disziplin theoretisch weiter zu entwickeln. Gleichzeitig ist eine solche Forschung durch ihren Anwendungsbezug gekennzeichnet. Das bessere Verständnis kann Voraussetzungen für notwendige Veränderungen in der Praxis schaffen und somit auch größere gesellschaftliche Transformationsprozesse unterstützen. Basierend auf den Erkenntnissen der verschiedenen Beiträge des Themenheftes sollte es die Politik z. B. für Konsument*innen einfacher machen, nachhaltig und regional einzukaufen, anstatt lediglich moralisch und über Aufklärung an die Verantwortung als Konsument*innen zu appellieren (vgl. Idies 2018). Zu den diesbezüglich zielführenden Maßnahmen gehört es beispielsweise, regionale Kleinerzeuger*innen stärker zu fördern, Boden- und Wasserqualität, Artenvielfalt und Naturschutz in die Landwirtschaftspolitik zu integrieren, Unternehmen auf strengere Standards zu verpflichten und letztlich Lebensmittel wieder als das zu verstehen, was sie sind: Mittel zum Leben bzw. „Lebenserhaltungssysteme“ (siehe auch Kropp/Müller 2018: in der Vorabversion S. 12). Eine solche Rahmung unterscheidet sich von der Reduktion von Lebensmitteln auf handelbare Waren, deren Produktion auf Profitmaximierung ausgerichtet ist und deren Erwerb von der Kaufkraft der Einzelnen abhängig bleibt. Zu einer solchen Wieder-Einbettung in soziale Strukturen im Sinne Polanyis (Polanyi 1944; vgl. auch Kropp/Müller, in der Vorabveröffentlichung S. 3) wäre allerdings eine weitgehende Ent-Kommerzialisierung nicht nur der Produkte, sondern auch der Produktionsfaktoren notwendig, insbesondere von Boden. Letztlich erfordert dies eine bewusst gesellschaftspolitische anstelle einer marktgetriebenen Steuerung der Ernährungssysteme (vgl. auch Kropp/Müller 2018). Die momentan im Alltag nicht immer ganz einfache individualisierte Entscheidung für oder gegen „bio“, für oder gegen „regional“, für oder gegen „veggie“ wäre dann nicht nur leichter zu treffen, sondern v. a. nur ein Baustein bzw. Puzzleteil im Rahmen einer notwendigen weitaus größeren gesellschaftlichen Transformation unseres Ernährungssystems.
Danksagung
Wir danken allen Autor*innen des Themenhefts, den anonymen Reviewer*innen sowie Sebastian Henn und Susan Schäfer für die organisatorische Unterstützung. Das Themenheft geht auf eine von Marit Rosol und Anke Strüver geleitete Fachsitzung im Rahmen des Deutschen Kongress für Geographie im Oktober 2015 in Berlin sowie z. T. auf die Fachtagung „Raum is(s)t Nahrung“ am Geographischen Institut der Universität Bayreuth im Juni 2015 zurück.
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